BSG Beschluss v. - B 2 U 19/19 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - absoluter Revisionsgrund - nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts - Mitwirkung des abgelehnten Richters - Entscheidung über Befangenheitsantrag gegen namentlich nicht bestimmten Richter - fehlerhafte Auskunft der Senatsgeschäftsstelle - Verfahrensnachteil - Grundsatz des fairen Verfahrens - Entscheidung über Ablehnungsgesuch - geringfügiges Eingehen auf Verfahrensgegenstand - Zurückverweisung an einen anderen Senat

Gesetze: § 160a Abs 5 SGG, § 60 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 42 ZPO, § 45 ZPO, § 547 Nr 1 ZPO, § 563 Abs 1 S 2 ZPO, § 16 S 2 GVG, Art 2 Abs 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, Art 6 MRK

Instanzenzug: SG Stralsund Az: S 1 U 4/07vorgehend Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern Az: L 5 U 26/12 Urteil

Gründe

1I. Die Klägerin begehrt Verletztenrente aufgrund eines anerkannten Arbeitsunfalls vom . Das SG hat die Klage mit Urteil vom abgewiesen. Das LSG hat Termin zur mündlichen Verhandlung auf den bestimmt, das persönliche Erscheinen der Klägerin angeordnet und den Sachverständigen Prof. Dr. M. geladen. Wegen Verhinderung des Sachverständigen hat die Klägerin zunächst beantragt, diesen Verhandlungstermin aufzuheben. Dies hat das LSG abgelehnt. Daraufhin hat die Klägerin ein Attest ihrer Gynäkologin vorgelegt, wonach für den Verhandlungstag ein nicht verschiebbarer operativer Eingriff geplant sei, für den ihre Anwesenheit in der Einrichtung ganztägig erforderlich sei. Das LSG hat daraufhin unter Vorlage der von der Klägerin im erstinstanzlichen Klageverfahren am erteilten Schweigepflichtentbindungserklärung die Gynäkologin befragt, wann der operative Eingriff für das Datum der geplanten Sitzung vereinbart worden sei und aufgrund welcher medizinischen Indikation dieser Eingriff nur an diesem Tag erfolgen könne. Die Ärztin hat schriftlich mitgeteilt, Behandlung und Eingriff müssten zyklusabhängig durchgeführt werden und könnten nicht verschoben werden, sodass der Termin am kurzfristig vereinbart worden sei. Die Klägerin hat sich daraufhin gegen die Ablehnung ihres Verlegungsantrags gewandt und den RLSG M. wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Zugleich hat sie um Mitteilung gebeten, wer vonseiten des LSG ihre behandelnde Gynäkologin kontaktiert habe. Das LSG hat daraufhin den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den verlegt. Die Klägerin hat ihr Begehren, dass ihr mitgeteilt werde, welcher Richter das an ihre Gynäkologin gerichtete Schreiben angeordnet habe, danach mehrfach schriftsätzlich wiederholt. Nachdem die Senatsgeschäftsstelle auf telefonische Nachfrage der Klägerin mitgeteilt hatte, RLSG M. habe ihre Gynäkologin befragt, hat die Klägerin am diesen erneut wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. In der mündlichen Verhandlung am hat der 5. Senat des LSG unter Beteiligung des VRLSG A. sowie der RLSG M. und S. den Befangenheitsantrag der Klägerin vom gegen den RLSG M. als unzulässig verworfen und zur Begründung ausgeführt: Einen Befangenheitsantrag vom Juli 2018 habe der Senat mit Beschluss vom bereits zurückgewiesen. Der erneute Antrag vom sei als unzulässig zu verwerfen, weil er völlig substanzlos sei und keinerlei objektiven Anlass zur Befürchtung der Befangenheit erkennen lasse. Die nunmehrige Unterstellung, eine Nachfrage bei der behandelnden Gynäkologin sei offenbar aus privater Neugier erfolgt, sei völlig fernliegend. Zudem habe die Anfrage bei der Gynäkologin nicht der abgelehnte RLSG M., sondern der VRLSG A. getätigt. Dies gehöre zu seinen gesetzlichen Aufgaben als Senatsvorsitzender, was der Klägerin auch seit längerem bekannt sei.

2Durch Urteil vom selben Tage hat das LSG sodann unter Beteiligung der oben genannten Berufsrichter die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückgewiesen.

3Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin geltend, der Senat sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Ihr Befangenheitsantrag habe dem Richter gelten sollen, der die Anfrage an ihre Ärztin veranlasst habe. So habe es das LSG auch verstanden, weshalb der VRLSG A. nicht über den Befangenheitsantrag gegen ihn selbst hätte entscheiden dürfen.

4II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Der geltend gemachte Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 S 2 GG; § 202 S 1 SGG iVm § 16 S 2 GVG), der zugleich einen absoluten Revisionsgrund (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 S 1 SGG) darstellt, ist hinreichend bezeichnet und liegt vor. Nähere Ausführungen dazu, dass das Urteil auf diesem Fehler beruhen kann, waren daher entbehrlich.

5Das LSG war in der mündlichen Verhandlung vom nicht vorschriftsmäßig besetzt (§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 S 1 SGG). An dem auf diese Verhandlung ergangenen Urteil hat VRLSG A. mitgewirkt, den die Klägerin zwar nicht namentlich, aber inhaltlich hinreichend präzise abgelehnt hatte. Dass dieser selbst die Auskunft bei der Gynäkologin eingeholt hatte, hat die Klägerin erst durch den am verkündeten Beschluss des LSG erfahren. Das LSG ging offensichtlich selbst davon aus, dass der mit diesem Vortrag begründete Ablehnungsantrag sich sinngemäß gerade gegen den Richter richten sollte, der die Anfrage tatsächlich veranlasst hatte. Denn das LSG hebt in dem Beschluss hervor, der Vorsitzende, der eigentlich gemeint gewesen sei, hätte eine solche Anfrage als Vorsitzender problemlos veranlassen dürfen. Folglich hätte das LSG auch über den Befangenheitsantrag gegen den VRLSG A. entscheiden müssen. Wenn das LSG sich in dem Beschluss darauf beruft, dass namentlich nur RLSG M. abgelehnt worden sei, verstößt das gegen den aus Art 2 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip bzw Art 6 EMRK abgeleiteten Anspruch auf ein faires Verfahren. Dieser Grundsatz verbietet es ua, dass ein Gericht aus der Falschauskunft der Senatsgeschäftsstelle Verfahrensnachteile für die Beteiligten ableitet (BSG Beschlüsse vom - B 13 R 230/13 B - juris RdNr 11 mwN, vom - B 10 ÜG 15/14 B - juris RdNr 8 und vom - B 9 V 36/12 B - SozR 4-1500 § 118 Nr 3 RdNr 16; vgl EGMR vom - 37/1992/382/460 - NJW 1995, 1413 - Dombo Beheer). Die Mitwirkung des Vorsitzenden an dem Urteil vom verletzte daher das Recht der Klägerin auf den gesetzlichen Richter, weil der zumindest sinngemäß auch gegen diesen gerichtete Ablehnungsantrag zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung noch offen und nicht verbeschieden war, unabhängig davon, dass der VRLSG A. über diesen Antrag gegen sich selbst nicht hätte (mit)entscheiden dürfen. Damit fehlt es an einer Entscheidung über den Befangenheitsantrag gegen den eigentlich gemeinten VRLSG A.. Dieser hätte das Urteil vom mithin nicht fällen dürfen, weil über den Befangenheitsantrag gegen ihn noch nicht entschieden war.

6Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass das LSG den Befangenheitsantrag als einen ausschließlich gegen den RLSG M. gerichteten hätte behandeln dürfen, wäre der in der mündlichen Verhandlung vom getroffene Beschluss des LSG, mit dem der Befangenheitsantrag gegen den RLSG M. - ebenfalls unter dessen Mitwirkung - als unzulässig verworfen wurde, ebenfalls rechtswidrig. Auch insofern hätte dann eine fehlerhafte Besetzung des Berufungsgerichts vorgelegen. Denn der vom LSG fälschlicherweise als (allein) abgelehnt angesehene RLSG M. hätte jedenfalls dann nicht selbst über den Befangenheitsantrag mitentscheiden dürfen, weshalb auch insofern ein Verstoß gegen Art 101 Abs 1 S 2 GG vorlag.

7Ist in dem Beschluss über den Befangenheitsantrag ein, wenn auch nur geringfügiges Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung des Antrags als unzulässig aus. Eine gleichwohl erfolgende Ablehnung des Antrags unter Beteiligung des abgelehnten Richters selbst stellt sich dann - objektiv - als willkürlich dar. Über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe "zum Richter in eigener Sache" machen (vgl BVerfGK 7, 325, 340; 11, 434, 442; 13, 72, 79 f; BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 2853/11 - juris RdNr 30). Ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren soll nur echte Formalentscheidungen ermöglichen oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern, was eine enge Auslegung der Voraussetzungen gebietet (vgl BVerfGK 5, 269, 282; 11, 434, 442; 13, 72, 79). Völlige Ungeeignetheit eines Befangenheitsantrags ist daher nur dann anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens selbst entbehrlich ist. Dies ist grundsätzlich nur dann der Fall, wenn das Ablehnungsgesuch für sich allein - ohne jede weitere Aktenkenntnis - offenkundig eine Ablehnung nicht zu begründen vermag. Ist hingegen ein - wenn auch nur geringfügiges - Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung als unzulässig unter Beteiligung des abgelehnten Richters aus. Ein Beschluss, mit dem gleichwohl der Befangenheitsantrag durch den abgelehnten Richter selbst abgelehnt wird, stellt sich dann - objektiv - als willkürlich dar.

8So lagen die Verhältnisse hier. Das Ablehnungsgesuch der Klägerin bezog sich insbesondere auf die Einholung eines Arztberichts bei ihrer behandelnden Gynäkologin auf Grundlage einer zehn Jahre alten Schweigepflichtsentbindung, die sie zu Beginn des Gerichtsverfahrens abgegeben hatte. In dem Ablehnungsgesuch sind damit Verhaltensweisen konkret benannt, die aus Sicht der Klägerin ein Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des handelnden Richters begründen können. Damit stehen bereits die in dem Beschluss angestellten Erwägungen des LSG, dass nicht nur der Befangenheitsantrag gegen RLSG M. substanzlos sei, sondern dass der in Wirklichkeit handelnde und "eigentlich" abgelehnte Senatsvorsitzende zu der Anfrage bei der Gynäkologin befugt gewesen sei, einer Bewertung des Beschlusses vom als reine Formalentscheidung entgegen ( - juris RdNr 17 - 18). Bereits das inhaltliche Eingehen des LSG auf die Frage, welcher Richter denn nun eigentlich "gemeint" sei, und auf die verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit des Handelns des Vorsitzenden zeigt, dass es sich nicht alleine um eine Formalentscheidung handelte, unabhängig davon, dass auch inhaltlich Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens des Vorsitzenden bestehen.

9Der Senat hat gemäß § 160a Abs 5 SGG das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Er hat sein insoweit bestehendes Ermessen dahingehend ausgeübt, nach § 563 Abs 1 S 2 ZPO iVm § 202 S 1 SGG den Rechtsstreit an einen anderen Spruchkörper des LSG zurückzuverweisen, um das Vertrauen der Beteiligten in ein faires Verfahren zu gewährleisten ( - SozR 3-1750 § 565 Nr 2).

10Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2019:020719BB2U1919B1

Fundstelle(n):
RAAAH-30549