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LSG Berlin-Brandenburg Urteil v. - L 15 SO 181/18

Streitig sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Die 1944 in Prag geborene Klägerin besitzt die Staatsangehörigkeit der tschechischen Republik und zugleich die Syriens. Sie reiste im Juli 2015 zusammen mit ihrer 1975 geborenen Tochter und deren 2003 geborenen Sohn, die beide neben der syrischen ebenfalls die Staatsangehörigkeit der tschechischen Republik besitzen, aus der Türkei kommend nach Deutschland ein. Ihren am 14. August 2015 gestellten Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII) lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 31. August 2015 ab. Die Klägerin besitze kein Aufenthaltsrecht als Unionsbürgerin, weil sie nicht über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfüge. Im Widerspruchsverfahren wiederholte und vertiefte die Klägerin ihre Ausführungen zu den persönlichen Verhältnissen. Sie habe in der damaligen Tschechoslowakei Anfang der 1960er Jahre einen Syrer geheiratet, mit dem sie nach Syrien ausgewandert sei. Er sei 2005 gestorben. Von da an hätten sie, die 1975 geborene Tochter und deren Sohn allein in Syrien, in der Stadt H, gelebt. Nach Beginn des Krieges hätten sie das Land verlassen müssen und seien zunächst in die Türkei und von dort nach Deutschland geflohen. Den einzigen Kontakt hätten sie zu ihrem ehemaligen Nachbarn aus H gehabt, der 2014 mit seiner Frau als Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommen sei und seitdem in F bei Berlin lebe. Bei ihm hätten sie auch zuerst gewohnt. Am 19. Juli 2015 seien sie mit dem syrischen Pass aus der Türkei ausgereist und in Deutschland als EU-Bürger eingereist. Deshalb hätten sie keinen Asylantrag gestellt. Sie seien aber syrische Flüchtlinge. In Tschechien hätten sie niemanden. Ihre Tochter und ihr Enkel würden das Land gar nicht kennen. Sie habe in Tschechien auch von niemandem Leistungen erhalten. Ihre Tochter, ihr Enkel und sie selbst besäßen kein Vermögen. Seit September 2015 bewohne sie gemeinsam mit ihrer Tochter und ihrem Enkel eine eigene Wohnung. Nach dem vorgelegten Mietvertrag zwischen ihrer Tochter und der Vermieterin handelte es sich um ein "Kleinhaus" mit Nebengelass, 2 1/2 Zimmern und einer "Größe" von 54 m² auf einem Grundstück von ca. 800 m². Die Miete war mit monatlich pauschal 300,- EUR vereinbart. Durch bestandskräftig gewordenen Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2015 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Klägerin sei wie eine Unionsbürgerin zu behandeln, besitze aber kein Freizügigkeitsrecht. Hinzu komme, dass sie eingereist sei, um Sozialhilfe zu erlangen. Auch deshalb sei sie von Leistungen ausgeschlossen. Mit gleicher Begründung lehnte der Beklagte durch bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 11. Januar 2017 auch den von der Klägerin am 14. Dezember 2016 gestellten, ausdrücklich auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (im Folgenden: Grundsicherung) nach dem Vierten Kapitel des SGB XII gerichteten Antrag, ab. In diesem Verwaltungsverfahren hatte die Klägerin ergänzend mitgeteilt, dass sie in der Tschechoslowakei nie gearbeitet und deshalb keine Rentenansprüche erworben habe. In der tschechischen Republik lebe nur noch ihre 1941 geborene Schwester, die eine kleine Rente beziehe und in einer kleinen Wohnung lebe. Von ihr könne sie deshalb keine Hilfe bekommen. Sie habe insgesamt vier Kinder. Ihre älteste Tochter lebe noch in Syrien. Die zweitälteste sei keine tschechische Staatsbürgerin und mit ihrem Mann illegal nach Schweden geflüchtet, weshalb sie (die Klägerin) ihr nicht habe folgen können. Diese Tochter beziehe staatliche Unterstützung und habe kein Einkommen. Ihr jüngstes Kind, ein Sohn, sei nach Kanada ausgewandert und habe dort ein Daueraufenthaltsrecht erhalten. Er habe aber kein Einkommen und suche Arbeit. Die Tochter, mit der sie nach Deutschland gekommen sei, habe inzwischen einen anerkannten Flüchtling geheiratet und besuche einen Integrationskurs. Beide und ihr Enkel erhielten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) und Kindergeld. Sie selbst sei alt und gebrechlich und könne nicht mehr reisen. Sie legte in die deutsche Sprache übersetzte Schreiben der Botschaft der Tschechischen Republik in Berlin vom 2. November 2016 und des Ministeriums für Arbeit und Soziales der Tschechischen Republik vom 7. November 2016 betreffend Unterstützungen in materieller Notlage und bei Krankheit vor. Aus ihnen ergab sich, dass das tschechische Recht materielle Unterstützungen für Personen vorsieht, die ihren dauerhaften Aufenthalt und Wohnsitz in der tschechischen Republik haben und dass Personen mit ständigem Aufenthalt in der tschechischen Republik in der öffentlichen Krankenversicherung versichert sind. Mit zwei Schreiben vom 8. März 2017 beantragte die Klägerin zum einen erneut Leistungen nach dem SGB XII, zum anderen die Überprüfung des Bescheides vom 11. Januar 2017. Die Anträge lehnte der Beklagte durch zwei Bescheide vom 15. März 2017 mit der Begründung der vorangegangenen Bescheide bzw. mit Hinweis darauf ab, dass der Bescheid vom 11. Januar 2017 rechtmäßig ergangen sei. Ihre Widersprüche gegen die Bescheide begründete die Klägerin damit, dass sie nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 23 SGB XII in der bis zum 28. Dezember 2016 geltenden Fassung (im Folgenden mit dem Zusatz "a.F." für "alte Fassung" bezeichnet) einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt habe. Die Änderung der Vorschrift zum 29. Dezember 2016 (im Folgenden mit dem Zusatz "n.F." für "neue Fassung" bezeichnet) habe für Unionsbürger zu keiner Änderung geführt. Das dem Leistungsträger nach der a.F. zustehende Ermessen sei unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) auf Null reduziert gewesen. Danach sei von einer Verfestigung des Aufenthalts, welche zu einem Anspruch auf reguläre Leistungen der Sozialhilfe führe, nach Ablauf von sechs Monaten auszugehen. Dieser Verfestigung könne (nur) ausländerrechtlich entgegengetreten werden. Zwar sehe § 23 SGB XII n.F. nun besondere Leistungen für Personen vor, die wegen fehlenden Aufenthaltsrechts von den regulären Leistungen der Sozialhilfe ausgeschlossen seien. Diese Leistungen seien aber zeitlich befristet und zweckbestimmt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken. Auf diese Leistungen könne sie nicht verwiesen werden. Das BSG habe zur alten Rechtslage ausgeführt, dass die Rückkehrmöglichkeit in das Herkunftsland im Hinblick auf die Ausgestaltung des Grundrechts auf Sicherung des Existenzminimums als Menschenrecht jedenfalls solange unbeachtlich sei, wie der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland von den zuständigen Behörden faktisch geduldet werde. § 23 SGB XII n.F. sei auch deshalb problematisch, weil Unionsbürger erst bei Feststellung des Nichtvorliegens eines Aufenthaltsrechts durch die Ausländerbehörde zur Ausreise verpflichtet seien. Daraus ergebe sich, dass sie (jedenfalls) Anspruch auf existenzsichernde Leistungen nach bzw. entsprechend dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) habe. Es könne nicht sein, dass bei unrechtmäßigem Aufenthalt ein weitergehender Leistungsanspruch bestehe als bei rechtmäßigem. Im Übrigen habe sie keine ausreichend festen Bindungen zum Heimatland (tschechische Republik) mehr. Ihr stehe dort keine Unterkunft zur Verfügung und sie müsse befürchten, ohne ausreichende finanzielle Mittel obdachlos zu werden. Durch Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 2017 wies der Beklagte die Widersprüche mit der Begründung der Ausgangsbescheide zurück. In dem nachfolgenden Klageverfahren (Az. Sozialgericht [SG] Potsdam S 20 SO 94/17) gab der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 2018 zunächst ein von der Klägerin angenommenes Teilanerkenntnis ab und gewährte ihr für die Zeit vom 17. März 2017 bis zum 31. August 2017 Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung, Körper- und Gesundheitspflege sowie für die Zeit vom 29. Mai bis zum 31. August 2017 Hilfen zur Krankenbehandlung. Hierzu war er zuvor im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet worden (Beschluss des SG Potsdam vom 31. Mai 2017 - S 20 SO 31/17 ER -). Im Übrigen endete der Rechtsstreit S 20 SO 94/17 Anfang 2019 durch gerichtlichen Vergleich, durch den sich der Beklagte "ausgehend von einem streitgegenständlichen Zeitraum vom 11. März 2016 bis zum 28. Dezember 2016" verpflichtete, "der Klägerin in Anlehnung an die Höhe der Leistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG einen Barbetrag von monatlich 216,00 EUR zuzüglich der anteiligen Unterkunftskosten von monatlich 75,00 EUR (die Monate März 2016 und Dezember 2016 werden dabei anteilig berechnet) sowie - soweit angefallen - die entsprechenden notwendigen Gesundheitskosten gegen Nachweis" zu bewilligen. Die Beteiligten erklärten in dem Vergleich übereinstimmend, sich darüber einig zu sein, "dass mit dem Abschluss des Vergleichs sämtliche gegenseitigen Forderungen für den Zeitraum seit Einreise der Klägerin in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland bis einschließlich zum 16. März 2017 erledigt sind" (Beschluss des SG über die Annahme des Vergleichs vom 11. Februar 2019). Einen weiteren Antrag auf Leistungen stellte die Klägerin beim Beklagten mit Datum des 1. August 2017 für die Zeit ab 1. September 2017. Mit dem Antrag legte sie ein Attest der Fachärztin für Allgemeinmedizin L vom 30. Mai 2017 vor, ausweislich dessen sie wegen "einer schweren Erkrankung und Verdacht auf Leukämie" dringend medizinischer Behandlung bedürfe. Der Beklagte holte eine Stellungnahme des Amtsarztes Dr. H vom 14. August 2017 ein, wonach die notwendige medizinische Behandlung in der tschechischen Republik fortgesetzt werden könne. Mit der Begründung der vorangegangenen Bescheide, dass die Klägerin kein Aufenthaltsrecht besitze, lehnte der Beklagte daraufhin auch diesen Leistungsantrag durch Bescheid vom 5. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2017 ab. Mit einem unterdessen am 8. September 2017 beim SG Potsdam angebrachten Antrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Leistungen im Wege der einstweiligen Anordnung blieb die Klägerin erfolglos (Beschluss des SG Potsdam vom 28. November 2017 - S 20 SO 101/17 ER -, Beschlüsse des Landessozialgerichts [LSG] Berlin-Brandenburg vom 6. Februar 2018 - L 23 SO 269/17 B ER / L 23 SO 270/17 B ER PKH - und vom 2. März 2018 - L 23 SO 40/18 B ER RG). Verneint wurde in beiden Instanzen jeweils das Vorliegen eines materiellen Rechts auf die geltend gemachten Leistungen (Anordnungsanspruch), weil die Klägerin gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII n.F. von Leistungen zur Sicherung des laufenden Lebensunterhalts und bei Krankheit ausgeschlossen sei. Dies verstoße weder gegen Europarecht noch gegen Grundrechte. In dem Verfahren hatte die Klägerin ihre Rechtsauffassung wiederholt und vertieft, dass ihr ein Leistungsanspruch als Unionsbürgerin zustehe. Ergänzend hatte sie ausgeführt, in Syrien mit einer Schneiderei selbstständig gewesen zu sein. Ihr Haus sei im Krieg zerstört, die Ansparungen für den Fluchtweg aufgebraucht worden. Im November und Dezember 2017 habe sie von ihrer in Schweden lebenden Tochter jeweils 200,- EUR zur Unterstützung erhalten. Sie hatte eine eidesstattliche Versicherung mit Datum des 13. Dezember 2017 vorgelegt. Darin hatte sie angegeben, weder körperlich noch geistig in der Lage zu sein, alleine nach Tschechien zu ziehen und dort zu wohnen. Emotional sei sie ebenfalls auf die Nähe ihrer Tochter angewiesen. Bei der Ausländerbehörde habe sie inzwischen einen Antrag auf subsidiären Schutz bzw. einen Asylantrag gestellt. Mit ihrer am 20. November 2017 beim SG eingegangenen, ursprünglich unter dem Az. S 20 SO 129/17 registrierten Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 5. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2017 hat die Klägerin ihr Anliegen weiterverfolgt und zur Begründung ihren bisherigen Vortrag wiederholt. Der Beklagte hat den angefochtenen Bescheid verteidigt und darauf hingewiesen, dass die Gerichte in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes materiellrechtliche Ansprüche der Klägerin auf reguläre Leistungen der Sozialhilfe verneint hätten. In dem ersten der Verfahren seien lediglich Überbrückungsleistungen wegen eines Härtefalls zugesprochen worden. Zum 1. März 2018 hat die Klägerin mit ihrer Tochter, deren Ehemann und mittlerweile zwei Kindern eine neue Wohnung bezogen. Nach dem wiederum von ihrer Tochter geschlossenen Mietvertrag handelt es sich um eine 3-Zimmer-Wohnung mit einer Wohnfläche von 66,33 m², für die eine monatliche Nettokaltmiete von 431,15 EUR und eine Vorauszahlung auf die Betriebskosten (einschließlich Wärme- und Warmwasserkosten) von anfangs 166,- EUR vereinbart sind (Gesamtmiete 597,15 EUR). Das SG hat die Klage zunächst zu dem Rechtsstreit S 20 SO 94/17 verbunden (Beschluss vom 20. März 2018). In der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 2018 hat es dann erneut eine Trennung ausgesprochen, "soweit der Bescheid vom 05. September 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2017 für den Leistungszeitraum (Ablehnung) ab dem 01. September 2017 betroffen ist" und das abgetrennte Verfahren unter dem Aktenzeichen S 20 SO 78/18 fortgeführt. Durch Urteil vom 13. Juni 2018 hat das SG diese Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung existenzsichernder Leistungen nach dem SGB XII oder anderen Rechtsgrundlagen. Von den in § 23 Abs. 1 SGB XII n.F. genannten Leistungen nach dem SGB XII sei sie gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII n.F. ausgeschlossen. Sie besitze kein Aufenthaltsrecht als Unionsbürgerin. Im Besonderen erfülle sie nicht die Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht gemäß § 4 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU). Sie verfüge nach ihrem eigenen Vortrag nicht über ausreichenden Krankenversicherungsschutz oder Existenzmittel zum Leben und zur Zahlung einer Unterkunft. Aus demselben Grund sei sie auch nicht als Familienangehörige gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU aufenthaltsberechtigt. Ein Leistungsausschluss folge schließlich bereits daraus, dass sie eingereist sei, um Sozialhilfe zu erlangen. Sie habe Leistungen der Sozialhilfe bereits einen Monat nach ihrer Einreise nach Deutschland beantragt und andere Gründe für die Einreise seien nicht ersichtlich. Sie könnten auch nicht in dem menschlich nachvollziehbaren Interesse liegen, bei ihrer ebenfalls von staatlichen Transferleistungen abhängigen Tochter und ihrem Enkel zu leben. Die Rückausnahme des § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII greife nicht ein, weil die Klägerin nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels nach den §§ 22 bis 26 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) sei. Dem Leistungsausschluss wegen fehlenden Aufenthaltsrechts stehe Rechtsprechung des BSG zu Leistungsrechten von EU-Bürgern nicht entgegen. Diese sei zu der bis 28. Dezember 2016 geltenden Rechtslage ergangen. Die seither geltenden gesetzlichen Regelungen stellten gerade eine Reaktion auf diese Rechtsprechung dar und normierten den Nachrang des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem Herkunftsland. Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestünden nicht. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Überbrückungsleistungen wegen eines Härtefalls. Nach dem Beschluss der Kammer vom 31. Mai 2017 in dem Verfahren S 20 SO 31/17 ER habe ihr ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden, um die notwendigen Maßnahmen für die Inanspruchnahme existenz- und gesundheitssichernder Leistungen in ihrem Heimatland Tschechien zu ergreifen. Dies sei nicht geschehen, obwohl sie dort nach den von ihr selbst vorgelegten Auskünften Leistungen zur Sicherung der materiellen Existenz und Krankenversicherungsschutz zu erwarten habe und obwohl auch ihre Tochter und ihr Enkel, die im Wesentlichen von staatlichen Transferleistungen ihren Lebensunterhalt bestritten, sich angesichts ihrer Staatsangehörigkeit dort niederlassen könnten. Krankheitsbedingte Gründe stünden einem Umzug nicht entgegen. Ergänzend werde auf die Begründung des 23. Senats des LSG Berlin-Brandenburg in dem Beschluss vom 6. Februar 2018 in der Sache L 23 SO 269/17 B ER / L 23 SO 270/17 B ER PKH Bezug genommen, welche sich die Kammer zu eigen gemacht habe. Der 23. Senat hatte weitergehende Ausführungen zur Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses bei fehlendem Aufenthaltsrecht gemacht. Im Besonderen hatte er es als mit höherrangigem Recht vereinbar angesehen, dass durch § 23 Abs. 3 SGB XII n.F. die Nachrangigkeit des deutschen Sozialrechtssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert worden sei. Dies stehe auch nicht im Widerspruch zu einer verfassungsrechtlich umfangreicheren Gewährleistungsverpflichtung für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG. Während diese häufig nicht zeitnah in ihre Heimatländer zurückkehren könnten, könne sich die Gewährleistungsverpflichtung gegenüber Unionsbürgern darin erschöpfen, sie bei den Bemühungen um Selbsthilfe zu unterstützen. Ausschlüsse von existenzsichernden Leistungen würden im Übrigen auch für andere Personengruppen (z.B. Auszubildende) geregelt, ohne dass dies vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beanstandet worden sei. Ansprüche in unmittelbarer Anwendung des AsylbLG habe die Klägerin nicht, weil sie nicht glaubhaft gemacht habe, zu den Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG zu gehören. Abschließend hat das SG ausgeführt, dass ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt infolge der Inländergleichstellung des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) deshalb nicht in Betracht komme, weil die tschechische Republik das Abkommen nicht unterzeichnet habe und der persönliche Anwendungsbereich deshalb nicht eröffnet sei. Noch bevor die Klägerin gegen das Urteil Berufung eingelegt hat, hat sie am 25. Juli 2018 beim SG erneut die Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Wege der einstweiligen Anordnung beantragt (Az. S 20 SO 100/18 ER). In diesem Verfahren hat die Klägerin geltend gemacht, dass ihre Tochter seit Juni 2018 einer Beschäftigung mit einem monatlichen Bruttogehalt von 1.345,- EUR zuzüglich einer Fahrtkostenpauschale von 44,- EUR nachgehe; hierzu hat sie den Arbeitsvertrag vorgelegt. Von dem Gehalt zahle sie ihr monatlich 100,- EUR. Mit dem Antrag ist sie wiederum erfolglos geblieben (Beschluss des SG Potsdam vom 5. September 2018, Beschluss des Senats vom 26. November 2018 - L 15 SO 220/18 B ER / L 15 SO 221/18 B ER PKH). Das Sozialgericht hat wie im vorangegangenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes einen Anordnungsanspruch verneint, während der Senat den Neuantrag als unzulässig angesehen hat, weil ihm bei unveränderter Sach- und Rechtslage die Rechtskraft der Entscheidungen in dem vorangegangenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entgegenstehe. Mit der am 27. Juli 2018 gegen das am 26. Juli 2018 zugestellte Urteil erhobenen Berufung hat die Klägerin ihr Anliegen weiterverfolgt und ihre Auffassung wiederholt, dass sie auch nach der seit 29. Dezember 2016 geltenden Rechtslage einen Anspruch auf - reguläre - Leistungen nach dem SGB XII habe. Jedenfalls stünden ihr Übergangsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII n.F. zu oder - sofern auch diese Vorschrift nicht anzuwenden sei - Hilfe in sonstigen Lebenslagen (§ 73 SGB XII). Es sei widersprüchlich, wenn Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG, die vollziehbar ausreisepflichtig seien, zeitlich unbefristet mindestens abgesenkte Leistungen erhielten, Unionsbürger dagegen keine. Dies sei mit dem primärrechtlich verankerten Unionsbürgerstatus nicht vereinbar und deshalb auch keine verhältnismäßige Beschränkung der Leistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (FreizügigkeitsRL). Ab. 1. Juli 2018 habe sie außerdem ein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige ihrer Tochter. Diese habe infolge ihrer Beschäftigung ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin erworben und zahle ihr monatlich 100,- EUR. Außerdem versorge ihre Tochter sie seit der Einreise nach Deutschland mit Lebensmitteln und lasse sie an den Mahlzeiten der Familie teilnehmen, ohne dafür eine Erstattung zu verlangen. Werde berücksichtigt, dass im Regelbedarf für das Jahr 2019 147,83 EUR als Verbrauchsausgaben für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke enthalten seien, so reiche dies aus, um das Freizügigkeitsrecht zu begründen. Eine bedarfsdeckende Unterhaltsleistung sei nicht erforderlich. Ein Verfahren zur Zuerkennung eines Aufenthaltsrechts nach allgemeinen ausländerrechtlichen Bestimmungen sei nicht anhängig. Am 16. Juli 2019 werde sie mit ihrer Tochter und deren Familie erneut umziehen. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf die Schriftsätze ihres Bevollmächtigten vom 27. Februar 2019 und 8. Juli 2019 Bezug genommen. Zur Unterstützung ihrer Auffassung hat sie nochmals den Arbeitsvertrag ihrer Tochter vorgelegt, außerdem den an ihre Tochter gerichteten Bewilligungsbescheid des Landkreises Havelland - Jobcenter - vom 4. Oktober 2016 betreffend Leistungen nach dem SGB II in der Zeit von Oktober 2016 bis einschließlich März 2017 sowie Auszüge ihres Girokontos aus der Zeit von Juli bis Februar 2019, aus denen sich Überweisungen ihrer Tochter in Höhe von jeweils 100, EUR am 11. Juli, 2. August und 17. September 2018 ergeben. Vorgelegt hat sie schließlich eine schriftliche Erklärung ihrer Tochter vom 27. Juni 2019, in der diese unter anderem ausführt, dass sie der Klägerin seit Juli 2018 monatlich zusätzlich 100,- EUR zahle. Dieses Geld habe sie zunächst auf deren Konto überwiesen. Da die Klägerin mit der Bedienung des Kontos aber überfordert gewesen sei, habe sie ihr das Geld seither in bar gegeben. Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 13. Juni 2018 und den Bescheid des Beklagten vom 5. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr ab dem 1. September 2017 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts dem Grunde nach zu gewähren.

Fundstelle(n):
XAAAH-31010

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LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 11.07.2019 - L 15 SO 181/18

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