(Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 S 2 SGG - Beschlussfassung des Berufungsgerichts vor dem Ende der in der Anhörungsmitteilung gesetzten Frist)
Gesetze: § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 1 ZPO, § 43 SGB 6
Instanzenzug: Az: S 22 R 994/13 Urteilvorgehend Sächsisches Landessozialgericht Az: L 5 R 676/14 Beschluss
Gründe
1I. Die Beteiligten streiten in der Hauptsache über eine Rente wegen Erwerbsminderung.
2Den Antrag des 1960 geborenen Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung vom Januar 2013 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ab. Die hiergegen vor dem SG Leipzig erhobene Klage blieb erfolglos (Urteil vom ). Im Berufungsverfahren hat das LSG ua ein Sachverständigengutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. P. vom eingeholt. Diese hat den Kläger noch für in der Lage erachtet, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte körperliche Arbeiten mindestens sechs Stunden täglich, zB als Warenaufmacher/Versandfertigmacher, auszuüben. Mit Schreiben vom , beim Prozessbevollmächtigten des Klägers eingegangen am , hat das LSG dieses Gutachten dem Kläger zur Kenntnis übersandt und darauf hingewiesen, dass es beabsichtige, den Rechtsstreit nach § 153 Abs 4 S 1 SGG ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Zugleich hat es ihm Gelegenheit zur Äußerung binnen vier Wochen gegeben. Mit Beschluss vom hat das LSG die Berufung zurückgewiesen und sich zur Begründung ua auch auf das Gutachten der Sachverständigen Dr. P. gestützt. Die Entscheidung wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am zugestellt.
3Der Kläger rügt eine Verletzung des § 153 Abs 4 S 2 SGG. Das LSG habe ihm in seiner Anhörungsmitteilung eine Frist zur Äußerung bis zum (vier Wochen bei Zugang am ) gesetzt. Ohne eine entsprechende Stellungnahme von ihm abzuwarten, habe das LSG im Beschlussverfahren aber bereits am entschieden. Er habe daher keine Gelegenheit mehr gehabt, fristgerecht insbesondere zum Gutachten der Sachverständigen Dr. P. eine Stellungnahme abgeben zu können. Dies stelle einen absoluten Revisionsgrund dar.
4II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Er hat mit der von ihm gerügten Verletzung der Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 S 2 SGG einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG schlüssig bezeichnet (§ 160a Abs 2 S 3 SGG). Dieser Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor (dazu unter 1.). Die angefochtene Entscheidung beruht auch auf diesem Verfahrensmangel (dazu unter 2.).
51. Das LSG hat § 153 Abs 4 S 2 SGG verletzt, wonach die Beteiligten vor Erlass eines Beschlusses nach § 153 Abs 4 S 1 SGG zu hören sind. Der Verstoß des Berufungsgerichts gegen diese Verfahrensvorschrift liegt darin begründet, dass es dem Kläger in seiner Anhörungsmitteilung vom eine Frist zur Äußerung von vier Wochen eingeräumt und diese durch seine bereits am erfolgte Beschlussfassung selbst nicht beachtet hat (vgl Senatsbeschluss vom - B 13 R 61/12 B - Juris RdNr 8; - SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 12 mwN).
62. Die angefochtene Entscheidung beruht auch auf dem festgestellten Verfahrensmangel. Anders als die Verletzung von § 153 Abs 4 S 1 SGG ist diejenige von S 2 nicht ohne Weiteres wie ein absoluter Revisionsgrund (gemäß § 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO <nicht vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts>) zu behandeln, bei dem unwiderleglich vermutet wird, dass die Entscheidung auf dem Verfahrensverstoß beruht (vgl - SozR 3-1500 § 153 Nr 13). Denn die nicht ordnungsgemäß durchgeführte Anhörung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG ist in erster Linie eine Gehörsverletzung, deren Kausalität für die angegriffene Entscheidung nicht ohne Weiteres zu unterstellen ist (vgl - SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 19; Senatsbeschlüsse vom - B 13 R 61/12 B - Juris RdNr 9 und vom - B 13 R 203/15 B - Juris RdNr 15). Fallkonstellationen, in denen eine erforderliche Anhörung überhaupt nicht durchgeführt wurde bzw deren Durchführung nicht nachweisbar ist, sodass die Beteiligten keinerlei Veranlassung hatten, sich gegenüber dem Gericht noch innerhalb der gesetzten Frist Gehör zu verschaffen, können dabei aber einer lediglich (formal) unzulänglich erfolgten Anhörung nicht gleichgestellt werden. Hier fehlt es nämlich von vornherein an einer wesentlichen Voraussetzung, nämlich einer Anhörungsmitteilung, die das Gesetz für eine Entscheidung im vereinfachten Beschlussverfahren nur durch die Berufsrichter verlangt (Senatsbeschluss vom aaO; insoweit noch offengelassen in - SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 19). Dasselbe gilt, wenn eine erste Anhörung aufgrund einer neuen prozessualen Situation keinerlei Wirkung mehr entfaltet und eine deshalb notwendige erneute (zweite) Anhörung unterblieben ist (Senatsbeschluss vom aaO; - BeckRS 2016, 65453 RdNr 8) oder wenn - wie vorliegend - eine vom LSG gesetzte Anhörungsfrist von diesem selbst nicht beachtet worden ist. Letzteres ist schon vor dem Hintergrund geboten, dass der Kläger berechtigt war, die vom LSG eingeräumte Frist bis zu ihrer Grenze auszunutzen. Hatte er aber zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Berufungsgerichts aufgrund dessen eigener Fristsetzung noch keine Veranlassung sich zu äußern, ist (auch) diese Konstellation einem Ausfall der Anhörung vergleichbar. Denn auch hier konnte die nach § 153 Abs 4 S 2 SGG vorgeschriebene Anhörung die ihr zugedachte Funktion, die ansonsten durch die mündliche Verhandlung ermöglichte umfassende Anhörung der Beteiligten adäquat zu kompensieren ( aaO), nicht erfüllen. Dann aber führt der Verfahrensmangel jedenfalls auch zu einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts (§ 202 S 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO) und damit zu der unwiderleglichen Vermutung dafür, dass die angegriffene Entscheidung auf dieser Gesetzesverletzung beruht.
7Soweit der bisherigen Rechtsprechung des Senats Gegenteiliges entnommen werden kann (vgl Senatsbeschluss vom - B 13 R 61/12 B - Juris RdNr 9 f), hält er hieran nach erneuter Prüfung nicht fest (der Senatsbeschluss vom - B 13 R 300/11 B - Juris RdNr 14 ff und der Beschluss des 5. Senats des - SozR 4-1500 § 153 Nr 7 betreffen dagegen den hier nicht zu behandelnden Fall einer zu kurzen Anhörungsfrist).
83. Da somit die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG).
94. Die Entscheidung über die Kosten unter Einbeziehung der Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2016:240216BB13R34115B0
Fundstelle(n):
UAAAF-69944