Durchführungsanspruch - Sozialplan
Gesetze: § 77 Abs 1 S 1 BetrVG, § 112 Abs 1 S 3 BetrVG, § 256 Abs 1 ZPO, § 65 ArbGG, § 93 Abs 2 ArbGG
Instanzenzug: ArbG Wiesbaden Az: 14 BV 1/17 Beschlussvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 18 TaBV 106/18 Beschluss
Gründe
1A. Die Beteiligten streiten über die Auslegung eines Sozialplans.
2Anlässlich einer unternehmensweiten Umstrukturierung und der Schließung mehrerer Standorte schloss die Arbeitgeberin mit dem bei ihr gebildeten Gesamtbetriebsrat am eine „Gesamtbetriebsvereinbarung zum Sozialplan“ (GBV SP). Diese lautet auszugsweise:
3Die Arbeitgeberin hat in den Höchstbetrag nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 6 GBV SP auch den Kinder- oder Behindertenzuschlag nach Abs. 7 und Abs. 8 der Norm einbezogen und die Abfindungen entsprechend berechnet. Dagegen erhoben mehrere Arbeitnehmer Klage, mit der sie die Zahlung einer den Betrag von 300.000,00 Euro brutto übersteigenden Abfindung verlangen. Die Klageverfahren sind bei den Gerichten für Arbeitssachen anhängig und - im Hinblick auf das vorliegende Verfahren - überwiegend ausgesetzt.
4Der Gesamtbetriebsrat hat geltend gemacht, die Arbeitgeberin habe die GBV SP so durchzuführen, dass bei der Berechnung der Abfindungen der Kinder- und der Behindertenzuschlag im Rahmen der in Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 6 GBV SP festgelegten Höchstgrenze unberücksichtigt bleibe. Die Begrenzung auf 300.000,00 Euro brutto gelte nur für den sich nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 2 bis Abs. 5 GBV SP ergebenden Betrag.
5Der Gesamtbetriebsrat hat zuletzt sinngemäß beantragt
6Die Arbeitgeberin hat Antragsabweisung begehrt und geltend gemacht, die Abfindung nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 GBV SP werde durch dessen Abs. 6 für jeden Arbeitnehmer auf maximal 300.000,00 Euro brutto begrenzt. Dies sei Grundlage der Verhandlungen mit dem Gesamtbetriebsrat gewesen. Ein höheres Budget habe nicht zur Verfügung gestanden.
7Das Arbeitsgericht hat dem Antrag des Gesamtbetriebsrats stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde der Arbeitgeberin zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt die Arbeitgeberin ihren Abweisungsantrag weiter.
8B. Die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat ihre Beschwerde gegen den antragstattgebenden Beschluss des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen.
9I. Die von der Arbeitgeberin erstmals in der Rechtsbeschwerde erhobene Rüge, es handele sich nicht um eine „Streitigkeit im Beschlussverfahren“ greift schon deshalb nicht durch, weil der Senat nach § 93 Abs. 2 iVm. § 65 ArbGG die Verfahrensart nicht zu überprüfen hat. Ungeachtet dessen übersieht die Arbeitgeberin, dass der Gesamtbetriebsrat ein Urteilsverfahren mangels Parteifähigkeit gar nicht betreiben könnte. Nur im Beschlussverfahren ist er nach § 10 Satz 1 Halbs. 2 ArbGG beteiligtenfähig.
10II. Der zulässige Antrag des Gesamtbetriebsrats ist begründet. Ihm steht gegen die Arbeitgeberin ein Anspruch auf Durchführung der GBV SP und damit auf Berechnung der Abfindung nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 GBV SP in der von ihm begehrten Art und Weise zu.
111. Der Antrag ist zulässig.
12a) Die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO liegen vor.
13aa) Gegenstand des Antrags ist die Feststellung eines Rechtsverhältnisses iSd. § 256 Abs. 1 ZPO. Der Gesamtbetriebsrat möchte klären lassen, wie die Arbeitgeberin die den anspruchsberechtigten Arbeitnehmern nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 GBV SP zu zahlenden Abfindungen zu berechnen und damit die zwischen den Beteiligten geschlossene GBV SP durchzuführen hat. Diese Frage betrifft den Inhalt einer Verpflichtung der Arbeitgeberin aus einem zwischen den Beteiligten bestehenden Rechtsverhältnis.
14bb) Der Gesamtbetriebsrat verfügt über das nach § 256 Abs. 1 ZPO notwendige Interesse an der begehrten Feststellung.
15(1) Die Arbeitgeberin bestreitet die vom Gesamtbetriebsrat für richtig gehaltene Berechnungsweise der den Arbeitnehmern nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 GBV SP zu gewährenden Abfindung. Ein Streit der Betriebsparteien über die Frage, mit welchem Inhalt eine Betriebsvereinbarung durchzuführen ist, kann im Rahmen eines Feststellungsantrags geklärt werden (vgl. - Rn. 18 mwN).
16(2) Das Begehren des Gesamtbetriebsrats ist nicht auf die Feststellung eines ausschließlich vergangenheitsbezogenen Rechtsverhältnisses gerichtet. Sollte die Arbeitgeberin bereits allen betroffenen Arbeitnehmern Abfindungen gezahlt haben, ist damit die Durchführung der GBV SP nicht insgesamt abgeschlossen. Bei Erfolg des Antrags wäre sie gehalten, ihre bisherigen Abrechnungen zu überprüfen und etwaige Nachzahlungen zu erbringen. Darüber hinaus sind derzeit mehrere Klagen abfindungsberechtigter Arbeitnehmer auf Zahlung eines Kinder- oder Behindertenzuschlags neben der Höchstabfindung vor den Gerichten für Arbeitssachen anhängig.
17b) Der Gesamtbetriebsrat ist antragsbefugt. Entgegen der Annahme der Rechtsbeschwerde liegt keine „unzulässige Prozessstandschaft“ vor. Der Gesamtbetriebsrat verfolgt offenkundig nicht Individualansprüche einzelner Arbeitnehmer, sondern begehrt die Feststellung, um einen eigenen betriebsverfassungsrechtlichen Durchführungsanspruch nach § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG geltend zu machen (vgl. auch - Rn. 14, BAGE 134, 249). Unerheblich ist, dass sich der Ausgang des Verfahrens nur zugunsten einer begrenzten Anzahl von Arbeitnehmern auswirkt. Auch kommt es nicht darauf an, dass sich die vom Gesamtbetriebsrat begehrte Art und Weise der Durchführung der GBV SP auf den Inhalt normativ begründeter Ansprüche von Arbeitnehmern bezieht. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass Betriebsvereinbarungen und Sozialpläne (vgl. § 112 Abs. 1 Satz 3 BetrVG) unmittelbare und zwingende Wirkung haben und damit typischerweise Ansprüche von Arbeitnehmern gegen ihren Arbeitgeber begründen.
182. Der Antrag ist begründet. Die Arbeitgeberin ist verpflichtet, die GBV SP in der vom Gesamtbetriebsrat geltend gemachten Art und Weise durchzuführen.
19a) Der Gesamtbetriebsrat ist als Partei der GBV SP zur Durchsetzung des auf diese bezogenen Durchführungsanspruchs aktivlegitimiert (vgl. zur Aktivlegitimation der die Betriebsvereinbarung schließenden Arbeitnehmervertretung - Rn. 17, BAGE 134, 249). Das Landesarbeitsgericht hat nicht festgestellt, dass er die GBV SP aufgrund einer Beauftragung durch die örtlichen Betriebsräte nach § 50 Abs. 2 BetrVG geschlossen hat. Den Vortrag des Gesamtbetriebsrats, er sei selbst Partei der GBV SP, hat die Arbeitgeberin nicht in Abrede gestellt. Ob die Annahme des Landesarbeitsgerichts, der Gesamtbetriebsrat sei für den Abschluss der GBV SP nach § 50 Abs. 1 BetrVG originär zuständig gewesen, zutreffend ist, kann dahinstehen. Selbst wenn dies nicht der Fall wäre, handelte es sich bei der GBV SP um einen freiwillig zwischen der Arbeitgeberin und dem Gesamtbetriebsrat vereinbarten Sozialplan (§ 88 BetrVG), dessen Durchführung der Gesamtbetriebsrat - als Partei desselben - verlangen kann.
20b) Die Arbeitgeberin muss die den anspruchsberechtigten Arbeitnehmern nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 1 GBV SP zu zahlende Abfindung so berechnen, dass sich die Höchstgrenze nach Abs. 6 der Norm ausschließlich auf den nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 2 bis Abs. 5 GBV SP zu ermittelnden Betrag der Abfindung - ohne Berücksichtigung eines etwaigen Kinder- oder Behindertenzuschlags (Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 7 und Abs. 8 GBV SP) - bezieht. Wie die Auslegung der GBV SP zeigt (vgl. zu den Auslegungsgrundsätzen - Rn. 15 mwN), hat die von der Arbeitgeberin angenommene Begrenzung der Abfindung für alle Arbeitnehmer auf maximal 300.000,00 Euro brutto in der GBV SP keinen hinreichenden Niederschlag gefunden. Ob sich durch dieses Verhandlungsergebnis das von der Arbeitgeberin ursprünglich zur Verfügung gestellte Sozialplanvolumen erhöht, ist unerheblich.
21aa) Bereits der Wortlaut von Abschn. B Ziff. III Nr. 1 GBV SP liefert einen Anhaltspunkt dafür, dass die Begrenzung auf 300.000,00 Euro brutto in Abs. 6 der Bestimmung lediglich auf den nach den Absätzen 2 bis 5 GBV SP zu berechnenden Betrag anzuwenden ist. Zwar lässt die Verwendung der beiden Begriffe „Abfindungszahlung“ in Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 1 und Abs. 2 GBV SP einerseits und „Abfindung“ in den Absätzen 6 bis 9 der Norm andererseits noch keinen Schluss darauf zu, worauf sich die Höchstgrenze in Abs. 6 bezieht. Jedoch spricht die Mindest- und Höchstbetragsregelung in Abs. 6 von der „Abfindung“, die sich nach den ausdrücklichen Formulierungen in Abs. 7 Satz 1 und Abs. 8 der Norm durch die dort geregelten Zuschläge „erhöht“. Auch in Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 7 Satz 2 GBV SP wird die Gewährung eines - ggf. anteiligen - Kinderzuschlags als „Abfindungserhöhung“ bezeichnet. Damit unterscheiden die Regelungen schon sprachlich zwischen einer „Abfindung“ - für die die Mindest- und Höchstvorgaben in Abs. 6 der Norm gelten sollen - und deren Erhöhung durch Zuschläge.
22bb) Der Regelungszusammenhang spricht ebenfalls für ein solches Verständnis. Nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 9 Satz 1 und Satz 3 GBV SP unterliegt die „insgesamt nach den vorstehenden Absätzen zu zahlende Abfindung“ einer sich nach individuellen Kriterien bemessenden - relativen - Höchstgrenze. Die Verwendung des Begriffs „insgesamt“ verdeutlicht, dass sich die letztlich an die Arbeitnehmer zu zahlende Abfindung aus mehreren, gesondert zu berechnenden Bestandteilen zusammensetzen kann und dass erst auf den derart ermittelten Gesamtbetrag die individuelle (relative) Höchstgrenze nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 9 GBV SP anzuwenden ist. Eine vergleichbare Formulierung enthält die Regelung über die absolute Höchstgrenze in Abs. 6 der Norm nicht.
23cc) Auch der systematische Aufbau der einzelnen Absätze in Abschn. B Ziff. III Nr. 1 GBV SP bestätigt diese Auslegung. Abs. 1 der Norm legt die Pflicht der Arbeitgeberin zur Zahlung einer Abfindung an abfindungsberechtigte Arbeitnehmer dem Grunde nach fest. Die Absätze 2 bis 9 geben deren Höhe und den hierfür maßgebenden Berechnungsweg vor. Dabei bestimmen die Absätze 2 bis 5 zunächst die Höhe des gleichermaßen für alle Arbeitnehmer nach einer bestimmten Formel zu berechnenden Abfindungsbetrags. Dieser Betrag muss - so der nachfolgende Abs. 6 - eine bestimmte Mindesthöhe erreichen und darf eine Maximalhöhe nicht überschreiten. Die sich hieraus ergebende Summe ist in einem nächsten Schritt ggf. noch um die in den folgenden Absätzen 7 und 8 festgelegten Zuschläge zu erhöhen. Der sich danach ergebende Betrag ist in Abs. 9 abschließend gedeckelt auf die tatsächlichen wirtschaftlichen Nachteile, die den Arbeitnehmern bis zum frühestmöglichen Bezug einer ungeminderten gesetzlichen Altersrente entstehen können. Die Absätze 10 und 11 enthalten im Anschluss daran nur noch allgemeine Vorgaben zum Entstehen, zur Fälligkeit und Vererblichkeit des ermittelten Anspruchs sowie zur Zulässigkeit einer Aufrechnung und der Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts. Hätten die Betriebsparteien auch die absolute Höchstgrenze in Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 6 GBV SP auf den „insgesamt zu zahlenden“ Abfindungsbetrag beziehen wollen, hätte es nahegelegen, diese Regelung zusammen mit der flexiblen Höchstgrenze in Abs. 9 der Norm aufzunehmen.
24dd) Die Regelung in Abschn. B Ziff. III Nr. 7 Abs. 2 GBV SP steht diesem Verständnis nicht entgegen. Danach ist den Arbeitnehmern bei vorzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine „zusätzliche Abfindung“ zu gewähren. Die Bestimmung ordnet ausdrücklich an, dass für „diese Abfindungserhöhung“ die „Begrenzungen nach Ziff. 2 Abs. 6 und Abs. 10“ nicht gelten. Damit nimmt die Norm inhaltlich auf die lediglich fehlerhaft - entsprechend einem früheren Entwurf des Sozialplans - bezeichneten Begrenzungen in Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 6 und Abs. 9 GBV SP Bezug. Der Umstand, dass Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 7 und Abs. 8 GBV SP für den Kinder- und den Behindertenzuschlag eine solche Vorgabe nicht enthalten, lässt nicht den (Umkehr-)Schluss darauf zu, für die durch diese Zuschläge bewirkte Abfindungserhöhung gelte die in Abs. 6 der Norm vorgesehene absolute Deckelung. Bei der zusätzlichen Abfindung iSv. Abschn. B Ziff. III Nr. 7 Abs. 2 GBV SP handelt es sich um einen Betrag, der außerhalb des in Abschn. B Ziff. III Nr. 1 GBV SP geregelten Systems zur Berechnung der allen abfindungsberechtigten Arbeitnehmern zu gewährenden Entlassungsentschädigung steht. Die dort normierte Erhöhung hängt ausschließlich vom Willen des Arbeitnehmers ab, von seinem Recht auf vorzeitige Beendigung des erst später endenden Arbeitsverhältnisses nach Abschn. B Ziff. III Nr. 7 Abs. 1 GBV SP Gebrauch zu machen. Aus diesem Grund bedurfte es dort - anders als bei den Zuschlägen nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 7 und Abs. 8 GBV SP - einer ausdrücklichen Klarstellung, dass auf diesen Betrag die in der GBV SP enthaltenen Obergrenzen keine Anwendung finden.
25ee) Sinn und Zweck der in Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 7 und Abs. 8 GBV SP vorgesehenen Zuschläge sprechen ebenfalls gegen die Annahme, diese seien bei der für alle Arbeitnehmer gleichermaßen geltenden absoluten Höchstgrenze zu berücksichtigen. Die Zuschläge sollen erkennbar die besonderen Nachteile ausgleichen, die zum Unterhalt von Kindern verpflichtete oder schwerbehinderte Arbeitnehmer durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes erleiden. Dieses Ziel würde nur unvollständig oder überhaupt nicht erreicht, wenn die Zuschläge bei der absoluten Höchstgrenze in Ansatz zu bringen wären und damit ggf. infolge der Deckelung nicht zur Auszahlung gelangen könnten. Die den Zuschlägen zugrunde liegende Absicht, insoweit die individuelle Situation der Arbeitnehmer bei der Gewährung eines Nachteilsausgleichs noch einmal zusätzlich in den Blick zu nehmen, wäre bei höheren Abfindungsbeträgen nicht realisierbar. Soweit mit der in Abs. 6 der Norm vorgesehenen Deckelung eine Kostenbegrenzung beabsichtigt ist, läuft deren Zweck auch bei dem vorliegenden Verständnis nicht leer. Denn die absolute Höchstgrenze erfasst zumindest die nach Abschn. B Ziff. III Nr. 1 Abs. 2 bis Abs. 5 GBV SP für alle Arbeitnehmer gleichermaßen zu berechnenden Abfindungsbeträge.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2020:250220.B.1ABR38.18.0
Fundstelle(n):
BB 2020 S. 1203 Nr. 21
NJW 2020 S. 10 Nr. 32
RAAAH-48185