BVerfG Urteil v. - 1 BvR 2884/18

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) durch zivilgerichtliche Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 495a ZPO) ohne vorherigen Hinweis

Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 93a Abs 2 Buchst b BVerfGG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 495a S 1 ZPO, § 495a S 2 ZPO

Instanzenzug: AG Erlangen Az: 5 C 570/18 Urteilnachgehend Az: 1 BvR 2884/18 Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren

Gründe

1Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine unterlassene Durchführung der mündlichen Verhandlung im vereinfachten Verfahren nach § 495a ZPO.

I.

21. Der Beschwerdeführer kaufte am über eine Verkaufsplattform im Internet von der Beklagten des Ausgangsverfahrens einen Drucker. Der Artikelzustand war mit "neu" angegeben. Nach der Auslieferung zeigte der Drucker Mängel. Nachdem der Beschwerdeführer das Gerät zur Reparatur eingereicht hatte, erfuhr er, dass der Drucker bereits im Jahr 2013 hergestellt worden war. Daraufhin erklärte er die Anfechtung des Kaufvertrages wegen arglistiger Täuschung hinsichtlich des Merkmals "neu". Mit seiner nachfolgenden Klage beantragte er, die Beklagte zu verurteilen, ihm den Kaufpreis nebst Zinsen Zug um Zug gegen die Rückgabe des Druckers zurückzuzahlen sowie seine eigenen Anwaltskosten zu erstatten. Die Beklagte trat der Klage entgegen.

32. Mit wurde die Klage abgewiesen. Das Urteil erging dabei gemäß § 495a ZPO ohne mündliche Verhandlung. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, es fehle an der substantiierten Behauptung einer Täuschungshandlung. Der Kläger habe sich darauf beschränkt vorzutragen, dass allein das Baujahr 2013 das im Jahr 2018 als neu gekauften Druckers die Anfechtung rechtfertige. Mit der vorgelegten Artikelbeschreibung ließe sich eine Täuschung durch den Verkäufer nicht begründen.

43. Mit Schriftsatz vom legte der Beschwerdeführer Gehörsrüge gegen diese Entscheidung ein. Er rügte, dass er durch die Entscheidung des Amtsgerichts in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden sei. Das Gericht habe durch Gerichtsbeschluss das schriftliche Verfahren gemäß § 495a Satz 1, § 128 Abs. 2 ZPO anordnen müssen. Es habe die Parteien darauf hinweisen müssen, dass das Verfahren nach § 495a ZPO beabsichtigt sei. Rechtliches Gehör hierzu sei aber nicht gegeben worden. Wäre dem Beschwerdeführer diesbezüglich rechtliches Gehör erteilt worden, dann hätte er einen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt.

54. Das Amtsgericht wies die Gehörsrüge des Beschwerdeführers mit Beschluss vom als unbegründet zurück. Zur Begründung führte das Gericht aus, die Rüge müsse darlegen, dass durch die angegriffene Entscheidung der Anspruch auf rechtliches Gehör entscheidungserheblich verletzt worden sei. Der Rügeführer müsse daher nicht nur den Gehörsverstoß substantiiert darlegen, sondern auch dessen Entscheidungserheblichkeit, wozu auch gehöre, dass er darstelle, warum die Entscheidung ohne die Gehörsverletzung möglicherweise anders ausgefallen wäre.

65. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde unter anderem die Verletzung seiner grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG.

76. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens und das Bayerische Staatsministerium der Justiz hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akte des Ausgangsverfahrens lag der Kammer vor.

II.

8Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

91. Zwar folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht unmittelbar ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>; 21, 73 <77>; 36, 85 <87>; 60, 175 <210>; 89, 381 <391>; 112, 185 <206>). Es ist vielmehr Sache des Gesetzgebers, zu entscheiden, in welcher Weise das rechtliche Gehör gewährt werden soll (vgl. BVerfGE 9, 89 <95 f.>; 60, 175 <210 f.>; 67, 208 <211>; 74, 1 <5>; 89, 381 <391>). Hat eine mündliche Verhandlung aber von Gesetzes wegen stattzufinden, wie dies in den Fällen des § 495a Satz 2 ZPO auf Antrag einer Partei vorgeschrieben ist, begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG ein Recht auf Äußerung in der mündlichen Verhandlung und zugleich auf deren Durchführung durch das Gericht (vgl. BVerfGK 19, 377 <382>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 367/15 -, Rn. 7). Da die nach § 495a Satz 2 ZPO beantragte Verhandlung zwingend durchzuführen ist, muss mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung dann nicht gerechnet werden (vgl. BVerfGK 19, 377 <381 ff.> m.w.N.).

10Ferner folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG die Pflicht des Gerichts, die Parteien darauf hinzuweisen, wenn im schriftlichen Verfahren entschieden werden soll, wie es § 495a ZPO ermöglicht, und bis zu welchem Zeitpunkt die Parteien vortragen können (vgl. BVerfGE 64, 203 <207>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 279/93 -, Rn. 9; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 290/08 -, Rn. 10). Eine erst mit dem Urteilserlass erfolgende Mitteilung, dass im schriftlichen Verfahren entschieden werde, verletzt daher das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 290/08 -, Rn. 9; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 977/16 -, Rn. 8).

112. Hieran gemessen hat das Amtsgericht das Recht des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Das Amtsgericht hat das Urteil erlassen, ohne die Parteien zuvor darauf hingewiesen zu haben, dass im Verfahren nach § 495a ZPO und ohne mündliche Verhandlung entschieden werden soll. Dass es dieses Verfahren gewählt hat, ergibt sich erst aus dem Urteil selbst. Eine Frist, bis zu deren Ablauf vorgetragen werden konnte, wurde nicht gesetzt.

123. Das angegriffene Urteil beruht auf dem Gehörsverstoß. Denn es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht nach Anhörung der Parteien, weiterem Sachvortrag, möglichen Beweisanträgen oder Prozesserklärungen in der mündlichen Verhandlung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.

134. Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, da dies zur Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die festgestellte Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör ist besonders gewichtig, weil das Amtsgericht hier auch auf den diesbezüglichen Vortrag des Beschwerdeführers in der Anhörungsrüge hin die Gehörsverletzung nicht korrigiert hat.

III.

141. Das Urteil des Amtsgerichts ist aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Der die Anhörungsrüge zurückweisende Beschluss des Amtsgerichts wird damit gegenstandslos.

152. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

16Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2019:rk20191009.1bvr288418

Fundstelle(n):
RAAAH-40243