BGH Beschluss v. - 2 StR 111/17

Sexueller Übergriff: Strafrechtliche Beurteilung des Hinwegsetzens über den Willen einer widerstandsunfähigen Person nach neuem Recht; milderes Gesetz

Gesetze: § 2 Abs 3 StGB, § 177 Abs 1 StGB vom , § 177 Abs 2 Nr 1 StGB vom , § 177 Abs 2 Nr 2 StGB vom , § 177 Abs 4 StGB vom , § 179 StGB vom

Instanzenzug: Az: 4753 Js 7575/14 - 5 KLs

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.

2Die auf Verfahrensbeanstandungen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen geringen Teilerfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

I.

3Nach den Feststellungen des Landgerichts lernte der Angeklagte die in den Jahren 1991 bzw. 1994 geborenen Nebenkläger     D.   und     W.   , die beide unter einer leichten bis mittelschweren Intelligenzminderung leiden, im Zuge der Aufnahme einer Liebesbeziehung zur Mutter der Nebenklägerin im Jahre 2007 kennen.

4Ab dem Sommer 2010 kam es erst zum Nachteil der Nebenklägerin W.   , ab dem Jahre 2012 auch zum Nachteil des Nebenklägers D.    zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten, die bis April 2013 andauerten. Beide Nebenkläger wollten diese sexuellen Kontakte nicht. Aufgrund der jeweils vorliegenden Intelligenzminderung und den damit einhergehenden geistigen Einschränkungen waren sie jedoch nicht in der Lage, die sexuellen Handlungen des Angeklagten abzuwehren. Der Angeklagte, der um die jeweils vorliegende geistige Behinderung der beiden Nebenkläger wusste, nutzte diese Defizite in der Willensdurchsetzungsfähigkeit bei beiden Nebenklägern gezielt zur Tatbegehung aus. Innerhalb des maßgeblichen Tatzeitraums konnte die Kammer folgende drei Taten des Angeklagten feststellen:

51. Im Sommer 2010 entkleidete der Angeklagte in seiner Wohnung die Nebenklägerin W.   . Sodann führte er seinen Mittelfinger in die Scheide der Nebenklägerin ein und bewegte ihn vor und zurück. Im Anschluss veranlasste der Angeklagte die Nebenklägerin W.   dazu, sein erigiertes Glied mit der Hand zu ergreifen und zu reiben (Fall II.1. der Urteilsgründe).

62. Am veranlasste der Angeklagte in seiner Wohnung die Nebenkläger W.   und D.   dazu, mehrfach den ungeschützten Beischlaf bis zum Samenerguss des Nebenklägers D.   in die Scheide der Nebenklägerin W.   auszuüben. Der Angeklagte filmte das Geschehen und gab den Nebenklägern mehrfach Anweisungen im Hinblick auf die Beischlafhandlungen. Im Anschluss penetrierte der Angeklagte die Nebenklägerin W.    mit einem „Dildo“, den der Nebenkläger D.   auf Verlangen des Angeklagten in die Scheide der Nebenklägerin W.   eingeführt hatte. Überdies setzte der Angeklagte während des Tatgeschehens eine sogenannte „Penispumpe“ am Glied des Nebenklägers D.   und am Busen der Nebenklägerin W.   ein (Fall II.2. der Urteilsgründe).

73. Um die Weihnachtszeit im Jahre 2012 hielten sich die Nebenkläger W.   und D.   erneut in der Wohnung des Angeklagten auf. An einem Morgen legte sich der Angeklagte zu den beiden Nebenklägern ins Bett. Sodann führte er seinen Finger in die Scheide der Nebenklägerin W.  ein und bewegte ihn vor und zurück. Im Anschluss begab sich der Angeklagte mit dem Nebenkläger D.   ins Badezimmer und führte an ihm - in sexuell motivierter Absicht - eine Intimrasur durch (Fall II.3. der Urteilsgründe).

8Dem Angeklagten war bei allen festgestellten Taten bewusst, dass beide Nebenkläger mit den vorgenommenen sexuellen Handlungen nicht einverstanden waren. Er nutzte bei der Tatbegehung jeweils aus, dass die Nebenkläger ihren entgegenstehenden artikulierten Willen auf Grund ihrer geistigen Behinderung nicht durchsetzen und infolgedessen die sexuellen Handlungen nicht abwehren konnten.

II.

91. Die Verfahrensrügen haben aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen keinen Erfolg.

102. Die Sachrüge führt zu einer Schuldspruchänderung bezüglich Fall II.1. der Urteilsgründe und zur Aufhebung des diesbezüglichen Einzelstrafausspruchs sowie des Ausspruchs über die Gesamtstrafe.

11Die Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen nach § 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1 StGB in der bis geltenden Fassung kann im Fall II.1. der Urteilsgründe nicht bestehen bleiben, da die durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom (BGBl. I 2460) neu gestaltete Vorschrift des § 177 StGB bei der gebotenen konkreten Betrachtungsweise gemäß § 2 Abs. 3 StGB hier als mildestes Gesetz anzuwenden ist.

12a) Nach § 179 Abs. 1 StGB in der bis zum geltenden Fassung machte sich strafbar, wer eine Person, die zum Widerstand unfähig ist, dadurch missbraucht, dass er unter Ausnutzung der Widerstandsunfähigkeit sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt. Widerstandsunfähigkeit im Sinne dieser Vorschrift setzt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs voraus, dass das Opfer - zumindest vorübergehend - unfähig ist, einen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen gegen das sexuelle Ansinnen des Täters zu bilden, zu äußern oder durchzusetzen. Die Feststellung der Widerstandsunfähigkeit erfordert eine normative Entscheidung, die der Tatrichter auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung zu treffen hat, in die auch das aktuelle Tatgeschehen und etwaige Beeinträchtigungen des Tatopfers durch die Tatsituation infolge Überraschung, Schreck oder Schock einzubeziehen sind (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom - 2 StR 662/88, BGHSt 36, 145, 147; , NStZ 1998, 83; Beschluss vom - 4 StR 338/11, NStZ 2012, 150; Urteil vom - 1 StR 394/14, NStZ-RR 2015, 44, 45; Beschluss vom - 4 StR 366/16, NStZ-RR 2017, 240, 241).

13Das Landgericht ist - sachverständig beraten - aufgrund einer umfassenden Gesamtbetrachtung rechtsfehlerfrei zu der Überzeugung gelangt, dass die Nebenkläger W.   und D.   wegen des Ausmaßes ihrer geistigen Behinderung insoweit widerstandsunfähig waren, als sie zwar in der Lage waren, einen den sexuellen Handlungen entgegenstehenden Willen zu bilden und zu äußern, diesen Willen jedoch gegenüber dem Angeklagten bei den Taten nicht durchsetzen konnten.

14Angesichts des in Fall II.1. der Urteilsgründe festgestellten Eindringens des Mittelfingers des Angeklagten in die Scheide der Nebenklägerin W.   hat das Landgericht den Qualifikationstatbestand des § 179 Abs. 5 Nr. 1 StGB aF angenommen und ist im Rahmen der Strafzumessung von einem minder schweren Fall des schweren sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen gemäß § 179 Abs. 6 StGB aF ausgegangen, der einen Strafrahmen von einem Jahr bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vorsieht.

15Zugleich hat das Landgericht rechtsfehlerfrei begründet, dass bei Anwendung der Neuregelung des § 177 StGB von der Regelwirkung des Absatzes 6 Satz 2 Nr. 1 aufgrund der mildernden Gesamttatumstände abzusehen wäre und eine darüber hinaus gehende Annahme eines minder schweren Falles nach § 177 Abs. 9 StGB nF nicht in Betracht käme. Nach Auffassung des Landgerichts verbliebe es deshalb beim Strafrahmen des Qualifikationstatbestandes des § 177 Abs. 4 StGB nF, der Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu 15 Jahren vorsieht. Dieser Strafrahmen stelle gegenüber der Altvorschrift des minder schweren Falles aus § 179 Abs. 6 StGB aF nicht das mildere Gesetz dar, womit auch die Tat im Fall II.1. der Urteilsgründe nach § 179 StGB aF - vorliegend mit einer Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten - zu ahnden sei.

16b) Diese Wertung des Landgerichts zur Bestimmung und Anwendung des mildesten Gesetzes im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB hält revisionsrechtlicher Überprüfung im Fall II.1. der Urteilsgründe nicht stand.

17Mit dem am in Kraft getretenen Fünfzigsten Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom hat der Gesetzgeber die Vorschrift des § 179 StGB aF aufgehoben und mit dem neu gefassten § 177 StGB nF eine einheitliche Norm zur Erfassung sexueller Übergriffe auf Menschen mit und ohne Behinderung geschaffen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, BT-Drucks. 18/9097, S. 2 und S. 21). Die neu gefasste Vorschrift des § 177 StGB nF enthält in den Absätzen 1, 2 Nrn. 1 und 2 sowie in Absatz 4 Nachfolgeregelungen zu § 179 StGB aF, die hinsichtlich des geschützten Rechtsguts und der unter Strafe stehenden Angriffsrichtung unverändert geblieben sind und damit grundsätzlich einen identischen Unrechtskern aufweisen (vgl. , NStZ 2017, 407; Beschluss vom - 4 StR 366/16, NStZ-RR 2017, 240, 241).

18Da die Tatbestände des § 177 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 StGB nF sowie die Qualifikationsvorschrift des § 177 Abs. 4 StGB nF ausschließlich an die Fähigkeit zur Bildung und Äußerung eines entgegenstehenden Willens anknüpfen, wird die nach altem Recht unter den Begriff der Widerstandsunfähigkeit subsumierte Unfähigkeit, einen Abwehrwillen gegenüber dem Täter durchzusetzen, von diesen Normen des neuen Rechts aber nicht erfasst. Das Hinwegsetzen über den artikulierten entgegenstehenden Willen des Tatopfers unterfällt vielmehr unabhängig von einer zustandsbedingten habituellen Unfähigkeit zur Durchsetzung des Willens lediglich dem Grundtatbestand des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB nF (vgl. , NStZ-RR 2017, 240, 241; Beschluss vom - 4 StR 345/17, juris; Fischer, StGB, 65. Aufl., § 177 Rn. 20; MünchKomm-StGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 177 nF Rn. 60, 69). Der Strafrahmen des neuen Grundtatbestands des § 177 Abs. 1 StGB nF, der Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vorsieht, enthält damit eine deutlich niedrigere Strafandrohung als sämtliche Strafrahmen der Altvorschrift des § 179 StGB aF.

19c) Gemessen hieran ist nach neuem Recht im Fall II.1. der Urteilsgründe unter Berücksichtigung des Zustands der Nebenklägerin W.   zunächst lediglich der Grundtatbestand des § 177 Abs. 1 StGB nF gegeben. Da das Landgericht mit nicht zu beanstandenden Erwägungen ein Abweichen von der Regelwirkung des an sich verwirklichten besonders schweren Falles aus § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nF angenommen und zugleich einen minder schweren Fall nach § 177 Abs. 9 StGB nF abgelehnt hat, verbleibt es beim Grundtatbestand des § 177 Abs. 1 StGB nF, der nach § 2 Abs. 3 StGB als mildestes Gesetz anzuwenden ist.

20aa) In Anwendung des mildesten Gesetzes in seiner Gesamtheit (vgl. hierzu , BGHSt 59, 271, 275; Beschluss vom - 3 StR 167/14, wistra 2015, 148, 150) ändert der Senat im Fall II.1. der Urteilsgründe den Schuldspruch auf eine Verurteilung wegen Vergewaltigung ab. Dass das Landgericht angesichts der Milderungsgründe von der Indizwirkung des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nF - trotz Verwirklichung des Regelbeispiels - abgewichen ist, ändert nichts an der Bezeichnung der Tat als Vergewaltigung in der Urteilsformel (vgl. , BGHR StGB § 177 Abs. 2 Strafrahmenwahl 13; Beschluss vom - 3 StR 90/01, juris; BGH bei Pfister NStZ-RR 2000, 353, 357 mwN). Der Schuldspruchänderung steht § 265 StPO nicht entgegen.

21bb) Da der Senat nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen kann, dass der Tatrichter bei Zugrundelegung des milderen Strafrahmens aus § 177 Abs. 1 StGB nF eine niedrigere Strafe im Fall II.1. der Urteilsgründe verhängt hätte, ist der Ausspruch über die Einzelstrafe und in der Folge über die Gesamtstrafe aufzuheben. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen bleiben aufrechterhalten.

223. Soweit sich das Rechtsmittel gegen die Verurteilung im Übrigen richtet, bleibt es ohne Erfolg.

23In den Fällen II.2. und II.3. der Urteilsgründe ist - bei der gebotenen konkreten Betrachtungsweise - die seit dem geltende Neuregelung des § 177 StGB gegenüber der vom Landgericht angewandten Vorschrift des § 179 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Nr. 1 StGB aF kein milderes Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB.

24Das Landgericht hat angesichts der Gesamttatumstände in den Fällen II.2. und II.3. der Urteilsgründe, in denen der Angeklagte sexuelle Handlungen zum Nachteil beider Nebenkläger vorgenommen hat, rechtsfehlerfrei sowohl die Annahme eines minder schweren Falles gemäß § 179 Abs. 6 StGB aF als auch ein Abweichen von der Indizwirkung des verwirklichten Regelbeispiels aus § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB nF abgelehnt. Der vom Landgericht folgerichtig zugrunde gelegte Strafrahmen aus § 179 Abs. 5 StGB aF, der Freiheitsstrafe von zwei bis zu 15 Jahren vorsieht, entspricht damit dem Strafrahmen des besonders schweren Falles aus § 177 Abs. 6 Satz 1 StGB nF. Da die neue Vorschrift bei dieser nicht zu beanstandenden Betrachtungsweise kein milderes Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB darstellt, hat das Landgericht beide Taten im Ergebnis zutreffend nach § 179 StGB aF strafrechtlich geahndet.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2017:081117B2STR111.17.0

Fundstelle(n):
EAAAG-78933