Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute und wurden für das Streitjahr 1994 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie erzielen Einkünfte aus Gewerbebetrieb, aus nichtselbständiger Arbeit und aus Vermietung und Verpachtung. Wegen Nichtabgabe bzw. verspäteter Abgabe der Einkommensteuererklärungen kam es verschiedentlich zu Schätzungen der Besteuerungsgrundlagen, so auch für das Streitjahr 1994. Der Einkommensteuerbescheid vom wurde mit einfachem Brief an den Prozessbevollmächtigten, den Zustellungsbevollmächtigten der Kläger, versandt. Die Einkommensteuererklärung für 1994 reichten die Kläger am beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) ein. Nachdem das FA dem Prozessbevollmächtigten mitgeteilt hatte, dass die Rechtsbehelfsfrist abgelaufen sei, behauptete dieser mit Schreiben vom , noch am Tag des Eingangs des Schätzungsbescheids () Einspruch eingelegt zu haben. Er fügte eine Kopie des Einspruchsschreibens bei und führte aus, Aussetzung der Vollziehung des Bescheids sei nicht beantragt worden, da dann das FA auf der Einreichung der Steuererklärungen bestanden hätte. Nach dem später vorgelegten Fragment einer Kopie aus dem Postausgangsbuch seines Büros soll ein ”Einspruch X 1994” an den Empfänger ”Finanzamt A” am eingeworfen worden sein. Der Prozessbevollmächtigte erklärte ferner, es sei ihm aus datenrechtlichen Gründen nicht möglich, das gesamte Postausgangsbuch seines Büros zu kopieren. Später legte der Prozessbevollmächtigte der Kläger dem FA das Postausgangsbuch im Original vor, lehnte jedoch die Fertigung von Kopien hieraus durch das FA ab.
Mit Entscheidung vom verwarf das FA den Einspruch gegen den Schätzungsbescheid für 1994 wegen Fristversäumnis als unzulässig. Das Einspruchsschreiben vom sei nicht fristgerecht eingegangen. Die Übersendung der Steuererklärung, die das FA als Einspruchseinlegung wertete, sei verspätet. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 der Abgabenordnung (AO 1977) könne nicht gewährt werden. Der Sachvortrag, am sei ein Einspruchsschreiben gefertigt und am gleichen Tag in den Hausbriefkasten des FA eingeworfen worden, reiche nicht aus. Das Postausgangsbuch sei so geführt, dass spätere Eintragungen oder Einfügungen nicht ausgeschlossen seien. Der Einwurf des umstrittenen Einspruchsschreibens sei im Postausgangsbuch in der letzten Zeile zum eingetragen worden, an etlichen anderen Tagen sei diese Zeile hingegen freigeblieben. Es sei nicht auszuschließen, dass die Eintragung zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt worden sei. Andere Mittel der Glaubhaftmachung hätten weder die Kläger noch der Prozessbevollmächtigte genutzt, obwohl ihnen hierzu Gelegenheit gegeben worden sei.
Im Klageverfahren legten die Kläger eine eidesstattliche Erklärung ihres Prozessbevollmächtigten vor, wonach dieser am gegen 19 Uhr das Einspruchsschreiben persönlich in den Hausbriefkasten des FA eingeworfen habe. Sie trugen weiter vor, das FA habe sich am telefonisch beim Prozessbevollmächtigten gemeldet und nachgefragt, ob Aussetzung der Vollziehung der Steuernachzahlung beantragt werde. Diese Aussagen bestätigte der Prozessbevollmächtigte bei seiner Zeugeneinvernahme durch den Berichterstatter beim Finanzgericht (FG). Er wies darauf hin, dass die Leerzeilen im Postausgangsbuch entgegen seinen Weisungen belassen worden seien. Hiermit stimmt die Aussage der ebenfalls vom Berichterstatter vernommenen Zeugin F, einer Mitarbeiterin des Prozessbevollmächtigten, überein. Sie erklärte ferner, die Eintragung in der letzten Zeile des (”Einspruch X 1994”) sei nicht nachträglich vorgenommen worden.
Das FA trug vor, beim FA B sei etwa ein halbes Dutzend mal darüber zu entscheiden gewesen, dass der Prozessbevollmächtigte der Kläger behauptete, er selbst habe ein Einspruchsschreiben eingeworfen, dieses aber unauffindbar gewesen sei. Beim FG sei unter dem Aktenzeichen 4 K 2860/96 ein vergleichbarer Fall entschieden worden. Aus dem dazu ergangenen Urteil ergebe sich, dass das FG die Eintragungen im Postausgangsbuch des Prozessbevollmächtigten der Kläger als jedenfalls für das Streitjahr 1993 ”unwahrscheinlich” beurteilt habe. Das FA —ebenso der Prozessvertreter der Kläger— beantragte die Beiziehung der FG-Akten. Ferner wies das FA auf ein Verfahren ”4 K 2807” hin, in welchem der Eingang einer Klage beim FA strittig sei. Darüber hinaus sei ein außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren geführt worden, in dem der tatsächliche Posteingang erheblich später als im Postausgangsbuch des Prozessbevollmächtigten der Kläger dokumentiert worden sei. Beim FA C seien ebenfalls mehrere Fälle bekannt geworden, in denen die Eintragungen im Postausgangsbuch des Klägervertreters nicht mit dem Eingang der Schreiben beim FA übereinstimmten. Das FA wies darauf hin, dass hierfür —falls erforderlich— Zeugen benannt werden könnten.
Das FG hob in der Besetzung mit fünf Richtern (§ 5 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) durch Zwischenurteil die Einspruchsentscheidung auf und stellte fest, dass der Einspruch der Kläger gegen den Schätzungsbescheid vom rechtzeitig am beim FA eingegangen sei. Unter Würdigung der Zeugenaussagen bezweifelte es das Vorbringen der Kläger nicht, ihr Prozessbevollmächtigter habe den Einspruch rechtzeitig in den Hausbriefkasten des FA geworfen, ohne sich mit den Einwänden des FA auseinanderzusetzen. Über den Antrag des FA, die FG-Akte 4 K 2860/96 beizuziehen, wurde nicht entschieden.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung von Verfahrensrecht.
Das FA beantragt, das Zwischenurteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage als unbegründet abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Das FG hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt und dadurch gegen § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen.
Die Rüge, das finanzgerichtliche Urteil beruhe auf einem Verstoß gegen den Untersuchungsgrundsatz, greift durch.
Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es ist dabei an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO). Das gilt aber nur in dem Sinne, dass das FG von sich aus auch Beweise erheben kann, die von den Parteien nicht angeboten sind (vgl. , BFH/NV 1989, 38). Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das FG grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will. Auf die beantragte Beweiserhebung kann es im Regelfall nur verzichten, wenn es auf das Beweismittel für die Entscheidung nicht ankommt oder das Gericht die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsachen zugunsten der betreffenden Parteien unterstellt oder das Beweismittel nicht erreichbar ist (vgl. , BFH/NV 1996, 757, m.w.N.).
Das FG hat die Beweisanträge des FA zu Unrecht übergangen. Wie sich bereits aus § 86 FGO ergibt, stellen auch Akten Urkunden und somit Beweismittel i.S. von § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO dar (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 81 FGO Rz. 17 und 27). Die Beweisanträge waren hinreichend substantiiert; soweit das Aktenzeichen eines FG-Verfahrens vom FA unvollständig angegeben wurde, hätte das FG auf eine Vervollständigung hinwirken müssen. Zwar bezogen sich die Beweisanträge auf Hilfstatsachen. Diese Indizien sollten aber Rückschlüsse auf die Qualität der Beweismittel, denen das FG entscheidende Bedeutung beigemessen hat, ermöglichen. Durch die Beweisanträge des FA ausgelöste Zweifel an der Qualität der Beweismittel hätten die Entscheidung des FG beeinflussen können (vgl. , Neue Juristische Wochenschrift 1993, 1391), zumal die Kläger die Feststellungslast dafür tragen, dass die Rechtsbehelfsschrift rechtzeitig in den Hausbriefkasten des FA eingeworfen wurde (vgl. , BFH/NV 1999, 585). Das FG war daher verpflichtet, von Amts wegen Zweifel an der Qualität der Beweismittel, die sich ihm nach dem Vortrag des FA aufdrängen mussten, abzuklären.
Der Hinzuziehung der Akten stand auch nicht das Steuergeheimnis (§ 30 AO 1977) entgegen. Da die FG-Akten Hinweise auf die Qualität der erhobenen Beweise ermöglichen können, ist nach § 30 Abs. 4 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a AO 1977 die Offenbarung zulässig. Die Offenbarung dient der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens in Steuersachen, auch wenn es —wie hier— das Verfahren eines anderen Steuerpflichtigen betrifft (Metzner in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 30 AO 1977 Rz. 68; Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 30 Rz. 71).
Wegen des zu Recht gerügten Verfahrensmangels geht die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Als Revisionsgericht ist der BFH auf die Prüfung des Verfahrensfehlers beschränkt, wenn ein solcher geltend gemacht wird und durchgreift (, BFHE 162, 534, BStBl II 1991, 242, unter II. Nr. 5 der Gründe). Das FG wird auch zu prüfen haben, ob —unter Durchbrechung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit— die Voraussetzungen für die Beweisaufnahme durch den ”verordneten” Richter vorliegen (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 81 Rz. 8 und 15).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil des FG vorbehalten (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 143 Rz. 2 a.E.).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2001 S. 611 Nr. 5
RAAAA-66483