Verfahrensrecht | Verfahrensruhe wegen Beschwerde beim EGMR (FG)
Nach Ansicht des 3. Senats des Niedersächsischen Finanzgerichts besteht kein Anspruch auf Verfahrensruhe im Einspruchsverfahren wegen eines anhängigen Beschwerdeverfahrens beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (; Nichtzulassungsbeschwerde erhoben).
Sachverhalt: Streitig ist, ob das Finanzamt verpflichtet war, das Einspruchsverfahren ruhen zu lassen. Der Kläger hatte Einspruch gegen seinen Steuerbescheid eingelegt, weil das Finanzamt seine privaten Krankenversicherungsbeiträge nur beschränkt als Sonderausgaben anerkannt hatte. 2008 hatte das BVerfG aber entschieden, dass die Ausgaben höher zum Abzug zugelassen werden müssten. Allerdings sollte der Gesetzgeber erst ab 2010 eine neue Regelung schaffen. Bis dahin durfte er das verfassungswidrige Recht weiter anwenden. Damit war der Kläger aber nicht einverstanden. Er berief sich bei seinem Einspruch auf ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Kläger begehrte, sein Einspruchsverfahren ruhen zu lassen, bis der EGMR entschieden hätte.
Hierzu führte das Gericht weiter aus: Der Kläger hatte keinen Anspruch auf ein Ruhen des Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, da dort ausschließlich der Gerichtshof der Europäischen Union Erwähnung findet, wenn von „dem Europäischen Gerichtshof“ die Rede ist. Soweit in jüngster Zeit vereinzelt im Schrifttum vorgebracht wird, der Wortlaut der Vorschrift sei jedenfalls nicht eindeutig und insoweit auslegungsbedürftig und auslegungsfähig (vgl. u.a. NWB BAAAD-81758; Nebe, Stbg 2011, 256) folgt der Senat dieser Auffassung nicht. Zum Einen ist im Gesetz ausdrücklich nur von „dem“ Europäischen Gerichtshof“ im Singular die Rede. Dies schließt eine Auslegung, die mehrere gänzlich verschiedene Gerichte adressiert, schon vom Wortlaut als der äußeren Grenze einer möglichen Auslegung aus. Zum Anderen ist der Europäische Gerichthof, also der „Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften“, in das steuerrechtliche Rechtsschutzsystem durch die Möglichkeit von Vorabentscheidungsersuchen der nationalen Gerichte wie dem Finanzgericht aktiv einbezogen. Daher kommt nur eine Auslegung dergestalt in Betracht, dass nur der EuGH in Luxemburg und nicht auch der EGMR in Straßburg in die gesetzliche Regelung einbezogen ist. Das Finanzamt war im Streitfall auch nicht verpflichtet, das Einspruchsverfahren mit Zustimmung bzw. auf Antrag des Klägers ruhen zu lassen (§ 363 Abs. 2 Satz 1 AO). Bei dieser Entscheidung handelt es sich um eine Ermessensentscheidung. Der Senat kann bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens des Finanzamts setzen. Er darf die Ermessensausübung vielmehr nur daraufhin überprüfen, ob das Ermessen des Finanzamts im Streitfall auf Null geschrumpft war oder ein sonstiger Ermessensfehler vorlag. Derartige Ermessensverstöße vermag der Senat im Streitfall nicht zu erkennen.
Anmerkung: Der Kläger hat inzwischen beim BFH eine Beschwerde auf Zulassung der Revision erhoben. Das Verfahren ist beim BFH unter dem Az: X B 183/11 anhängig.
Quelle: FG Niedersachsen online
Hinweis: Derzeit sind beim EGMR mehrere Verfahren zum nationalen deutschen Steuerrecht anhängig. Durch den EGMR geprüft werden soll neben der im o.g. Verfahren bertoffenen pro-futuro-Rechtsprechung des BVerfG zum Sonderausgabenabzug von Krankenversicherungsbeiträgen (EGMR; Beschwerde-Nr. 2795/10) insbesondere auch die Frage einer verfassungswidrigen Benachteiligung von „normalen” Steuerpflichtigen gegenüber Abgeordneten im Hinblick auf die steuerfreie Kostenpauschale für Bundestagsabgeordnete (EGMR; Beschwerde-Nr. 7258/11). Weitere Verfahren betreffen den (alten) Entlastungsbetrag für Alleinerziehende und den Haushaltsfreibetrag (s. hierzu NWB OAAAD-32879).
Fundstelle(n):
WAAAF-43182