Nichtzulassungsbeschwerde in einer Arzthaftungssache: Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots als Gehörsverletzung; Nichteinholung eines neurologischen Sachverständigengutachtens über vom Patienten behauptete Dauerschäden
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 544 Abs 7 ZPO
Instanzenzug: Az: I-26 U 6/13 Urteilvorgehend LG Arnsberg Az: I-5 O 17/10
Gründe
I.
1Die Klägerin nimmt die an dem Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde allein noch beteiligten Beklagten zu 1 bis 3 (im Folgenden: Beklagte) wegen fehlerhafter Aufklärung und ärztlicher Behandlung im Zusammenhang mit ihrer Geburt auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Sie ist das zweite Kind ihrer Mutter, ihre Schwester war ebenfalls in der Klinik der Beklagten zu 1 geboren worden. Aus den Behandlungsunterlagen ergibt sich, dass bei der Geburt des ersten Kindes eine Schulterdystokie vorlag.
2Im April 2009 wurde die Mutter der Klägerin in die stationäre Behandlung der beklagten Klinik zur Entbindung aufgenommen. Die Klägerin kam am selben Tag u.a. mit Hilfe der Beklagten zu 3, einer an der Klinik der Beklagten zu 1 tätigen Oberärztin, durch vaginale Geburt zur Welt. Der Bericht über die Entbindung enthält den Vermerk über eine Schonhaltung des rechten Armes der Klägerin. Im Rahmen der U 2-Vorsorgeuntersuchung wurde bei der Klägerin noch im April 2009 eine "obere Plexuslähmung rechts nach Schulterdystokie" festgestellt.
3Die Klägerin hat - soweit in dieser Instanz noch von Interesse - geltend gemacht, dass ihre Mutter nicht ordnungsgemäß über das (Wiederholungs)Risiko einer Schulterdystokie aufgeklärt worden sei. Sie habe sich deshalb nicht für eine Sectio entschieden, deshalb seien die Beklagten für die Plexusparese der Klägerin verantwortlich. Im Alter von 2 ½ Monaten seien bei ihr kaum aktive Schulterbewegungen und auch keine Bizepsfunktion vorhanden gewesen, nach Krankengymnastik habe die passive Außenrotationsfähigkeit bei etwa 20 % gelegen, eine aktive Außenrotation sei nicht möglich gewesen. Im Rahmen einer Operation im Februar 2010 sei eine Nervenverlagerung durchgeführt worden. Die Klägerin werde lebenslange Beeinträchtigungen, insbesondere im Versorgungs- und Erwerbsbereich, hinnehmen müssen. Die künftige Entwicklung sei nicht absehbar.
4Die Beklagten haben eine ausreichende Aufklärung der Kindesmutter behauptet und vorgetragen, diese habe eine Schnittentbindung mit der Begründung abgelehnt, dass bei der ersten Entbindung alles gut gegangen sei und sie deshalb erneut eine Spontanentbindung wünsche, in jedem Fall hätte sie eine Spontanentbindung gewünscht. Die behaupteten Folgen der dokumentierten Plexuslähmung haben die Beklagten bestritten.
5Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht die Beklagten verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 € zu bezahlen und festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin allen materiellen und immateriellen Zukunftsschaden aus Anlass der unter der Geburt erlittenen oberen Plexusparese zu erstatten. Die Revision hat es nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten.
II.
6Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gem. § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
7Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es erheblichen Sachvortrag der Beklagten nicht berücksichtigt hat. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht Vortrag der Beklagten, die Mutter der Klägerin habe in einem Aufklärungsgespräch mit der Beklagten zu 3 vehement bekundet, dass für sie nur eine Spontangeburt in Betracht käme, egal unter welchen Kautelen, übergangen und trotz ihres Bestreitens bleibende Schäden der Klägerin angenommen habe, ohne dazu ein Sachverständigengutachten zu erheben oder die eigene Sachkunde darzulegen.
8a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen und Anträge der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 70, 288, 293 f.; 96, 205, 216 f.); eine Verletzung ist aber erst dann gegeben, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Das Gericht muss sich nicht mit jedem Vorbringen der Prozessbeteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich befassen. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist nur dann gegeben, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass das Vorbringen der Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom - VI ZR 179/13, NJW 2015, 2125 Rn.11; , BGHZ 154, 288, 300; BVerfGE 25, 137, 140; 47, 182, 187 f.; 54, 86, 92; 65, 293, 295 f.; 69, 233, 246; 70, 288, 293; 85, 386, 404; 88, 366, 375 f.; BVerfG, NJW 1994, 2279; NVwZ 1995, 1096; NJW 1998, 2583, 2584; NJW-RR 2002, 68, 69).
9b) Nach diesen Maßstäben ist Art. 103 Abs. 1 GG hier verletzt.
10aa) Dass die Beklagten vorgetragen haben, die Mutter der Klägerin hätte auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung keine Schnittentbindung durchführen lassen, hat das Berufungsgericht in seine Gründe aufgenommen und dahingehend beschieden, dass vor dem Hintergrund der Aussagen des aufklärenden Arztes Dr. C. und der Hebamme F. keine Rede davon sein könne, dass die Kindesmutter trotz ordnungsgemäßer Aufklärung eine Schnittentbindung abgelehnt hätte. Nach ihren Angaben sei vielmehr davon auszugehen, dass sie sich bei entsprechenden Hinweisen aufklärungskonform verhalten hätte. Das Berufungsgericht hat den Einwand der hypothetischen Einwilligung erkannt. Die Beklagten haben allerdings auch vorgetragen, dass die Beklagte zu 3 kurz vor der Entbindung die Mutter nochmals aufgeklärt habe und mit ihr nochmals über eine Schnittentbindung gesprochen worden sei, worauf die Mutter der Klägerin sofort vehement erwidert habe, dass für sie nur eine Spontangeburt in Betracht käme, egal unter welchen Kautelen, sie habe bereits ein Kind spontan geboren und wolle auch das weitere Kind spontan gebären. Dafür haben sich die Beklagten auf die Krankenunterlagen, das Zeugnis von Dr. C. sowie auf die Parteivernehmung der Beklagten zu 3 berufen. Diesen Vortrag hat das Berufungsgericht nicht berücksichtigt und ist dem Beweisantritt nicht nachgegangen. Dass der Zeuge Dr. C. zu diesem Punkt vernommen worden wäre, kann den Berichterstattervermerken nicht entnommen werden. Die Beklagte zu 3 ist weder als Partei vernommen noch angehört worden.
11Der Vortrag war aber erheblich. Der Einwand der Behandlungsseite, der Patient hätte sich einem Eingriff auch bei zutreffender Aufklärung über dessen Risiken unterzogen, ist grundsätzlich beachtlich (Senatsurteil BGHZ 90, 103, 111). Den Arzt trifft insoweit die Behauptungs- und Beweislast, wenn der Patient zur Überzeugung des Tatrichters plausibel macht, dass er, wären ihm rechtzeitig die Risiken der Behandlung verdeutlicht worden, vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte, wobei an die Substantiierungspflicht zur Darlegung eines solchen Konflikts keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen (vgl. nur Senatsurteil vom - VI ZR 108/06, VersR 2007, 999 Rn. 17 mwN). Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht nach der gebotenen Durchführung der Beweisaufnahme und Anhörung und Würdigung deren Ergebnisses zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.
12bb) Mit Erfolg macht die Nichtzulassungsbeschwerde eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör hinsichtlich der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen zu den möglichen sich aus der Plexusparese ergebenden Beeinträchtigungen der Klägerin geltend. Die von der Klägerin im Rahmen ihres Begehrens behaupteten lebenslangen Beeinträchtigungen auch im Versorgungs- und Erwerbsbereich sowie die behauptete fehlende aktive Außenrotation des rechten Arms waren streitig, weshalb das Landgericht den Sachverständigen mit der Beantwortung der Frage beauftragt hatte, ob der Klägerin Dauerschäden entstanden seien bzw. ob sie lebenslange Beeinträchtigungen im Versorgungs- und Erwerbsbereich werde hinnehmen müssen. Zur Beantwortung dieser Frage hatte sich der Sachverständige jedoch für nicht kompetent erklärt und in seinem Gutachten vom ausgeführt, dass die Beantwortung dieser Beweisfrage primär einem (pädiatrisch-)neurologischen/neurochirurgischen Gutachter obliege. Das Berufungsgericht hat hingegen ohne Einholung eines solchen Gutachtens und ohne Darlegung eigener Sachkunde die (bleibenden) Beeinträchtigungen der Klägerin, insbesondere eine nicht vollständige freie Beweglichkeit des rechten Arms, angenommen. Da das Berufungsgericht in seinem Urteil darüber hinaus weder in den Akten vorhandene Arztbriefe noch das Ergebnis der Anhörung der Mutter der Klägerin zu den Beeinträchtigungen zur Begründung des Schadens angeführt hat, ist davon auszugehen, dass das Berufungsgericht das Bestreiten der Beklagten verkannt hat. Dies war jedoch erheblich. Der Tatrichter darf, wenn es wie hier um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss das Gericht, wenn es bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (vgl. nur Senatsbeschluss vom - VI ZR 204/14, VersR 2015, 472 Rn. 5 mwN). Daran fehlt es hier.
13c) Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben. Die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird bei erneuter Befassung Gelegenheit haben, auch das weitere Vorbringen im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde, insbesondere zu Widersprüchen in den Ausführungen des Gerichtsgutachters, zu berücksichtigen.
Galke Stöhr Offenloch
Oehler Roloff
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:080316BVIZR243.14.0
Fundstelle(n):
CAAAF-71446