BBK Nr. 14 vom Seite 665

Der Leitsatz des EuGH als Leid-Satz

Bernd Rätke | VRiFG, BBK-Herausgeber

[i]EuGH, Urteil vom 9. 6. 2016 - C-332/14 „Rey“ NWB CAAAF-75425 Anfang Juni hat der EuGH sein lang erwartetes Urteil zur Vorsteueraufteilung bei gemischt genutzten Gebäuden gefällt. Bereits der 1. Leitsatz verdient Beachtung: Er besteht aus 177 Wörtern und enthält 20 Kommata. Aus Platzgründen kann der Satz hier leider nicht wiedergegeben werden – auch nicht auszugsweise.

Für Freunde der [i]Grammatikalische Zusammenfassung des LeitsatzesSyntax und Grammatik kann der Leitsatz wie folgt beschrieben werden: Der EuGH beginnt verheißungsvoll mit einem kurzen Hauptsatz, dem sich ein Konsekutivsatz anschließt, der durch zwei Relativsätze unterbrochen wird.

Der Konsekutivsatz wird [i]177 Wörter und 20 Kommata in einem Satzsodann mit einer kurzen Verneinung fortgeführt, die etwas versteckt auch die Antwort auf die 1. Vorlagefrage des BFH enthält. Hier macht der EuGH aber nicht Halt, sondern schließt an diese Verneinung nacheinander nun einen weiteren Konsekutivsatz, einen Konditionalsatz und einen Finalsatz als Nebensatz an (zur besseren Orientierung: Wir befinden uns noch immer im 1. Leitsatz!).

Dieser Final-Nebensatz wird durch zwei weitere Relativsätze unterbrochen und präsentiert schließlich einen Lösungsvorschlag („Umsatzschlüssel oder, ..., Flächenschlüssel). Der Lösungsvorschlag wird indes durch eine Apposition getrennt, die eine Voraussetzung benennt, nämlich die sog. „präzisere Bestimmung“. Da diese Voraussetzung genau hinter das „oder“ gesetzt worden ist, wird beim ersten Lesen nicht ganz klar, ob die Voraussetzung den Umsatz- oder den Flächenschlüssel betrifft. Hier helfen nun umsatzsteuerliche Vorkenntnisse – dann weiß man, dass die „präzisere Bestimmung“ den Flächenschlüssel betrifft.

Zusammengefasst kann [i]„Leid-Satz“ statt Leitsatzman sagen: Der Leitsatz des EuGH-Urteils ist kein Leitsatz, sondern ein „Leid-Satz“. Die (Un-)Verständlichkeit von EuGH-Entscheidungen beruht übrigens nicht darauf, dass die Entscheidungen einer „Kettenübersetzung“ unterzogen werden, also vom Deutschen in das Französische und von dort in das Tschechische etc. übersetzt werden. [i]Keine „Kettenübersetzung“ und kein Google-TranslateAuch die Übersetzungssoftware von Google ist an der sprachlichen Fassung der Urteile nicht beteiligt. Tatsächlich wird jedes Urteil nämlich von Dolmetschern mit juristischer Ausbildung in jeweils eine der EU-Sprachen übersetzt. Die Unverständlichkeit ist also nicht Folge der Übersetzung, sondern hat ihren Ursprung bereits in der Arbeitsfassung des Urteils.

Eine verständliche Urteilsfassung [i]EuGH-Richter aus mehreren Nationenmuss aber auch dann zu erwarten sein, wenn – wie im konkreten Fall – ein Tscheche, ein Däne, ein Pole, eine Niederländerin und ein Este als Richter und ein Italiener als Generalanwalt am Urteil mitgewirkt haben und schriftliche Erklärungen der Bundesrepublik Deutschland und des Vereinigten Königreichs sowie der EU-Kommission zu berücksichtigen waren. S. 666

Wer übrigens glaubt, dass nur die Verständlichkeit des 1. Leitsatzes eingeschränkt ist, muss an dieser Stelle enttäuscht werden: Der Rest des EuGH-Urteils ist sprachlich nicht besser.

Die Leidtragenden derartiger [i]Zwei Juristen – drei Meinungen„Leid-Sätze“ sind nun wieder die Steuerpflichtigen, aber auch deren Berater und die Finanzbeamten. Sie alle müssen das Urteil nun in verständliche Satzteile aufteilen, die doppelten Verneinungen neutralisieren und die einzelnen Satzstücke interpretieren. Damit ist jetzt schon zu erwarten, dass getreu dem alten Motto „zwei Juristen – drei Meinungen“ die Interpretationen nicht einheitlich ausfallen werden.

Der Vorsteuerabzug bei [i]Vorsteuerabzug als Standardfallgemischt genutzten Gebäuden ist übrigens kein steuerlicher Exot, sondern ein Standardfall der umsatzsteuerlichen Beratung. An sich müsste jeder Mitarbeiter eines Steuerbüros und jeder Bilanzbuchhalter in der Lage sein, innerhalb kürzester Zeit den anteiligen Vorsteuerabzug aus dem nachträglichen Einbau eines Fahrstuhls in ein Wohn- und Geschäftshaus zu berechnen. Stattdessen wird diese Berechnung in einem Studium des aktuellen EuGH-Urteils und damit im Frust enden.

Die BBK wird Sie auf dem zurzeit leider etwas beschwerlichen Weg begleiten und praxisnahe Lösungen anbieten. Die Hoffnung, dass wir bis dahin von weiteren Entscheidungen des EuGH zum Vorsteuerabzug verschont bleiben, ist jedoch nicht groß. Schon am , kurz vor dem Redaktionsschluss dieser BBK-Ausgabe, hat der BFH die nächsten Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zum Vorsteuerabzug veröffentlicht. Mehr zu den BFH-Beschlüssen vom - V R 25/15 und XI R 20/14 lesen Sie in der nächsten Ausgabe.

Beste Grüße

Bernd Rätke

Fundstelle(n):
BBK 2016 Seite 665 - 666
MAAAF-77461