BFH Urteil v. - VI R 19/01

Gründe

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) beantragte am für das nach seiner Erklärung im Februar 1996 geborene Kind Kindergeld. Das Arbeitsamt -Familienkasse- (Beklagter und Revisionsbeklagter —Familienkasse--) lehnte den Antrag unter dem Datum des mit der Begründung ab, es fehlten Nachweise zur Staatsangehörigkeit, zur Aufenthaltserlaubnis und zum Aufenthalt des Kindes. Den dagegen mit Schreiben vom eingelegten Einspruch verwarf die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom wegen Versäumung der Einspruchsfrist. Die vom Kläger unter Hinweis auf seine schweren Erkrankungen begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lehnte die Familienkasse ab. Für die dagegen im September 1997 erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) dem Kläger Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung von Rechtsanwalt F bewilligt.

Das FG wies die Klage mit Urteil vom ab. Sie sei nicht ordnungsgemäß i.S. des § 65 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erhoben und daher unzulässig. Der Kläger, der im Klageverfahren seinen tatsächlichen Wohnort vor dem Gericht bewusst geheim gehalten habe und gegen den ein Haftbefehl bestehe, sei nicht hinreichend im Sinne dieser Vorschrift bestimmt. Auch im Falle einer Prozessvertretung sei an dem Erfordernis der Angabe der ladungsfähigen Anschrift zumindest in den Fällen festzuhalten, in denen das Gericht der Kenntnis des tatsächlichen Wohnorts eine für die weitere Prozessführung entscheidende Rolle beimesse und dieser Umstand dem Kläger bzw. seinem Prozessbevollmächtigten bekannt gegeben sei (Hinweis auf , BFH/NV 1997, 585). Darüber hinaus wäre die Klage auch nicht begründet. Der Kläger habe die anspruchsbegründenden Voraussetzungen der §§ 62, 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht nachgewiesen. Das FG habe sich keine ausreichende Überzeugung davon bilden können, dass das Kind existiere und die Tochter des Klägers sei.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das FG habe ihn zu Unrecht als prozessfähig behandelt. Wegen fehlender Prozessfähigkeit sei er während des finanzgerichtlichen Verfahrens nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen. Es fehle bereits an einer ordnungsgemäßen Bekanntgabe des Ablehnungsbescheids und der Einspruchsentscheidung. Ferner habe das FG zu Unrecht angenommen, der Kläger sei nicht hinreichend i.S. des § 65 Abs. 1 FGO bezeichnet.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das aufzuheben.

Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Unabhängig davon, ob der Kläger geschäfts- und prozessunfähig sei, bzw. seinen Aufenthalt verheimliche, sei die Revision unbegründet. Zur Festsetzung von Kindergeld benötige die Familienkasse zwingend die Geburtsurkunde des Kindes. Der Kläger habe nicht nachgewiesen, dass das Kind, für das er Kindergeld fordere, überhaupt existiere. Zudem erscheine nicht glaubhaft, dass ein Kind bei dem (angeblich) geschäftsunfähigen Kläger lebe.

II. Die Revision ist zulässig und begründet. Das Urteil des FG war aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Der Zulässigkeit der Revision steht eine mögliche Prozessunfähigkeit des Klägers nicht entgegen. Für den Streit um seine Prozessfähigkeit (Zulassungsstreit) gilt der Beteiligte als prozessfähig, und zwar bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Frage der Prozessfähigkeit (vgl. , BFHE 90, 336, BStBl II 1968, 95; vom V R 36/84, BFH/NV 1990, 386; vgl. auch , Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 1993, 2944, m.w.N.; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 58 FGO Rz. 21). Er kann daher auch Rechtsmittel gegen eine Entscheidung einlegen, mit der er nach seiner Auffassung zu Unrecht als prozessfähig beurteilt worden ist ( IV b ZR 10/85, NJW 1986, 3211; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 FGO Rz. 21). Selbst wenn der Kläger im Streitfall prozessunfähig sein sollte, ist seine Revision deshalb zulässig.

2. Das FG hat zu Unrecht angenommen, der Kläger sei nicht hinreichend i.S. des § 65 Abs. 1 FGO bezeichnet, weil er seinen tatsächlichen Aufenthaltsort geheim gehalten hat.

a) Die ordnungsgemäße Klageerhebung erfordert zwar regelmäßig die Bezeichnung des Klägers unter Angabe seiner ladungsfähigen Anschrift (d.h. des tatsächlichen Wohnorts). Die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift ist jedoch dann nicht Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Anfechtungsklage, wenn der Kläger sich bei Nennung der Anschrift der konkreten Gefahr einer Verhaftung aussetzen würde. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Identität des Klägers feststeht und die Möglichkeit der Zustellung durch einen Zustellungs- oder Prozessbevollmächtigten sichergestellt ist (, BFHE 193, 52, BStBl II 2001, 112; Abgrenzung zum BFH-Urteil in BFH/NV 1997, 585).

b) Danach ist der Kläger im Streitfall hinreichend i.S. des § 65 Abs. 1 FGO bezeichnet. Da nach den Feststellungen des FG gegen den Kläger ein Haftbefehl besteht, würde sich der Kläger durch die Nennung seines tatsächlichen Aufenthalts der Gefahr seiner Verhaftung aussetzen. Dagegen unterliegt die Identität des Klägers keinem Zweifel. Auch die Zustellung des Schriftverkehrs ist durch die Bestellung eines Prozessbevollmächtigten sichergestellt, dessen Kontakt mit dem Kläger offenbar funktioniert. Der Mitteilung des tatsächlichen Aufenthaltsorts des Klägers bedarf es schließlich auch nicht im Hinblick auf eine mögliche Kostentragungspflicht, da dem Kläger PKH ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt worden ist. Falls der Kläger beabsichtigen sollte, nicht selbst vor dem FG zu erscheinen, mag darin zwar eine Verletzung der Mitwirkungspflicht liegen, die die Erfolgschancen seiner Klage mindert. Damit verliert der Kläger jedoch nicht schlechthin sein Interesse an einer gerichtlichen Überprüfung der in Rede stehenden Entscheidungen der Familienkasse.

3. Die Sache ist nicht spruchreif. Es bestehen Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers.

a) Wegen ihrer Bedeutung als Prozessvoraussetzung (Sachentscheidungsvoraussetzung) und als Prozesshandlungsvoraussetzung ist die Prozessfähigkeit in allen finanzgerichtlichen Verfahren zu beachten; sie ist in jeder Verfahrenslage und in jedem Rechtszug von Amts wegen zu prüfen (vgl. Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 FGO Rz. 6 und 8). Bei fehlender Prozessfähigkeit des Klägers ist das Gericht gehindert, zur Sache zu verhandeln und zu entscheiden. Die von einem oder für einen Prozessunfähigen erhobene Klage ist durch Prozessurteil als unzulässig abzuweisen (vgl. , BGHZ 110, 296; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 Rz. 13). Wird die Prozessunfähigkeit eines Beteiligten, die bereits im finanzgerichtlichen Verfahren vorlag, erst im Revisionsverfahren festgestellt, darf die Revision nicht als unzulässig verworfen werden; die Sache ist vielmehr durch Prozessurteil zur erneuten Verhandlung an das FG zurückzuverweisen (, BFHE 105, 230, BStBl II 1972, 541; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 FGO Rz. 35).

b) Insbesondere bei krankhafter Querulanz oder auch bei Wahnvorstellungen kann eine nach bürgerlichem Recht weder geschäftsunfähige noch beschränkt geschäftsfähige Person gleichwohl partiell geschäftsunfähig und somit partiell prozessunfähig sein. Die Grenze zwischen rechthaberischer Verbohrtheit und krankhafter Querulanz ist allerdings fließend (vgl. Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 FGO Rz. 41). Liegen entsprechende konkrete Anhaltspunkte vor, muss das Prozessgericht sich im Einzelfall von der Prozessfähigkeit des Beteiligten —ggf. durch Einholung eines Sachverständigengutachtens— überzeugen (vgl. , NJW 1983, 996; , BVerwGE 30, 24; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 58 FGO Rz. 41).

c) Das Revisionsgericht unterliegt bei der Überprüfung der Frage, ob der Kläger prozessfähig ist, keinen Beschränkungen. Insoweit darf der BFH auch neue Tatsachen feststellen und berücksichtigen (, BFHE 123, 286, BStBl II 1978, 11; vom II R 96/75, BFHE 123, 437, BStBl II 1978, 70; vom II R 5/84, BFHE 146, 27, BStBl II 1986, 462; Lange in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, a.a.O., § 118 FGO Rz. 178). Dabei steht ihm allerdings ein Ermessen zu, ob es selbst Beweise erhebt oder zur Klärung zurückverweist. Die Ausübung dieses Ermessens hat sich an der Prozessökonomie auszurichten. Dabei sind weitere Prozessverzögerungen (Verfahrenskosten, Sachnähe und voraussichtliche Aufklärung) abzuwägen gegen die Hauptaufgabe des Revisionsgerichts, Rechtsfragen zu entscheiden (vgl. dazu auch , BFHE 145, 299, BStBl II 1986, 268).

d) Im Streitfall sind konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Kläger prozessunfähig sein könnte. Verschiedene Gerichte haben bereits Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers geäußert bzw. diese verneint. Der Senat hält es jedoch nicht für zweckmäßig, dass er selbst die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zur Prozessfähigkeit des Klägers trifft und Beweise erhebt. Die Prozessökonomie gebietet im Streitfall, dass das FG die Prozessfähigkeit bzw. Prozessunfähigkeit des Klägers feststellt.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2002 S. 651 Nr. 5
ZAAAA-68608