BGH Beschluss v. - 4 StR 517/18

(Voraussetzungen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und Erfordernis eines "Beinahe-Unfalls") 

Gesetze: § 315b Abs 1 Nr 3 StGB, § 315b Abs 3 StGB, § 315 Abs 3 Nr 1a StGB

Instanzenzug: LG Essen Az: 26 KLs 35/17

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und gegen ihn Maßregeln nach §§ 69, 69a StGB verhängt. Mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision wendet er sich gegen seine Verurteilung. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2Nach den Feststellungen entschloss sich der Angeklagte am bei einer Fahrt durch die     K.   straße in E.   dazu, mit dem von ihm geführten Pkw auf eine Menschengruppe zuzufahren, die sich zum Teil auf der Straße und zum Teil auf dem neben der Straße verlaufenden Fußgängerweg befand. Dieser war durch Betonpoller zur Straße hin abgegrenzt. Dabei erkannte er, dass der Zeuge      M.     mit dem Rücken zu ihm vor den Pollern auf der Straße stand, und beabsichtigte, diesen mit seinem Fahrzeug nicht unerheblich zu verletzen.      M.     wurde entweder durch Rufe von anwesenden Personen oder durch das Motorengeräusch des auf ihn zufahrenden Fahrzeugs aufmerksam und sprang, unmittelbar bevor es zu einer Kollision kam, hinter die Poller, wobei er eine neben ihm befindliche Mülltonne gleichzeitig schützend vor sich warf. Das von dem Angeklagten gelenkte Fahrzeug verfehlte ihn infolge seines Sprungs und streifte den ersten Poller mit einer Kollisionsgeschwindigkeit von mindestens 20 km/h und höchstens 33 km/h. Außerdem erfasste es frontal die Abfalltonne, deren Deckel dadurch abbrach und bei der ein Rad verkratzt wurde. Wäre      M.     nicht hinter die Poller gesprungen, wäre er von dem Fahrzeug des Angeklagten erfasst und wie von diesem beabsichtigt nicht unerheblich verletzt worden.

3Das Landgericht hat die Tat als gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 i.V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, §§ 22, 23 StGB bewertet und dabei den Taterfolg im Sinne des § 315b Abs. 1 StGB in der Gefährdung der körperlichen Integrität des Zeugen      M.     gesehen.

II.

4Diese Feststellungen belegen die für die Annahme einer vollendeten Tat nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB vorausgesetzte Herbeiführung einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder eine fremde Sache von bedeutendem Wert nicht.

51. Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der - was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist - die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (vgl. − 4 StR 454/13, NZV 2014, 184, 185; Beschluss vom - 4 StR 522/11, NStZ-RR 2012, 123, 124; Beschluss vom - 4 StR 373/09, Rn. 5 f.; sowie Beschluss vom - 4 StR 61/17, Rn. 6; und Urteil vom - 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131 ff., jeweils zu § 315c StGB).

62. Nach den dazu entwickelten Maßstäben genügen die Feststellungen des Landgerichts nicht den Anforderungen zur Darlegung einer konkreten Gefahr für die körperliche Integrität des Zeugen      M.     . Zwar hat die Strafkammer Feststellungen zu der gefahrenen Geschwindigkeit getroffen; den Urteilsgründen lässt sich aber nicht entnehmen, wie weit sich das Fahrzeug des Angeklagten dem Zeugen angenähert hatte, als dieser hinter den Poller sprang. Dass sich      M.     und das Fahrzeug des Angeklagten in räumlicher Nähe zueinander befanden und der Zeuge ohne sein Wegspringen erfasst worden wäre, genügt - insbesondere mit Blick auf die niedrige gefahrene Geschwindigkeit - insoweit nicht. Die vergleichsweise komplexe Abwehrreaktion des Zeugen, der noch eine Mülltonne schützend vor sich werfen konnte, spricht eher gegen das Vorliegen eines Beinahe-Unfalls. Verhielte es sich so, fehlte es insoweit an einer bereits eingetretenen konkreten Gefahr im Sinne des § 315b Abs. 1 StGB, und es käme deshalb nur eine Strafbarkeit wegen versuchten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr nach Absatz 2 der Vorschrift in Betracht.

73. Eine konkrete Gefahr für fremde Sachen von bedeutendem Wert hat das Landgericht nicht angenommen. Feststellungen zum Wert der beschädigten Abfalltonne und des Pollers sowie der Höhe des (drohenden) Schadens fehlen (vgl. dazu , NStZ-RR 2017, 123, 124 Rn. 11 mwN).

III.

8Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Aufhebung erfasst die tateinheitliche Verurteilung wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB, sowie den Straf- und Maßregelausspruch.

9Der neue Tatrichter wird zu beachten haben, dass Feststellungen zur subjektiven Tatseite mit einer entsprechenden Beweiswürdigung unterlegt sein sollten. Dies gilt auch für die Feststellungen zum Rücktritt und den dabei maßgeblichen Rücktrittshorizont. Im Fall einer erneuten Verurteilung nach § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 i.V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB bestimmt sich der Regelstrafrahmen nach § 315b Abs. 3 StGB und nicht nach § 315 Abs. 3 StGB. Außerdem sieht die Vorschrift einen zu erörternden minder schweren Fall vor.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2019:200319B4STR517.18.0

Fundstelle(n):
UAAAH-15401