BFH Beschluss v. - VI B 58/16

Revisionszulassung wegen einer greifbar gesetzeswidrigen Entscheidung - Darlegung des Zulassungsgrundes der Rechtsfortbildung - Grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO

Leitsatz

1. Greifbare Gesetzwidrigkeit ist anzunehmen, wenn das FG eine offensichtlich einschlägige entscheidungserhebliche Vorschrift übersehen hat oder sein Urteil jeglicher gesetzlichen Grundlage entbehrt bzw. auf einer offensichtlich Wortlaut und Gesetzeszweck widersprechenden Gesetzesauslegung beruht.

2. Eine Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1) kommt in Betracht, wenn über bisher ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden ist; insbesondere dann, wenn der Einzelfall im allgemeinen Interesse Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen. Voraussetzung hierfür ist u.a., dass die Rechtsfortbildung im Allgemeininteresse liegt und die herausgestellte Rechtsfrage klärungsbedürftig ist. Zur Klärungsbedürftigkeit muss der Beschwerdeführer substantiiert ausführen, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Rechtsfrage zweifelhaft und umstritten ist.

3. Für die Beurteilung des groben Verschuldens i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO kommt es auf die persönlichen Umstände, Fähigkeiten und Kenntnisse des Steuerpflichtigen und die besonderen Umstände des Einzelfalles an, so dass das Verhalten eines weniger gewandten Steuerpflichtigen anders beurteilt wird als das des gewandten und erfahrenen. Ob ein Beteiligter in diesem Sinne grob fahrlässig gehandelt hat, ist im Wesentlichen eine Tatfrage. Von fachkundigen Steuerpflichtigen und auch von steuerlich beratenden Personen wird ein höherer Grad an Sorgfalt hinsichtlich der von ihnen zu erwartenden Kenntnis und sachgemäßen Anwendung der steuerrechtlichen Vorschriften verlangt.

Gesetze: FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 1, AO § 173 Abs 1 Nr 2, FGO § 116 Abs 3 S 3, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2

Instanzenzug:

Gründe

1 Die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist unbegründet und daher durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen entweder nicht vor oder sind schon nicht den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechend dargelegt.

2 1. Die Zulassung der Revision ist nicht deshalb zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten, weil die angefochtene Entscheidung greifbar gesetzwidrig oder gar willkürlich wäre.

3 a) Zwar ist die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO auch dann zuzulassen, wenn ein Rechtsfehler des Finanzgerichts (FG) zu einer willkürlichen oder greifbar gesetzwidrigen Entscheidung geführt hat, die angefochtene Entscheidung mithin an einem qualifizierten Rechtsfehler leidet, der im allgemeinen Interesse einer Korrektur durch das Revisionsgericht bedarf. Die Entscheidung des FG muss dabei jedoch in einem solchen Maße fehlerhaft sein, dass das Vertrauen in die Rechtsprechung nur durch eine höchstrichterliche Korrektur der finanzgerichtlichen Entscheidung wiederhergestellt werden könnte (ständige Rechtsprechung, z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom X B 184/12, BFH/NV 2013, 1257, und vom III B 40/12, BFH/NV 2013, 222).

4 Greifbare Gesetzwidrigkeit ist anzunehmen, wenn das FG eine offensichtlich einschlägige entscheidungserhebliche Vorschrift übersehen hat (vgl. , BFH/NV 2003, 1597) oder sein Urteil jeglicher gesetzlichen Grundlage entbehrt bzw. auf einer offensichtlich Wortlaut und Gesetzeszweck widersprechenden Gesetzesauslegung beruht (z.B. BFH-Beschlüsse vom III B 128/04, BFH/NV 2006, 1116, und vom X B 121/08, BFH/NV 2009, 890).

5 Eine Entscheidung ist dann (objektiv) willkürlich, wenn die fehlerhafte Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (z.B. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2006, 1116, und in BFH/NV 2009, 890). Von Willkür kann dagegen nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandergesetzt hat und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt (z.B. BFH-Beschlüsse vom IV B 79, 80/01, BFHE 196, 30, BStBl II 2001, 837, und vom XI B 68/08, BFH/NV 2009, 975; vgl. auch Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts —BVerfG— vom 1 BvR 1243/88, BVerfGE 87, 273, 278 f.; vom 1 BvR 208/93, BVerfGE 89, 1, 13 f., und , BVerfGE 96, 189, 203).

6 Unterhalb dieser Schwelle liegende, auch erhebliche Rechtsfehler reichen nicht aus, um eine greifbare Gesetzwidrigkeit oder gar eine Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung anzunehmen (vgl. zusammenfassend , BFH/NV 2012, 1462, Rz 20, m.w.N.). Als unzutreffend behauptete Würdigungen und Wertungen des FG beinhalten keine greifbare Gesetzwidrigkeit oder Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung.

7 b) Gemessen daran liegt im Streitfall kein zu einer greifbaren Gesetzwidrigkeit bzw. Willkürlichkeit der Entscheidung führender Rechtsfehler vor.

8 aa) Die Kläger sind der Ansicht, die Entscheidung des FG sei in Bezug auf die Streitjahre 2011 und 2012 greifbar gesetzwidrig, weil das Gericht für diese Jahre unter Hinweis auf die steuerrechtliche Ausbildung der Klägerin als Steuerfachangestellte und eine entsprechende berufliche Tätigkeit einen entschuldbaren Rechtsirrtum in Bezug auf die nicht nach § 35a Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) angegebenen Pflegekosten verneint habe. Damit setze das FG einfache Steuerfachangestellte dem Steuerberater gleich, was nicht angemessen oder sachgerecht sei, da der , BFHE 154, 481, BStBl II 1989, 131) beispielsweise einem Juristen, der nicht auf dem Gebiet des Steuerrechts tätig sei, einen entschuldbaren Rechtsirrtum zugestehe.

9 bb) Diese Würdigung des FG rechtfertigt entgegen der Ansicht der Kläger indes nicht die Annahme einer greifbar gesetzwidrigen Entscheidung.

10 Für die Beurteilung des groben Verschuldens i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) kommt es auf die persönlichen Umstände, Fähigkeiten und Kenntnisse des Steuerpflichtigen und die besonderen Umstände des Einzelfalles an, so dass das Verhalten des weniger gewandten Steuerpflichtigen anders beurteilt wird als das des gewandten und erfahrenen. Ob ein Beteiligter in diesem Sinne grob fahrlässig gehandelt hat, ist im Wesentlichen eine Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG dürfen —abgesehen von den zulässigen und begründeten Verfahrensrügen sowie einer den Denk- oder Erfahrungssätzen widersprechenden Würdigung der Umstände— von der Revisionsinstanz nur daraufhin überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind (ständige Rechtsprechung, z.B. , BFH/NV 2005, 1212, m.w.N.). Von fachkundigen Steuerpflichtigen und auch von steuerlich beratenden Personen wird ein höherer Grad an Sorgfalt hinsichtlich der von ihnen zu erwartenden Kenntnis und sachgemäßen Anwendung der steuerrechtlichen Vorschriften verlangt (von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 173 Rz 86).

11 Hiervon ist das FG ausgegangen. Wenn es darauf abstellt, dass aufgrund der steuerrechtlichen Ausbildung der Klägerin und aufgrund ihrer täglichen Arbeit als Steuerfachangestellte im Streitfall grobes Verschulden vorliege, da diese nicht nur über oberflächliche steuerrechtliche Kenntnisse verfüge und in den Streitjahren 2011 und 2012 Zugriff auf das in Anhang 17b des Einkommensteuer-Handbuches 2010 abgedruckte —Anwendungsschreiben zu § 35a EStG— (BStBl I 2010, 140) gehabt habe, ist dies nicht greifbar gesetzwidrig. Ob die entsprechende Würdigung einer revisionsrechtlichen Überprüfung standhalten würde, ist dagegen nicht entscheidend, da eine bloß fehlerhafte Würdigung keinen schweren Rechtsanwendungsfehler begründet.

12 2. Der von den Klägern geltend gemachte Zulassungsgrund der Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO) ist schon nicht ordnungsgemäß dargelegt.

13 a) Eine Fortbildung des Rechts kommt in Betracht, wenn über bisher ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden ist; insbesondere dann, wenn der Einzelfall im allgemeinen Interesse Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen (, BFH/NV 2014, 542, m.w.N.). Voraussetzung hierfür ist u.a., dass die Rechtsfortbildung im Allgemeininteresse liegt und die herausgestellte Rechtsfrage klärungsbedürftig ist (BFH-Beschluss in BFH/NV 2014, 542). Zur Klärungsbedürftigkeit muss der Beschwerdeführer substantiiert ausführen, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Rechtsfrage zweifelhaft und umstritten ist. Vor allem sind, sofern zu dem Problemkreis Rechtsprechung und Äußerungen im Fachschrifttum vorhanden sind, eine grundlegende Auseinandersetzung damit sowie eine Erörterung geboten, warum durch diese Entscheidungen die Rechtsfrage noch nicht als geklärt anzusehen ist bzw. weshalb sie ggf. einer weiteren oder erneuten Klärung bedarf (, BFH/NV 2013, 39, m.w.N.).

14 b) Diesbezügliche Ausführung enthält die im Stile einer Revisionsbegründung gefasste Beschwerdebegründung der Kläger nicht. Insbesondere genügt allein der Hinweis nicht, es sei bislang höchstrichterlich nicht geklärt, wer im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO konkret auf dem Gebiet des Steuerrechts tätig und hierfür vorgebildet sei.

15 Es liegt zudem auf der Hand, dass ein ausgebildeter und als solcher tätiger Steuerfachangestellter nicht als steuerlicher Laie im Sinne einer nicht auf dem Gebiet des Steuerrechts tätigen oder hierfür vorgebildeten Person angesehen werden kann. Wann einem Steuerfachangestellten dann ein entschuldbarer Rechtsirrtum zugestanden werden kann oder ob er sich den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit entgegenhalten lassen muss, ist eine Frage der Umstände des jeweiligen Einzelfalles.

16 3. Von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.

17 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2017:B.090217.VIB58.16.0

Fundstelle(n):
BFH/NV 2017 S. 763 Nr. 6
XAAAG-42480