BSG Beschluss v. - B 2 U 132/15 B

(Sozialgerichtliches Verfahren - Zurückverweisung gem § 160a Abs 5 SGG - Verfahrensfehler - Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör - Einverständniserklärung gem § 124 Abs 2 SGG - wesentliche Änderung der Prozesslage - Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens - gerichtliches Ermessen - gebundene Entscheidung - Zweckmäßigkeitsprüfung)

Gesetze: § 124 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG, § 202 SGG, § 251 S 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG, § 160a Abs 5 SGG

Instanzenzug: SG Heilbronn Az: S 7 U 2833/10vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 8 U 4313/14 Urteil

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten um die Höhe einer Verletztenrente (Bescheid vom und Widerspruchsbescheid vom ). Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom ). Im Berufungsverfahren haben sich die Beteiligten am im Termin zur Erörterung des Sachverhalts mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt. Mit am beim LSG per Telefax eingegangenem Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Anordnung des Ruhen des Verfahrens beantragt, weil Prof. Dr. S. mit der Erstellung eines Gutachtens zum Nachweis einer unfallbedingten posttraumatischen Belastungsstörung beauftragt worden sei, das im Juni 2015 vorgelegt würde. Vom Ergebnis des Gutachtens würde es abhängen, ob die Berufung fortgeführt oder zurückgenommen werde.

2Am hat das LSG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt, der Senat habe wegen der Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden können. Der Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens habe nicht zu einer die Unwirksamkeit der grundsätzlich unwiderruflichen Prozesserklärung bewirkenden neuen Prozesslage geführt. Das gerichtliche Ermessen für die Ruhensanordnung sei erst mit einem beidseitigen Ruhensantrag eröffnet.

3Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger als Verfahrensfehler ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und (sinngemäß) des Mündlichkeitsgrundsatzes. Das LSG hätte eine Stellungnahme der Beklagten zum Ruhensantrag einholen und diesem bei deren Zustimmung stattgeben müssen.

4Der Kläger beantragt,die Revision zuzulassen.

5Die Beklagte hat sich nicht geäußert.

6II. Die fristgerecht eingelegte und begründete Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 und 2 SGG) iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen kann.

7Die Beschwerde ist auch begründet. Das angegriffene Urteil des Berufungsgerichts ist verfahrensfehlerhaft ergangen, weil das LSG nicht ohne mündliche Verhandlung hätte entscheiden dürfen. Infolgedessen können die vom Kläger außerdem erhobenen Rügen dahingestellt bleiben.

8Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 SGG, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 SGG. Danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Eine Einverständniserklärung iS dieser Vorschrift, die das Gericht im Zeitpunkt seiner Entscheidungsfindung von Amts wegen zu prüfen hat, verliert allerdings ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssituation wesentlich geändert hat ( - juris RdNr 14). Das war hier im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am der Fall.

9Mit dem am gestellten Antrag, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, ist eine wesentliche Änderung in der bisherigen Prozesslage eingetreten. Denn nach § 202 SGG iVm § 251 Satz 1 ZPO (zur Anwendbarkeit in sozialgerichtlichen Verfahren - SozR 1750 § 251 Nr 1 RdNr 2) hat das Gericht das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn beide Parteien dies beantragen und anzunehmen ist, dass wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist. Auch unter Berücksichtigung der allgemeinen Prozessförderungspflicht (vgl - juris RdNr 12 mwN) erscheint die Anordnung des Ruhens des Verfahrens wegen der Beauftragung von Prof. Dr. S. vor dem Hintergrund, dass eine posttraumatische Belastungsstörung von Dr. H. in seinem Gutachten vom nicht bestätigt, von der Dipl.-Psychologin G. in ihrem Gutachten vom hingegen angenommen und auf den Arbeitsunfall vom zurückgeführt worden ist, zweckmäßig. Das LSG ist ebenfalls nicht von einer unzweckmäßigen Ruhensanordnung ausgegangen, sondern hat darauf abgestellt, dass das gerichtliche Ermessen für die Ruhensanordnung erst bei beidseitigem Ruhensantrag eröffnet wäre. Es hat allerdings den Ruhensantrag nicht an die Beklagte zur evtl Zustimmung weitergeleitet und damit den Beteiligten nicht die Möglichkeit eingeräumt, die prozessrechtlichen Grundlagen für eine Ruhensanordnung zu schaffen. Liegen die Voraussetzungen für eine Ruhensanordnung vor, steht diese jedoch nicht im Ermessen des Gerichts. Das Gericht "hat" das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn es zweckmäßig und übereinstimmend beantragt worden ist, sodass es sich hierbei um eine gebundene Entscheidung handelt ( OVG 2 L 7.11 - juris RdNr 7). Lediglich die Prüfung der Zweckmäßigkeit eröffnet einen Einschätzungsspielraum (vgl - juris RdNr 3). Wird die Zweckmäßigkeit angenommen, ist daher der Antrag eines Klägers auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens der Beklagten zur evtl Zustimmung zum Zwecke der in diesem Fall gebotenen Ruhensanordnung vorzulegen.

10Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör ( - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 12). Gerade die in Art 6 Abs 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung bietet eine besondere Gewähr zur Wahrung des rechtlichen Gehörs.

11Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es im Falle der Ruhensanordnung nach Eingang des von Prof. Dr. S. erstellten Gutachtens vom zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

12Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

13Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2015:171215BB2U13215B0

Fundstelle(n):
AAAAF-66679