BVerwG Beschluss v. - 2 WDB 6/19

Aufhebung einer unverhältnismäßig langen Einbehaltung von Ruhegehalt

Leitsatz

1. Eine ungewöhnlich lange Dauer eines Disziplinarverfahrens kann dazu führen, dass eine Einbehaltungsanordnung nach § 126 Abs. 3 WDO unverhältnismäßig wird und von der Einleitungsbehörde aufzuheben ist.

2. Im summarischen Antragsverfahren nach § 126 Abs. 5 Satz 3 WDO löst eine formell rechtskräftige Gerichtsentscheidung eine eingeschränkte Bindungswirkung mit der Folge aus, dass dieselbe Sache nur dann einer erneuten gerichtlichen Überprüfung und Entscheidung unterliegt, wenn neue Tatsachen geltend gemacht oder neue Beweismittel beigebracht werden.

Gesetze: § 114 WDO 2002, § 117 WDO 2002, § 126 Abs 3 WDO 2002, § 126 Abs 5 S 1 WDO 2002, § 126 Abs 5 S 3 WDO 2002

Instanzenzug: Truppendienstgericht Nord Az: N 2 GL 1/19 Beschluss

Tatbestand

1Das Beschwerdeverfahren betrifft die vorläufige Einbehaltung von Ruhegehalt.

2Der ...chef des ...amts leitete am gegen den früheren Soldaten ein gerichtliches Disziplinarverfahren ein und ordnete mit Bescheid vom die Einbehaltung von 30 Prozent seines Ruhegehalts ab an. Mit Bescheid vom lehnte er dessen Antrag auf Aufhebung der Einbehaltungsanordnung ab. Der frühere Soldat nahm einen hiergegen beim Truppendienstgericht gestellten Antrag am zurück.

3Nachdem im sachgleichen Strafverfahren mit rechtskräftigem Strafbefehl vom gegen den früheren Soldaten wegen Betrugs und Untreue in acht Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung verhängt worden war, schuldigte die Wehrdisziplinaranwaltschaft ihn am beim Truppendienstgericht an. Er habe als Redakteur und Dezernatsleiter der ... der Bundeswehr im ...amt im Jahr 2010 ohne entsprechende Gegenleistungen Zahlungen der Bundeskasse an Dritte bzw. über Dritte an sich veranlasst und dadurch den Bund in fünfstelliger Höhe geschädigt.

4Mit Beschluss vom wies das Truppendienstgericht einen Abänderungsantrag des früheren Soldaten gegen die mit Bescheid des ...chefs des ...amts vom aufrechterhaltene Einbehaltungsanordnung zurück. Der frühere Soldat habe das ihm vorgeworfene Dienstvergehen mit einem hinreichenden Grad an Wahrscheinlichkeit begangen. Bei vollem Tatnachweis sei die Aberkennung seines Ruhegehalts hinreichend wahrscheinlich. Die Einbehaltungsanordnung belaste ihn nicht unverhältnismäßig. Seine "Netto-Einbuße" liege deutlich unter 30 %, weil sich die Steuerlast reduziere. Auch trage er für seine Versorgungsansprüche keine Werbungskosten. Eine Existenzgefährdung sei weder substanziiert vorgetragen noch ersichtlich. Verfahrensverzögerungen seien ohne Belang, weil er im Fall der Höchstmaßnahme von jedem Monat, den das Verfahren dauere, profitiere. Werde ihm sein Ruhegehalt nicht aberkannt, sei das einbehaltene Ruhegehalt zu erstatten. Der Beschluss ist mangels Einlegung von Rechtsmitteln rechtskräftig geworden.

5Einen dritten Antrag des früheren Soldaten vom , die Einbehaltungsanordnung zum aufzuheben, lehnte der ...chef des ...amts mit Bescheid vom ab. Mit Beschluss vom wies das Truppendienstgericht den hiergegen gerichteten Antrag des früheren Soldaten zurück. Die Begründung entspricht im Wesentlichen derjenigen im Beschluss vom .

6Mit seiner gegen diesen Beschluss erhobenen Beschwerde macht der frühere Soldat geltend, er habe kein Dienstvergehen begangen. Den von ihm veranlassten Zahlungen an Dritte lägen gleichwertige Gegenleistungen zugrunde. Jedenfalls habe er keine Kernbereichspflichten verletzt, so dass nicht mit der Verhängung der Höchstmaßnahme zu rechnen sei. Die Einbehaltungsanordnung sei zudem aufgrund ihrer Dauer unverhältnismäßig geworden. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt ist dem entgegengetreten.

7Das Truppendienstgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom nicht abgeholfen und hat sie dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

Gründe

8Die nach § 114 WDO zulässige Beschwerde des früheren Soldaten ist teilweise begründet. Das Truppendienstgericht hat seinen Antrag gegen den eine rückwirkende Aufhebung der Einbehaltungsanordnung vom ablehnenden Bescheid des ...chefs des ...amts vom zu Unrecht in vollem Umfang zurückgewiesen. Die Einbehaltungsanordnung vom ist mit Wirkung zum aufzuheben.

9Nach § 126 Abs. 3 WDO kann die Einleitungsbehörde bei einem früheren Soldaten gleichzeitig mit der Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens oder - wie hier - später anordnen, dass ein Teil, höchstens 30 vom Hundert des Ruhegehalts einbehalten wird. Gemäß § 126 Abs. 5 Satz 1 WDO kann sie eine Einbehaltungsanordnung jederzeit von Amts wegen oder auf Antrag wieder aufheben.

10Die Einbehaltungsanordnung nach § 126 Abs. 3 WDO setzt eine rechtswirksame Einleitungsverfügung und die Prognose voraus, dass dem früheren Soldaten im gerichtlichen Disziplinarverfahren voraussichtlich das Ruhegehalt aberkannt werden wird (vgl. 2 WDB 1.02 - Buchholz 235.01 § 126 WDO 2002 Nr. 1). Bei der Ausübung ihres Ermessens hinsichtlich des Erlasses und der Aufhebung einer Einbehaltungsanordnung hat die Einleitungsbehörde den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Dieser sich als übergreifende Leitregel allen staatlichen Handelns aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende Grundsatz besagt, dass das gewählte Mittel und der gewollte Zweck in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen müssen (vgl. 2 WDB 3.91 - BVerwGE 93, 69 <77>). Daraus folgt, dass ein solcher Eingriff in die Rechtsposition des Betroffenen nicht länger dauern darf, als er sachlich geboten erscheint.

11Die gesetzlich vorgesehene Einbehaltung eines Teils des Ruhegehalts ist nur in Ansehung eines ordnungsgemäß durchzuführenden Disziplinarverfahrens unter Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes eine im Allgemeinen verfassungsrechtlich unbedenkliche Maßnahme. Mit zunehmender Verzögerung des Abschlusses des Disziplinarverfahrens gerät die Aufrechterhaltung der Einbehaltung von Ruhegehalt notwendigerweise immer stärker in einen Widerstreit mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Da innerhalb einer stetig verlaufenden zeitlichen Entwicklung der präzise Zeitpunkt, zu dem eine noch verhältnismäßige, durch die Einbehaltung eines Teils des Ruhegehalts verursachte Belastung in eine unverhältnismäßige Belastung umschlägt, nicht feststellbar ist, bedarf es zur hinreichenden Begründung der Unverhältnismäßigkeit ihrer sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalls ergebenden Evidenz, d.h. dass die mögliche Begründung der Unverhältnismäßigkeit nicht generalisierend festgestellt werden kann, sondern sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalles ergeben muss (vgl. - NVwZ 1994, 574; 2 WDB 6.94 - BVerwGE 103, 222 <224 f.>).

12Eine solche das Entscheidungsermessen der Einleitungsbehörde begrenzende Unverhältnismäßigkeit ist hier jedenfalls seit dem gegeben. Zu diesem Zeitpunkt dauerte die seit dem wirkende Einbehaltungsanordnung bereits mehr als vier Jahre an. Dabei wurde der frühere Soldat durchweg mit der gesetzlich höchstens zulässigen Einbehaltung von 30 Prozent seines Ruhegehalts belastet. Das gegen ihn geführte Disziplinarverfahren ist nicht mit der möglichen und gebotenen Beschleunigung betrieben worden. So gibt es keinen rechtfertigenden Grund dafür, dass zwischen dem im sachgleichen Strafverfahren am rechtskräftig gewordenen Strafbefehl und dem Eingang der Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht am fast 14 Monate vergangen sind. Ebenso wenig ist es sachlich gerechtfertigt, dass seit dem Eingang der Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht am noch keine Hauptverhandlung stattgefunden hat. Ein zeitnaher Abschluss des Disziplinarverfahrens ist nicht absehbar. Vielmehr hat der Vorsitzende der ... Kammer des Truppendienstgerichts mit Verfügung vom darauf hingewiesen, dass Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit der Anschuldigungen bestünden, und hat der Wehrdisziplinaranwaltschaft anheim gestellt, eine Nachtragsanschuldigungsschrift in Betracht zu ziehen. Ferner hat er sie zur Vorlage weiterer Unterlagen zwecks Klärung, ob eine Verletzung von Kernbereichspflichten vorliegt, sowie zur Bestimmung von Art und Umfang eines gegebenenfalls einzuholenden Sachverständigengutachtens aufgefordert. In seinem Beschluss vom hat das Truppendienstgericht erneut auf die Befugnis der Wehrdisziplinaranwaltschaft verwiesen, die Anschuldigungen, an deren Bestimmtheit es weiterhin Zweifel geäußert hat, durch eine Nachtragsanschuldigungsschrift zu verändern oder zu ergänzen. Der frühere Soldat selbst hat die Verzögerungen nicht zu verantworten. Auch hat er während des gerichtlichen Disziplinarverfahrens mehrfach von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Berechtigung der Einbehaltung eines Teils seines Ruhegehalts überprüfen zu lassen.

13Demgegenüber ist die Einbehaltungsanordnung nicht auch für den Zeitraum vom bis zum aufzuheben. Denn das Truppendienstgericht hat mit Beschluss vom bereits entschieden, dass sie nicht aufzuheben ist. Dieser Beschluss ist mangels Einlegung von Rechtsmitteln nach § 125 Abs. 1 Satz 1 WDO formell rechtskräftig geworden. Zwar entfaltet er mit Rücksicht auf den vorläufigen Charakter von Anordnungen nach § 126 Abs. 3 WDO und des summarischen Antragsverfahrens nach § 126 Abs. 5 Satz 3 keine materielle Rechtskraft (vgl. 2 WDB 4.09 - Buchholz 450.2 § 126 WDO 2002 Nr. 6). Er löst aber eine eingeschränkte Bindungswirkung mit der Folge aus, dass dieselbe Sache nur dann einer erneuten gerichtlichen Überprüfung und Entscheidung unterliegt, wenn neue Tatsachen geltend gemacht oder neue Beweismittel beigebracht werden (vgl. 1 DB 14.91 - ZBR 1992, 86 m.w.N.).

14Der frühere Soldat hat indes keine neuen Tatsachen vorgetragen oder neue Beweismittel beigebracht, die das Truppendienstgericht bei seiner Beschlussfassung am nicht zur Kenntnis genommen und erwogen hat. Der Aufhebungsantrag vom entspricht - abgesehen von seinen Ausführungen zu der auch nach dem nicht erkennbaren zeitnahen Beendigung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens - wörtlich demjenigen vom . Auch die Anträge auf gerichtliche Entscheidung vom und vom sind nahezu wortgleich. Das im Antrag vom zusätzlich in Bezug genommene Schreiben des Verteidigers des früheren Soldaten an die Einleitungsbehörde vom enthält ebenso wie dessen Schriftsätze vom und vom keine entscheidungserheblichen neuen Tatsachen oder Beweismittel. Vielmehr wird darin an sämtlichen Beweisanträgen festgehalten, die schon im Schriftsatz vom gestellt wurden, der dem Truppendienstgericht bei seiner Beschlussfassung am vorlag. Vor diesem Hintergrund einer im Wesentlichen unveränderten Sachlage war es seitens des Streitkräfteamtes nicht ermessensfehlerhaft, auf den Antrag vom die Einbehaltungsanordnung nicht rückwirkend aufzuheben. Hingegen überschritt die Aufrechterhaltung der Einbehaltungsanordnung für die Zukunft - wie ausgeführt - die durch das Übermaßverbot gezogenen Grenzen des Ermessens.

15Einer Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bedurfte es nicht. Diese werden von der zur Hauptsache ergehenden Kostenentscheidung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens mit erfasst (vgl. 2 WDB 3.19 - juris Rn. 29).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2020:170220B2WDB6.19.0

Fundstelle(n):
DAAAH-44283