BSG Urteil v. - B 8 SO 14/15 R

(Sozialgerichtliches Verfahren - Statthaftigkeit der Berufung - Wert des Beschwerdegegenstands - Auslegung einer nicht eindeutigen Urteilsformel - Einbeziehung von Folgebescheiden - analoge Anwendung des § 86 SGG)

Gesetze: § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG, § 86 SGG, § 96 Abs 1 SGG, § 136 Abs 1 Nr 4 SGG

Instanzenzug: Az: S 52 SO 52/11 Urteilvorgehend Landessozialgericht Hamburg Az: L 4 SO 93/13 Urteil

Tatbestand

1Im Streit ist die Erstattung höherer Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung der Klägerin.

2Die 1962 geborene Klägerin ist seit 1987 zu einem individuell auf sie abgestimmten Tarif bei der S Krankenversicherung aG privat kranken- und pflegeversichert. Der Beitrag für die private Krankenversicherung, der von der Klägerin gezahlt wurde, betrug ab Januar 2010 700,16 Euro, ab Januar 2011 710,76 Euro monatlich; daneben hat sie monatliche Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung entrichtet.

3Die Klägerin bezieht seit dem von der Beklagten Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Nachdem die Beklagte dabei zunächst die Beiträge für die private Krankenversicherung sowie die Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung vollständig übernommen hatte, bewilligte sie nach Anhörung der Klägerin für den Zeitraum vom 1. bis Grundsicherungsleistungen in Höhe von 1185,65 Euro und berücksichtigte (bei im Übrigen unveränderten Bedarfspositionen) nur noch einen Beitrag zur privaten Krankenversicherung in Höhe von 295,02 Euro (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Vor Erlass des Widerspruchsbescheids bewilligte sie für die Zeit vom 1.1. bis Grundsicherungsleistungen in Höhe von 1190,65 Euro (erneut) unter Berücksichtigung eines Krankenversicherungsbeitrags in Höhe von nur 295,02 Euro (Bescheid vom ).

4Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat den "Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids" abgeändert und die Beklagte verurteilt, "die Kosten der privaten Kranken- und Pflegeversicherung in der Höhe zu übernehmen, wie er sich aus dem Versicherungsschein für die Krankenversicherung vom (…)" ergebe (Urteil vom ). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg als unzulässig verworfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes mit 405,14 Euro den für eine nicht zugelassene Berufung erforderlichen Beschwerdewert von 750 Euro nicht übersteige. Mit dem Bescheid vom sei ausschließlich über Leistungen für den Monat Dezember 2010 entschieden worden. Der Bescheid vom , der eine Regelung erst für die Zeit ab dem enthalte, sei nicht nach § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden. Eine analoge Anwendung des § 86 SGG scheide aus (Urteil vom ).

5Mit ihrer Revision macht die Beklagte eine Verletzung des § 86 SGG geltend.

6Die Beklagte beantragt,das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

7Die Klägerin beantragt,die Revision zurückzuweisen.

8Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Gründe

9Die zulässige Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG).

10Die Berufung der Beklagten ist nicht zulässig; der Wert des Beschwerdegegenstands iS von § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG übersteigt 750 Euro nicht. Dieser Wert richtet sich danach, wozu das SG die Beklagte, die hier allein das Rechtsmittel führt, verurteilt hat. Ausgehend hiervon war die Berufung unzulässig, weil das SG über den im Wege der Anfechtungs- und Leistungsklage geltend gemachten Anspruch auf Übernahme höherer Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung (zur Abtrennbarkeit von Ansprüchen auf Übernahme von Beiträgen im Sinne eines eigenen Streitgegenstands vgl BSG SozR 4-3500 § 32 Nr 2 RdNr 11 mwN) nur bezogen auf den Monat Dezember 2010 befunden hat. Es hat allein den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufgehoben und die Beklagte verurteilt, "die Kosten der privaten Kranken- und Pflegeversicherung in der Höhe zu übernehmen, wie er sich aus dem Versicherungsschein für die Krankenversicherung vom " ergebe. Diese aus sich heraus nicht ganz eindeutige Urteilsformel (§ 136 Abs 1 Nr 4 SGG), die nicht ausdrücklich erkennen lässt, für welchen Zeitraum höhere Leistungen zugesprochen werden sollten, war zur Prüfung der Statthaftigkeit der Berufung notwendigerweise auszulegen. Diese Auslegung, die das LSG unterlassen hat, ergibt unter Berücksichtigung von Tatbestand und Entscheidungsgründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 136 RdNr 5c mwN), dass das SG lediglich für Dezember 2010 weitere Leistungen in Höhe von 405,14 Euro, die Differenz zwischen den von der Klägerin gezahlten und den von der Beklagten bereits übernommenen Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung für diesen Monat, zugesprochen hat. Der ausdrücklich genannte Bescheid vom regelt nämlich ausschließlich diesen Zeitraum und ist - wovon das LSG zutreffend ausgegangen ist - von späteren Bescheiden weder unmittelbar geändert noch ersetzt worden. Allein aus der Bezugnahme auf den Versicherungsschein vom im Tenor, der das Jahr 2011 betrifft, lässt sich nicht unzweifelhaft schließen, dass das SG über Dezember 2010 hinaus, sei es zukunftsoffen, sei es noch über den folgenden Bewilligungsabschnitt, den allerdings nur der Bescheid vom , nicht aber der Bescheid vom regelt, höhere Leistungen zuerkannt hat.

11Auf die Frage, ob das SG mit einer Beschränkung seiner Entscheidung auf den Monat Dezember 2010 den von der Klägerin an das Gericht herangetragenen Streitgegenstand verkannt hat (vgl § 123 SGG), kommt es mangels einer Berufung der Klägerin ebenso wenig an wie auf die vom LSG zu Unrecht verneinte Frage, ob der Bescheid vom in analoger Anwendung des § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchs- und auch des Klageverfahrens geworden ist. Es besteht allerdings keine Veranlassung zu einer Änderung der Rechtsprechung, wonach Bewilligungsbescheide, die vor Erlass des Widerspruchsbescheids ergehen und Folgezeiträume betreffen, in entsprechender Anwendung des § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens werden (Urteil vom - B 8 SO 12/09 R - RdNr 11, insoweit in BSGE 108, 123 ff = SozR 4-3500 § 82 Nr 7 nicht abgedruckt; BSGE 115, 158 ff RdNr 9 = SozR 4-2500 § 186 Nr 4; Urteil vom - B 8 AY 11/07 R - RdNr 10). Entscheidender Unterschied zu § 96 SGG, der seit nicht mehr analog auf Folgebescheide für spätere Bewilligungszeiträume anwendbar ist, bleibt auch für Zeiträume seit dessen Änderung mit Wirkung vom durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (vom - BGBl I 444), dass bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids die Verwaltung das Verfahren in der Hand behält und damit ohne Weiteres alle bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids ergangenen Bewilligungen überprüfen kann. Mit der Änderung des § 96 SGG ist zudem dessen Anwendungsbereich - und damit das Verbot einer analogen Anwendung für nicht abändernde bzw nicht ersetzende Bescheide - ausdrücklich nur auf die Zeit nach Erlass des Widerspruchsbescheids erstreckt worden (dazu BR-Drucks 820/07, S 23); es kommt in der Neuregelung des § 96 SGG und den Materialien dazu gerade nicht zum Ausdruck, dass das von der Rechtsprechung des BSG entwickelte Verständnis des unverändert gebliebenen § 86 SGG ebenfalls korrigiert werden sollte.

12Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2016:091216UB8SO1415R0

Fundstelle(n):
YAAAG-36675