BSG Urteil v. - B 11 AL 15/18 R

Arbeitslosengeldanspruch - Erfüllung der Anwartschaftszeit - Versicherungspflichtverhältnis wegen Erziehung von Kindern - Berücksichtigung von österreichischen Zeiten der Versicherungspflicht vor Eintritt der Kindererziehung - Zusammenrechnung

Leitsatz

Die für die Berücksichtigung von Zeiten der Kindererziehung als Anwartschaftszeit erforderliche Vorversicherungszeit kann auch durch österreichische Versicherungszeiten begründet werden.

Gesetze: § 26 Abs 2a S 1 Nr 1 SGB 3 vom , § 24 Abs 1 SGB 3, § 142 Abs 1 SGB 3, Art 5 Buchst b EGV 883/2004, Art 6 EGV 883/2004, Art 61 Abs 1 S 1 EGV 883/2004, Art 61 Abs 2 EGV 883/2004

Instanzenzug: Az: S 5 AL 679/13 Urteilvorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 9 AL 80/15 Urteil

Tatbestand

1Die Klägerin begehrt Alg ab dem . Im Streit ist, ob sie unter Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten und österreichischen Versicherungszeiten die Anwartschaftszeit erfüllt hat.

2Die 1976 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige. Sie lebte seit 2006 in Österreich und war dort vom bis unselbstständig beschäftigt. Vom bis erhielt sie österreichisches Wochengeld/Mutterschaftsgeld wegen der Geburt ihres Sohnes am und befand sich im Anschluss daran in Elternzeit bzw Erziehungszeit. Im Januar 2011 zog sie mit ihrer Familie zurück nach Deutschland, wo sie im Oktober 2013 ein zweites Kind zur Welt brachte.

3Am meldete sich die Klägerin erstmals arbeitslos und beantragte Alg unter Vorlage einer "Bescheinigung von Zeiten, die für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen sind" des österreichischen Trägers der Arbeitsförderung (Bescheinigung E 301 vom ). Darin sind Versicherungszeiten vom bis und vom bis sowie gleichgestellte Zeiten vom bis (als Grund der Gleichstellung ist "Wochengeld" angegeben) vermerkt. Die Beklagte lehnte diesen Antrag unter Hinweis auf Art 61 VO (EG) 883/2004 mit der Begründung ab, die bescheinigten Zeiten könnten nicht zur Erfüllung der Anwartschaftszeit herangezogen werden, weil die Klägerin unmittelbar vor Eintritt der Arbeitslosigkeit nicht versicherungspflichtig in Deutschland bzw als echter oder unechter Grenzgänger beschäftigt gewesen sei (bindender Bescheid vom ).

4Vom bis war die Klägerin in Deutschland befristet versicherungspflichtig beschäftigt. Am meldete sie sich zum erneut arbeitslos und beantragte Alg. Auch diesen Antrag lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die Anwartschaftszeit für das Entstehen eines Anspruchs auf Alg sei nicht erfüllt (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). In der Rahmenfrist vom bis seien nur die Tätigkeit vom bis sowie eine Beschäftigung in Österreich vom bis als versicherungspflichtige Beschäftigungszeiten zu berücksichtigen. Die Elternzeit könne nicht als Versicherungszeit anerkannt werden, weil die Klägerin unmittelbar davor keine versicherungspflichtigen Zeiten nach deutschem Recht zurückgelegt habe.

5Das SG hat die Beklagte verurteilt, Alg ab dem Grunde nach zu gewähren (Urteil vom ). Die Klägerin sei unmittelbar vor der Geltendmachung ihres Anspruchs auf Alg in Deutschland vom bis insgesamt 182 Tage versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Die davorliegende Zeit der Kindererziehung vom bis habe sich direkt an eine Versicherungspflicht in Österreich vom bis angeschlossen und gelte daher im Inland nach § 26 Abs 2a SGB III als versicherungspflichtig, sodass die Anwartschaftszeit von einem Jahr erfüllt sei.

6Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom ). Die Klägerin habe die Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Deutsche Pflichtversicherungszeiten seien lediglich für sechs Monate für die Zeit der Beschäftigung vom bis zu berücksichtigen. Eine Versicherungspflicht durch Zeiten der Kindererziehung bestehe nicht, weil keine Versicherungspflicht in der deutschen Arbeitslosenversicherung unmittelbar vor der Kindererziehung bestanden habe. Eine Gleichstellung oder Berücksichtigung der österreichischen Versicherungspflicht vor Eintritt der Kindererziehung sei weder nach Art 5 oder 6 VO (EG) 883/2004 noch nach primärem Europarecht geboten. Insbesondere sei nach Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004 die Zusammenrechnung von Zeiten nur dann vorgeschrieben, wenn unmittelbar vor dem Arbeitsloswerden Versicherungszeiten im Inland zurückgelegt worden seien. Ausländische Versicherungszeiten hätten im Rahmen der Leistungen bei Arbeitslosigkeit einen geringeren Stellenwert als in anderen Bereichen der sozialen Sicherheit. Die unterschiedliche Behandlung der österreichischen versicherten Beschäftigung und einer entsprechenden deutschen sei gerechtfertigt, da es hier um ein "Benefizium der deutschen Arbeitslosenversicherung" gehe. Dafür eine gewisse Versicherungstreue in Form einer Vorversicherung zu fordern, verkörpere keine unverhältnismäßige Maßnahme.

7Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin eine rechtsfehlerhafte Anwendung von § 26 Abs 2a SGB III in Verbindung mit europarechtlichen Vorschriften geltend. Ihre österreichische Versicherungszeit sei unter den gleichen Voraussetzungen anspruchsbegründend heranzuziehen, wie eine inländische Versicherungszeit gleicher Dauer und zeitlicher Lage. Aus § 26 Abs 2a Satz 1 Nr 1 SGB III folge nicht, dass Kindererziehungszeiten nur dann als Beitragszeiten in der Arbeitslosenversicherung anzuerkennen seien, wenn unmittelbar zuvor Versicherungspflicht in der deutschen Arbeitslosenversicherung bestanden habe. Die Versicherungspflicht für Erziehende solle Nachteile im Arbeitslosenversicherungsschutz wegen einer Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung ausschließen. Es dürfe keine Rolle spielen, ob die versicherungspflichtige Tätigkeit zuvor im europäischen Ausland durchgeführt und ein Teil der Erziehungszeit im Ausland absolviert worden sei. Die Nichtberücksichtigung der österreichischen Versicherungs- und Leistungszeiten würde im Übrigen gegen das Diskriminierungsverbot der europäischen Verträge verstoßen.

8Die Klägerin beantragt,das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom zurückzuweisen.

9Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

10Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Gründe

11Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das ist aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das zurückzuweisen. Das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, Alg ab dem dem Grunde nach zu gewähren.

12Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den Entscheidungen der Vorinstanzen der die Zahlung von Alg ablehnende Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom , den die Klägerin zutreffend mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1, 4 SGG) angreift. Sie begehrt zulässigerweise dem Grunde nach (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG) die Zahlung der Geldleistung Alg für die Zeit ab dem .

13Nach § 137 SGB III (anwendbar ist hier das SGB III in der seit dem geltenden Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom - BGBl I 2854) setzt der Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit voraus, dass Arbeitnehmer (1.) arbeitslos sind, (2.) sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und (3.) die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Die Klägerin hat sich zum arbeitslos gemeldet und ist nach dem Gesamtzusammenhang der tatsächlichen Feststellungen des LSG arbeitslos gewesen.

14Entgegen der Auffassung des LSG erfüllt sie auch die Anwartschaftszeit für einen Anspruch auf Alg. Die Anwartschaftszeit hat erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (§ 142 Abs 1 SGB III). Die Rahmenfrist beträgt zwei Jahre und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg (§ 143 Abs 1 SGB III). Hier verläuft die Rahmenfrist - ausgehend von der Arbeitslosmeldung zum - vom bis . Innerhalb dieser Frist stand die Klägerin vom bis , also 182 Kalendertage, in einem nach § 25 Abs 1 Satz 1 SGB III versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis.

15Als weitere Zeit eines Versicherungspflichtverhältnisses ist unter Berücksichtigung der Vorschriften der VO (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Zeit vom bis (zehn Tage) zu berücksichtigen, die der Träger der österreichischen Arbeitslosenversicherung als eine einer Beschäftigung entsprechenden Versicherungszeit bescheinigt hat (Bescheinigung E 301 vom ).

16Die Einbeziehung von in anderen Staaten der EU zurückgelegten Zeiten richtet sich bei Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004. Danach berücksichtigt der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung, das Wiederaufleben oder die Dauer des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit abhängig ist, soweit erforderlich, die Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt wurden, als ob sie nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären. Nach Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004 gilt das - außer für "Grenzgänger" iS von Art 65 Abs 5 Buchst a Satz 1 VO (EG) 883/2004, zu denen die Klägerin nicht zählt - nur, wenn "unmittelbar zuvor" nach den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen beantragt werden, ua eine Versicherungszeit zurückgelegt worden ist.

17Die von der Klägerin in Anspruch genommene Beklagte ist sowohl nach dem Ort der letzten Beschäftigung der Klägerin als auch nach deren Wohnland - beides ist Deutschland - zuständiger Träger. Andere Anknüpfungspunkte für die Zuständigkeit bestehen nicht (vgl Art 11 Abs 3 VO <EG> 883/2004; allgemein zu den Zuständigkeiten bei Vollarbeitslosigkeit Vießmann, ZESAR 2015, 149 ff und 199 ff). Die allgemeinen Voraussetzungen nach Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 für die Berücksichtigung von Zeiten eines anderen Mitgliedstaats - hier Österreich - liegen ebenfalls vor. Denn im Streit ist ein Anspruch auf Alg ab dem nach den deutschen Rechtsvorschriften des SGB III, der von der Zurücklegung von Versicherungszeiten abhängt. Die Klägerin war auch, wie es Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004 verlangt, unmittelbar vor der Zeit, für die sie den Anspruch geltend macht, nämlich vom bis zum , nach deutschem Recht versicherungspflichtig beschäftigt.

18Dass die Klägerin in Österreich nach Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 von der Beklagten zu berücksichtigende Zeiten zurückgelegt hat, ergibt sich aus der Bescheinigung E 301 des Trägers der österreichischen Arbeitslosenversicherung. Diese entfaltet Bindungswirkung und kann nur im Wege des in der VO (EG) 883/2004 und der VO (EG) 987/2009 vorgesehenen Verfahrens korrigiert werden. Insofern bestimmt Art 5 Abs 1 VO (EG) 987/2009, dass die vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellten Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich sind, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden (vgl zu den Einzelheiten zuletzt -, SozR 4-6065 Art 61 Nr 1 RdNr 26 mwN). Vorliegend ist die Bescheinigung E 301 - auch bezogen auf die bescheinigte Zeit vom bis - nicht in Frage gestellt worden. Es bestehen zudem - ohne dass dies entscheidungserheblich wäre - keine Anhaltspunkte für eine unrichtige Bewertung. Zwar hat sich die Klägerin im Jahr 2012 bereits wieder in Deutschland aufgehalten. Doch dürfte sie nach dem arbeitsrechtlichen Ende ihrer Beschäftigung in Österreich eine Urlaubsabfindung bzw Urlaubentschädigung erhalten haben, die nach österreichischem Recht als Versicherungszeit in der Arbeitslosenversicherung gilt, deshalb als solche bescheinigt wurde und von der Beklagten als Zeiten einer Pflichtversicherung gemäß § 24 Abs 1 SGB III behandelt wird (vgl GA der Bundesagentur, IntRecht Alv: Arbeitslosengeld nach Auslandsbeschäftigung bzw nach ausländischem Wohnort, Stand 09/12, Ziff 5.3.2 Abs 1).

19Die Einbeziehung der nach den österreichischen Rechtsvorschriften zurückgelegten Versicherungszeit vom bis ist auch erforderlich iS von Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004, denn ohne diese Zeiten sind ausreichende Versicherungszeiten allein nach den deutschen Rechtsvorschriften des SGB III nicht vorhanden. Zunächst verlängert sich die zu berücksichtigende Anwartschaftszeit dadurch um zehn weitere Tage, was weder die Beklagte noch das LSG in Abrede stellen.

20Wegen dieser Versicherungszeit ist darüber hinaus aber auch der sich anschließende Zeitraum vom bis (weitere 206 Tage), wie vom SG zutreffend erkannt, als Versicherungszeit nach § 26 Abs 2a Satz 1 SGB III (in der ab dem geltenden und danach im Wesentlichen unverändert gebliebenen Fassung des Gesetzes zur Reform arbeitsmarktpolitischer Instrumente <Job-AQTIV-Gesetz> vom - BGBl I 3443) zu berücksichtigen. Damit erfüllt die Klägerin die Anwartschaftszeit von zwölf Monaten.

21Nach § 26 Abs 2a Satz 1 SGB III sind Personen in der Zeit versicherungspflichtig, in der sie ein Kind, das das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, erziehen, ua wenn sie 1. unmittelbar vor der Kindererziehung versicherungspflichtig waren und 2. sich mit dem Kind im Inland gewöhnlich aufhalten. Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Klägerin hat nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG im Zeitraum bis ihren am geborenen Sohn erzogen und sich auch in Deutschland gewöhnlich aufgehalten. Sie war außerdem durch die nach den österreichischen Rechtsvorschriften zurückgelegte und nach Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 einzubeziehende Versicherungszeit vom bis unmittelbar vor dieser am einsetzenden Zeit der Kindererziehung versicherungspflichtig.

22Entgegen der Auffassung des LSG erfordert die Anwendung von § 26 Abs 2a Satz 1 SGB III keine Vorversicherungszeiten, die unabhängig von europäischem Sozialrecht bestehen. § 26 Abs 2a Satz 1 Nr 1 SGB III steht in systematischen Zusammenhang zu § 24 SGB III, der in Abs 1 im allgemeinen definiert, wer in einem Versicherungspflichtverhältnis steht, nämlich Beschäftigte und aus sonstigen Gründen versicherungspflichtige Personen. Weitere Einzelheiten regeln § 25 SGB III (Beschäftigte) und § 26 SGB III (Sonstige Versicherungspflichtige). Aus § 24 Abs 2 bis 4 SGB III, der insbesondere Anfang und Ende des Versicherungspflichtverhältnisses von Beschäftigten bestimmt, ergibt sich, dass sich das Versicherungspflichtverhältnis über bestimmte Zeiträume erstreckt, es sich also um "Zeiten" der Versicherungspflicht handelt. Deshalb sind auch im Rahmen der Anwendung von § 26 Abs 2a Satz 1 Nr 1 SGB III, also schon nach nationalem Recht, die bescheinigten österreichischen Versicherungspflichtzeiträume als Zeiten der Versicherungspflicht nach deutschen Rechtsvorschriften zu behandeln und deshalb nach der besonderen Vorschrift zur Zusammenrechnung von Zeiten in Art 61 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 883/2004 zu berücksichtigen.

23Es muss entgegen der Auffassung des LSG hierzu nicht auf Art 5 Buchst b VO (EG) 883/2004 zurückgegriffen werden. Diese Regelung bestimmt: Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse Rechtswirkungen, so berücksichtigt dieser Mitgliedstaat die in einem anderen Mitgliedstaat eingetretenen entsprechenden Sachverhalte oder Ereignisse, als ob sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären. Mit Art 5 Buchst b VO (EG) 883/2004 sollen, wie es in Erwägungsgrund 9 zur VO (EG) 883/2004 heißt, von der EuGH-Rechtsprechung entwickelte Grundsätze in das Sekundärrecht überführt werden (ausführlich dazu Eichenhofer, ZESAR 2018, 3 ff; Hauschild in Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, K Art 5 VO 883/04 RdNr 5 ff, Stand Mai 2010). Zur weiteren Erläuterung wird in Erwägungsgrund 10 zur VO (EG) 883/2004 ausgeführt, dass dieser Grundsatz der Tatbestandsgleichstellung nicht zu einem Widerspruch mit dem Grundsatz der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten führen soll. Ausdrücklich heißt es dort weiter, dass Zeiten, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind, nur durch die Anwendung des Grundsatzes der Zusammenrechnung der Zeiten berücksichtigt werden sollen. Insofern kann das Gebot der Zusammenrechnung von Zeiten nach Art 6 VO (EG) 883/2004 im Allgemeinen bzw nach Art 61 Abs 1 für Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Besonderen (zum Verhältnis Art 6 und Art 61 Abs 1 VO <EG> 883/2004 vgl Wehrhahn in Eicher/Schlegel, SGB III nF, EGVO 883/2004 Art 61 RdNr 4, Stand August 2017; Kador in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl 2018, Art 61 VO <EG> 883/2004, RdNr 14 f) als eine Spezialform der Tatbestandsgleichstellung angesehen werden (so Dern in Schreiber/Wunder/Dern, VO <EG> 883/2004, 1. Aufl 2012, Art 6 RdNr 8; vgl auch Schulte, ZESAR 2010, 202, 207). Auf zeitgebundene Tatbestandsmerkmale ist das Prinzip der Tatbestandgleichstellung aber nicht anwendbar (Eichenhofer, ZESAR 2018, 3, 6, mwN zur Rechtsprechung des EuGH).

24Es wäre zudem widersprüchlich, dasselbe bescheinigte Versicherungspflichtverhältnis zunächst als "Zeit", also als zeitgebundenes Tatbestandsmerkmal, zu beurteilen und bei der Erfüllung der Anwartschaftszeit iS von § 142 SGB III zu berücksichtigen, es aber in anderem Zusammenhang als "Sachverhalt oder Ereignis" iS von Art 5 Buchst b VO (EG) 883/2004 zu werten, mit der Folge, dass es für die Anwendung von § 26 Abs 2a Satz 1 Nr 1 SGB III nur unter weiteren Voraussetzungen (vgl Vießmann, ZESAR 2018, 449, 455 ff) von Bedeutung wäre. Soweit der EuGH in seiner früheren Rechtsprechung noch eine besondere Regelung für erforderlich gehalten hat, um über solche "auslösenden Versicherungszeiten" (so Dern in Schreiber/Wunder/Dern, VO <EG> 883/2004, 1. Aufl 2012, Art 6 RdNr 8) eine Zusammenrechnung bzw Berücksichtigung von nationalen Zeiten vornehmen zu können, dürfte dies überholt sein. In Anbetracht der durch die VO (EG) 883/2004 geschaffenen neuen Art 5 und 6 dürfte auch europarechtlich eine vorangehende bzw nachfolgende Versicherung in einem anderen Mitgliedstaat dieselben Wirkungen haben wie eine entsprechende Versicherung in dem zuständigen Mitgliedstaat, wenn der angegangene Mitgliedstaat - wie hier Deutschland - tatsächlich unzweifelhaft zuständig ist (vgl Spiegel in Spiegel, Kommentar zum Zwischenstaatlichen Sozialversicherungsrecht, Band 1 Art 1 VO 883/2004 RdNr 56, Stand 2017; Schulte, ZESAR 2010, 202, 207; im Ergebnis auch Dern in Schreiber/Wunder/Dern, VO <EG> 883/2004, 1. Aufl 2012, Art 6 RdNr 8).

25Nichts anderes folgt entgegen der Auffassung des LSG aus Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004. Wie bereits dargelegt, verlangt Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004 für die Anwendung des in Abs 1 geregelten Grundsatzes der Berücksichtigung von ausländischen Zeiten durch den zuständigen Träger, dass "unmittelbar zuvor" nach den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen beantragt werden, bestimmte Zeiten zurückgelegt wurden. Diese - systematisch eher unpassend verortete (so Labrenz in Eicher/Schlegel, SGB III nF, EGVO 883/2004, Vor Art 61 ff RdNr 92, Stand April 2017) - Vorschrift bezweckt allein in Ergänzung der allgemeinen Kollisionsnorm in Art 11 VO (EG) 883/2004 als besondere Anknüpfungsregel die Bestimmung des zuständigen Staates, wenn ausländische Zeiten durch Zusammenrechnung berücksichtigt werden sollen (vgl Wehrhahn in Eicher/Schlegel, SGB III nF, EGVO 883/2004 Art 61 RdNr 9 f, 43, Stand August 2017 und 2018; Kador in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl 2018, Art 61 VO <EG> 883/2004, RdNr 15, 26; Otting in Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, K Art 61 VO 883/04 RdNr 10, Stand Juli 2015; S. Weber in Schlachter/Heinig, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, 1. Aufl 2016, § 29 RdNr 30 f; zweifelnd nur Vießmann, ZESAR 2015, 149, 153, der aber auch eine indizielle Wirkung der Norm erkennt). Durch die Anknüpfung an eine Vorbeschäftigung in dem Staat, in dem Leistungen beantragt werden, sollen Wanderungsbewegungen allein wegen höherer Leistungen vermieden werden (vgl Kador in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl 2018, Art 61 VO <EG> 883/2004, RdNr 15). Eine darüber hinausgehende Bedeutung kommt Art 61 Abs 2 VO (EG) 883/2004, dessen Voraussetzungen durch die Beschäftigung der Klägerin in Deutschland unmittelbar vor Eintritt der Arbeitslosigkeit, wie oben dargelegt, unzweifelhaft erfüllt sind, nicht zu.

26Die Berücksichtigung von Versicherungszeiten im EU-Ausland als Vorversicherungszeit im Rahmen der Anwendung von § 26 Abs 2a Satz 1 SGB III entspricht schließlich auch dem Sinn und Zweck des § 26 Abs 2a Satz 1 SGB III. Mit der Einbeziehung von Zeiten der Erziehung eines Kindes unter drei Jahren in die Versicherungspflicht durch das Job-AQTIV-Gesetz beabsichtigte der Gesetzgeber, den Arbeitslosenversicherungsschutz für Personengruppen zu verbessern, wenn die Betroffenen unmittelbar vor Beginn des Versicherungstatbestandes zum Kreis der Arbeitnehmer gehörten (vgl die Begründung zum Job-AQTIV-Gesetz, BT-Drucks 14/6944 S 30). Ausdrücklich sollte zudem die Unterstützung der Berufsrückkehr von Frauen aus Zeiten der Kindererziehung durch die Einbeziehung von Erziehungszeiten verbessert und schrittweise so gestaltet werden, dass diese der Lebenswirklichkeit von Frauen und Familien stärker gerecht wird (BT-Drucks 14/6944 S 26). Dieser Unterstützung bedürfen Arbeitnehmerinnen und Berufsrückkehrerinnen unabhängig davon, ob sie ihre letzte Beschäftigung in Deutschland oder in einem anderen Mitgliedstaat der EU ausgeübt haben. Hier zu differenzieren wäre im Übrigen kaum mit dem Diskriminierungsschutz und der Arbeitnehmerfreizügigkeit - beides wesentliche Grundsätze des EU-Rechts - zu vereinbaren.

27Die Klägerin hat danach innerhalb der Rahmenfrist jedenfalls mehr als ein Jahr in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden und damit die Anwartschaftszeit erfüllt. Offen bleiben kann daher, ob und auf welcher Grundlage auch Zeiten der Kindererziehung vor dem als Pflichtversicherungszeiten anzuerkennen wären. Deren Anerkennung könnte entgegenstehen, dass während der Zeiten der Kindererziehung bis zum Umzug der Klägerin mit ihrer Familie nach Deutschland im Januar 2011 kein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland bestanden hat und deshalb diese Zeiten wegen § 26 Abs 2a Satz 1 Nr 2 SGB III, der einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland fordert, nicht ohne Weiteres zu berücksichtigen wären; den Erziehungszeiten in Deutschland ab Januar 2011 könnten in diesem Fall die unmittelbar vorhergehenden Versicherungszeiten fehlen (so in einem vergleichbaren Fall - RdNr 30 ff). Die vom LSG ausführlich erörterte Frage der Tatbestandsgleichstellung nach Art 5 VO (EG) 883/2004 (ausführlich hierzu auch Vießmann, ZESAR 2018, 449, 452 ff, unter Rückgriff auf den Sachverhalt des vorliegenden Falles mit Ausnahme der Besonderheit der für 2012 bescheinigten Zeit), sowie die sich daran anschließende Problematik der primärrechtlich garantierten Arbeitnehmerfreizügigkeit, wären erst für diese Zeiten der Kindererziehung von Bedeutung (instruktiv - zur gebotenen Berücksichtigung von Zeiten der Kindererziehung in der Rentenversicherung - <Reichel-Albert>).

28Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg dem Grunde nach ab dem liegen indes unabhängig von diesen Fragen vor, weil die Klägerin die Anwartschaftszeit auf jeden Fall erfüllt. Von Belang könnten zusätzliche Zeiten deshalb nur für die Anspruchsdauer (vgl § 147 SGB III) sein, zu der sich die Beteiligten aber weder bis zum Abschluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG noch im Revisionsverfahren geäußert haben. Unter diesen Voraussetzungen darf ein Grundurteil, das hier allein Gegenstand des Revisionsverfahrens ist, auch unabhängig von einer Prüfung der Anspruchsdauer ergehen (so - juris RdNr 15).

29Die Beklagte hat auch die Kosten des Revisions- und des Berufungsverfahrens zu tragen (§ 193 SGG).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2019:260219UB11AL1518R0

Fundstelle(n):
NJW 2019 S. 10 Nr. 38
CAAAH-23601