Änderung von Einkommensteuerbescheiden aufgrund nachträglich bekannt gewordener steuerabzugspflichtiger Kapitalerträge
Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen
Rechtslage bis einschließlich VZ 2008:
Werden dem Finanzamt nach bestandskräftig durchgeführter Einkommensteuerfestsetzung vom Steuerpflichtigen bisher nicht erklärte, dem Steuerabzug (Kapitalertragsteuer) unterworfene Kapitalerträge bekannt, bitte ich wie folgt zu verfahren:
1. Änderung der Einkommensteuerfestsetzung nach § 173 AO
Die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge stellen neue Tatsachen i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dar, die zur Änderung der Steuerfestsetzung führen, wenn sich durch die Erfassung der Kapitalerträge eine geänderte (höhere) Einkommensteuer ergibt und noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Die Steuerfestsetzung ist auch dann nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, wenn sich nach Anrechnung der Kapitalertragsteuer eine niedrigere verbleibende Einkommensteuerschuld und damit ein Steuererstattungsanspruch ergibt (AEAO zu § 173, Nr. 1.4).
2. Anrechnung der Kapitalertragsteuer bei Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO
Die regelmäßig mit der Einkommensteuerfestsetzung verbundene Anrechnung der Steuerabzugsbeträge stellt einen selbständigen Verwaltungsakt „Anrechnungsverfügung” dar, der im Fall der Rechtswidrigkeit unter den Voraussetzungen des § 130 AO korrigiert werden kann.
Eine Korrektur der Anrechnungsverfügung zur nachträglichen Berücksichtigung von Kapitalertragsteuer ist nur innerhalb der durch die ursprüngliche Anrechnungsverfügung in Lauf gebrachten Zahlungsverjährungsfrist zulässig ( BStBl 2008 II S. 504).
Eine Änderung der Anrechnungsverfügung nach Ablauf dieser Frist ist ungeachtet dessen, ob sie zu einer Erhöhung oder einer Verminderung der Abschlusszahlung oder einer Rückforderung erstatteter Steueranrechnungsbeträge führt, unzulässig ( BStBl 2010 II S. 382).
Die von nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträgen einbehaltene Kapitalertragsteuer kann somit nur innerhalb der Zahlungsverjährungsfrist – durch Korrektur der Anrechnungsverfügung zugunsten des Steuerpflichtigen nach § 130 Abs. 1 AO – berücksichtigt werden. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nur zulässig ist, soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfällt. Die nachträgliche Anrechnung der Kapitalertragsteuer scheidet deshalb aus, wenn die betreffenden Kapitalerträge wegen eingetretener Festsetzungsverjährung nicht mehr der Einkommensteuer unterworfen werden können.
3. Anwendung der verlängerten Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO)
Übersteigt die auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge entfallende Kapitalertragsteuer den Einkommensteuer-Mehrbetrag, der sich bei der Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge ergibt (Unterschiedsbetrag zwischen alter und neuer Einkommensteuerfestsetzung) ist eine Änderung der Steuerfestsetzung und der damit verbundenen Anrechnungsverfügung nur innerhalb der regulären Festsetzungsfrist von vier Jahren nach § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO zulässig. Eine Verlängerung der Festsetzungsfrist auf fünf bzw. zehn Jahre gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO tritt in diesen Fällen nicht ein. Die Regelung in § 169 Abs. 2 Satz 2 AO setzt einen hinterzogenen Betrag im Sinne eines Anspruchs des Fiskus auf eine Abschlusszahlung voraus, der wegen einer vollendeten Steuerhinterziehung oder leichtfertigen Steuerverkürzung bislang nicht realisiert werden konnte. An dem so definierten hinterzogenen Betrag fehlt es aber, wenn der Steuergläubiger die geschuldete Einkommensteuer durch Steuerabzug bereits erhoben hatte und objektiv nie ein Anspruch auf eine Abschlusszahlung zu seinen Gunsten bestand ( BStBl 2008 II S. 659).
In dieser Fallkonstellation verbleibt es nach Ablauf der vierjährigen Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO wegen bereits eingetretener Festsetzungsverjährung bei der bisherigen Steuerfestsetzung. Eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer kann wegen § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht vorgenommen werden.
4. Anrechnung der Kapitalertragsteuer bei Unterbleiben der Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO
Der nachträglichen Berücksichtigung der Kapitalertragsteuer steht § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht entgegen, wenn die Änderung der Einkommensteuerfestsetzung unterbleibt, weil die Einnahmen aus Kapitalvermögen – unter Einbeziehung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge – den Werbungskosten-Pauschbetrag (§ 9a EStG) und den Sparer-Freibetrag (§ 20 Abs. 4 EStG a. F.) nicht übersteigen oder die Einkommensteuer aus anderen Gründen (z. B. Berichtigung von materiellen Fehlern nach § 177 AO), trotz Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitaleinkünfte, unverändert bleibt. Auch in solchen Fällen ist von der Erfassung der Kapitaleinkünfte im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auszugehen, weshalb – bei Vorlage der Steuerbescheinigung – die Kapitalertragsteuer auch in diesen Fällen noch nachträglich angerechnet werden kann.
Rechtslage ab dem VZ 2009:
Seit der Einführung der Abgeltungsteuer zum kommt eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer grundsätzlich nur noch in Betracht, wenn der Steuerpflichtige in bzw. mit seiner Einkommensteuererklärung einen Antrag nach § 32d Abs. 4 bzw. Abs. 6 EStG gestellt hat. Eine solche Antragstellung ist nur bis zum Eintritt der Bestandskraft möglich.
Hat der Steuerpflichtige einen Antrag nach § 32d Abs. 4 bzw. Abs. 6 EStG nach Eintritt der Bestandskraft gestellt, kommt keine Änderung des Einkommensteuerbescheids nach § 173 AO wegen der vom Steuerpflichtigen nachgemeldeten Kapitalerträge in Betracht. Zwar liegen neue Tatsachen i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO vor. Diese Tatsachen sind jedoch nicht rechtserheblich ( BStBl 1982 II S. 80). Hätte das Finanzamt rechtzeitig Kenntnis von den Einnahmen gehabt, hätte es – wegen der fehlenden Antragstellung – aufgrund der Abgeltungswirkung nach § 32d Abs. 1 EStG die Kapitaleinkünfte nicht in die Veranlagung einbezogen.
Mangels Einkunftserfassung kann auch die einbehaltene Kapitalertragsteuer nicht angerechnet werden (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG).
Wurde ein Antrag auf Günstigerprüfung nicht bis zur Bestandskraft der Erstveranlagung gestellt, kann auch in den Fällen, in denen die Nachmeldung von Kapitalerträgen zu keiner Änderung der Steuerfestsetzung führen würde, einbehaltene Kapitalertragsteuer nicht angerechnet werden. Dies sind z. B. Fälle, in denen
die nachgemeldeten Einnahmen aus Kapitalvermögen den Sparer-Pauschbetrag (§ 20 Abs. 9 EStG) nicht übersteigen,
die Einkommensteuer aus anderen Gründen (z. B. Berichtigung von materiellen Fehlern nach § 177 AO), trotz Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitaleinkünfte, unverändert bleibt oder
die Einkommensteuer schon bisher auf 0.– € festgesetzt war und sich auch nach der Nachmeldung eine Steuer nicht ergibt.
Im Gegensatz zur Rechtslage bis einschließlich VZ 2008 (vgl. AO-Kartei § 173 Karte 1 Tz. 4) ist in solchen Fällen wegen des nicht rechtzeitig gestellten Antrags auf Günstigerprüfung nicht von der Erfassung der Kapitaleinkünfte im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auszugehen, weshalb die Kapitalertragsteuer in diesen Fällen nicht nachträglich angerechnet werden kann.
Etwas anderes gilt nur, sofern der Einkommensteuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist oder mit einem zulässigen Einspruch angefochten wurde.
Bayerisches Landesamt für Steuern v. - S 0351.2.1-17/2
Fundstelle(n):
QAAAF-49321