BSG Beschluss v. - B 11 AL 79/17 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des rechtlichen Gehörs - kein Vertrauen in die Bewertung erster Instanz - richterliche Hinweispflicht - Überraschungsentscheidung - persönliche Auskunft des Beteiligten in der mündlichen Verhandlung - negative Beweiskraft der Sitzungsniederschrift

Gesetze: § 62 Halbs 2 SGG, § 122 SGG, § 128 Abs 2 SGG, § 153 Abs 4 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, Art 103 Abs 1 GG, § 165 S 1 ZPO

Instanzenzug: Az: S 32 AL 354/12vorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 18 AL 109/16 Urteil

Gründe

1I. Die als Rechtsanwältin zugelassene Klägerin war seit 2008 bei dem beigeladenen Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Brandenburg als Geschäftsführerin beschäftigt. Während dieser Tätigkeit war sie weiterhin als Rechtsanwältin tätig. Der Beigeladene kündigte "das Dienstverhältnis" mit Wirkung zum .

2Den Antrag auf Alg mit Wirkung zum lehnte die Beklagte ab, weil die Klägerin in den letzten zwei Jahren weniger als zwölf Monate versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Das SG hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Alg ab dem zu gewähren, weil sie bei dem Beigeladenen in der Zeit vom bis sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei (Urteil vom ). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom ). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der Senat habe keine für eine entsprechende Überzeugungsbildung hinreichenden Tatsachen festzustellen vermocht, aus denen sich herleiten lasse, dass die Klägerin ab arbeitslos gewesen sei, also die im streitgegenständlichen Zeitraum (weiterhin) ausgeübte Tätigkeit als niedergelassene Rechtsanwältin regelmäßig auf weniger als 15 Stunden beschränkt gewesen sei. Ihr Vorbringen hierzu sei bereits im erstinstanzlichen Verfahren unkonkret gewesen. Aus den zu den Gerichtakten gereichten Steuerbescheiden, nach deren Inhalt die Klägerin in den Jahren 2012 und 2013 aus ihrer anwaltlichen Tätigkeit augenscheinlich Verluste erzielt habe, sowie den eingereichten Kopien der Prozessregister ließen sich keine Rückschlüsse zur zeitlichen Inanspruchnahme durch die tatsächlich weiter ausgeübte Anwaltstätigkeit ziehen. Zu weitergehenden detaillierten Auskünften sei sie auch auf Befragen des Senats in der mündlichen Verhandlung unter Berufung auf ihre anwaltliche Schweigepflicht nicht bereit gewesen. Hinzu komme, dass die Klägerin gegenüber der Rechtsanwaltskammer erklärt habe, eine gutgehende Anwaltskanzlei in P. zu führen. Die objektive Nichtfeststellbarkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen gehe zulasten der Klägerin, die hieraus Rechte ableiten wolle.

3Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG rügt die Klägerin eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs. Es handele sich um eine Überraschungsentscheidung, mit der sie nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht hätte rechnen müssen. Nachdem das LSG gegenüber den Beteiligten angekündigt habe, die Berufung der Beklagten durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurückzuweisen (Schreiben vom ), habe sie nicht damit rechnen müssen, dass der Senat das Urteil des SG - mit entgegengesetzter Begründung - aufheben werde. Die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil, "zu weitergehenden detaillierten Auskünften war die Klägerin auch auf Befragen des Senats in der mündlichen Verhandlung … nicht bereit", seien objektiv unrichtig gewesen, weil sie in dem Termin nicht anwesend gewesen sei. Auf entsprechenden Hinweis des LSG hätte sie vorgetragen und Beweis dazu angeboten, dass in der Zeit ab keinesfalls eine Arbeit von mehr als 15 Wochenstunden angefallen sei.

4II. Die zulässige Beschwerde der Klägerin führt zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG. Der Entscheidung liegt der Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) zugrunde, auf dem die angefochtene Entscheidung auch beruhen kann.

5Gemäß § 62 Halbsatz 1 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. Der in Art 103 Abs 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in funktionalem Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates ( - BVerfGE 81, 123, 129; - NJW 2012, 2262). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Eng damit zusammen hängt das ebenfalls aus Art 103 Abs 1 GG folgende Verbot von "Überraschungsentscheidungen". Von einer solchen ist insbesondere auszugehen, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter - unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl - NJW 2012, 2262; - BVerfGE 84, 188, 190; - BVerfGE 86, 133, 144 f; - juris RdNr 47, 51; - juris RdNr 4 ff).

6Eine Verletzung dieser Grundsätze steht zur Überzeugung des Senats fest. Zwar konnte die Klägerin nicht davon ausgehen, dass die Anspruchsvoraussetzung der Arbeitslosigkeit vom Berufungsgericht in gleicher Weise wie vom SG beurteilt werde, weil ein Beteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte und Tatsachenwürdigungen von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag hierauf einstellen muss (Voelzke in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGG, § 160 RdNr 169, Stand ). Auch wenn die Klägerin - wie von ihr vorgetragen - aufgrund des Hinweises des auf eine vom gesamten Senat getragene Absicht zur Zurückweisung der Berufung der Beklagten zunächst davon ausgehen konnte, dass das Berufungsgericht die von ihr erstinstanzlich vorgelegten Unterlagen zur ihrer anwaltlichen Tätigkeit in gleicher Weise werten werde wie das SG, hat sich eine Änderung der Sachlage nach dem weiteren Schreiben des Berufungsgerichts an die Beteiligten vom ergeben. Nachdem das LSG mitgeteilt hatte, es sei nicht mehr beabsichtigt, durch Beschluss zu entscheiden, konnte die Klägerin nicht mehr annehmen, dass die im streitigen Zeitraum während der Arbeitslosigkeit weiterhin ausgeübte anwaltliche Tätigkeit nicht mehr Gegenstand der mündlichen Verhandlung beim LSG sein werde (vgl nur - BVerfGE 98, 218, 263 zu im Laufe der gerichtlichen Auseinandersetzung bereits vorgebrachten Argumenten).

7Eine Überraschungsentscheidung liegt aber darin begründet, dass das LSG die objektive Nichtfeststellbarkeit einer Arbeitslosigkeit ab ausdrücklich damit begründet hat, dass die Klägerin selbst - also nicht ihr in der mündlichen Verhandlung allein anwesender Prozessbevollmächtigter - auch auf Befragen des Senats in der mündlichen Verhandlung unter Berufung auf ihre anwaltliche Schweigepflicht zu weiteren detaillierten Auskünften nicht bereit gewesen sei. Mit diesem vom Senat zugrunde zu legenden Inhalt der Entscheidungsgründe des LSG musste ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter schon deshalb nicht rechnen, weil die Klägerin unstreitig an dem Termin zur mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hatte. Dies ergibt sich aus der negativen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift der mündlichen Verhandlung vor dem LSG (§ 122 SGG iVm § 165 Satz 1 ZPO), die entsprechend auch eine Anhörung der Klägerin als vorgeschriebene Förmlichkeit eines wesentlichen Vorgangs der Verhandlung (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 2 ZPO) nicht enthält ( - juris, RdNr 5; - juris, RdNr 14; - SozR 4-1500 § 62 Nr 19 RdNr 9).

8Der Annahme eines Verfahrensfehlers wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs steht auch nicht § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG entgegen, wonach die Revisionszulassung nicht auf eine Verletzung der freien Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden kann. Die freie Beweiswürdigung muss auf der Basis eines fairen Verfahrens unter Einhaltung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs erfolgen ( - SozR 4-1720 § 186 Nr 1). Dies ist hier nicht der Fall.

9Auch der Grundsatz, dass ein Beteiligter für eine erfolgreiche Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs alles getan haben muss, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen ( - SozR 4-1720 § 186 Nr 1), wirkt sich nicht zulasten der Klägerin aus. In der mündlichen Verhandlung vom , zu der ihr persönliches Erscheinen nicht angeordnet war, war sie durch ihren Prozessbevollmächtigten vertreten. Sie hat nicht damit rechnen können, dass das LSG eine tatsächlich nicht abgegebene persönliche Erklärung ihrerseits zur Grundlage einer ablehnenden Entscheidung macht. Insofern sind die Vorgaben des SGG zur Prozessführung zu beachten. Nach § 128 Abs 2 SGG darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Hierzu hat die Klägerin vorgetragen, dass die Beteiligten bis zum Schluss in dem Glauben gelassen worden seien, dass das LSG die Berufung aus den Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung zurückweisen werde. Entsprechend sind Hinweise auf diesbezügliche Mitwirkungspflichten der Klägerin und die negativen Folgen einer fehlenden Mitwirkung weder im Vorfeld der mündlichen Verhandlung erfolgt noch dem Sitzungsprotokoll (s zur negativen Beweiskraft des Sitzungsprotokolls bereits oben) zu entnehmen.

10Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf dem Gehörsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das LSG ohne den Verstoß anders entschieden hätte (vgl - NJW 2012, 2262, 2263). Die Klägerin hat dargelegt, welcher weitere Vortrag zu den in der Zeit ab bearbeiteten Mandatsfällen (elf neue Fälle in einem Jahr, davon vier die eigene Person betreffend) bei einem richterlichen Hinweis erfolgt wäre. Sie habe nur wenige, dazu nicht umfangreiche Vertretungen übernommen. Hierauf kann die angefochtene Entscheidung beruhen, weil das Berufungsgericht bei Annahme einer Arbeitslosigkeit der Klägerin zu einem Anspruch auf Alg gelangen könnte.

11Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Wegen der Erforderlichkeit weiterer Sachaufklärung macht der Senat von dieser ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.

12Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2018:130318BB11AL7917B0

Fundstelle(n):
HAAAG-80629