BSG Beschluss v. - B 10 ÜG 20/14 B

Instanzenzug: S 35 AL 810/03

Gründe:

I

1Die Klägerin begehrt eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens vor dem SG München (S 35 AL 810/03) und dem Bayerischen LSG (L 9 AL 113/08) in Höhe von 4500 Euro.

2Die 1963 geborene Klägerin war seit 1994 mit Unterbrechungen bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) - bis Bundesanstalt für Arbeit - arbeitslos gemeldet. Laut Verfahrensregister des SG München strengte die Klägerin allein in den Jahren 2000 bis 2004 rund 30 sozialgerichtliche Verfahren gegen die BA an. Beim BSG hat die Klägerin bisher mehr als 30 Verfahren geführt.

3Im 2003 begonnenen Ausgangsverfahren (S 35 AL 810/03) begehrte die Klägerin die Aufhebung der Aufforderung, sich im Rahmen erfolgloser Vermittlungsbemühungen der - damaligen - Bundesanstalt für Arbeit zu einer ärztlichen Untersuchung bei einem niedergelassenen Nervenarzt einzufinden, um ihre Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung zu prüfen (Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ). Klage und Berufung blieben ohne Erfolg, weil die Aufforderung sich nach Ansicht von SG und LSG durch Verstreichen des jeweiligen Termins erledigt habe und kein Fortsetzungsfeststellungsinteresse bestehe (Gerichtsbescheid vom sowie Berufungsurteil vom ).

4Das von der Klägerin angerufene Bayerische LSG hat als Entschädigungsgericht mit Urteil vom festgestellt, dass die Dauer des Klageverfahrens S 35 AL 810/03 vor dem SG München mit 58 Monaten unangemessen lang war. Gleichwohl hat das LSG einen Anspruch der Klägerin auf Zahlung einer Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer in diesem Gerichtsverfahren verneint, weil nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs 4 GVG ausreichend sei. Die Sache sei für die Klägerin von geringer Bedeutung gewesen. Der im Ausgangsverfahren angegriffene Bescheid mit einer Aufforderung zur ärztlichen Untersuchung habe die Klägerin nicht mehr nachteilig betroffen, nachdem der dort genannte Untersuchungstermin im Sommer 2003 verstrichen sei. Sie habe weder direkte noch indirekte Nachteile in Kauf nehmen müssen. Insbesondere sei keine Säumniszeit festgestellt worden. Auch als Fortsetzungsfeststellungsklage habe das Verfahren für die Klägerin nur noch geringe Bedeutung gehabt, da sich die BA schriftlich für verschiedene Fehler im Zusammenhang mit der psychologischen Einschätzung der Klägerin entschuldigt und zugesagt habe, einen entsprechenden Ergebnisbericht zurückzuziehen und nicht weiter zu verwenden. Nach diesem Entschuldigungsschreiben habe die Klägerin keine weiteren Aufforderungen der streitigen Art mehr erhalten. Die Amtshaftungsklage der Klägerin habe nach ihren Angaben ebenfalls keinen Erfolg gehabt.

5Dieses Urteil ist der Klägerin am zugestellt worden. Nach der Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des sie vertretenden Rechtsanwalts mit Beschluss vom hat die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG beim BSG Beschwerde eingelegt. Sie macht geltend, die Rechtssache weiche von der Rechtsprechung des BSG ab (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und es liege eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache vor (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).

II

6Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist teils unzulässig, teils unbegründet.

71. Soweit die Klägerin das Vorliegen einer Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) rügt, genügt die Beschwerde nicht den Darlegungsanforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG.

8Eine Abweichung (Divergenz) iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist nur dann ausreichend dargetan, wenn die Beschwerdebegründung schlüssig erklärt, mit welchem genau bestimmten entscheidungserheblichen Rechtssatz das angegriffene Urteil des LSG von welcher genau bestimmten rechtlichen Aussage des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 21, 29, 54). Dazu genügt es nicht darzulegen, die angefochtene Entscheidung entspreche nicht den Kriterien, die insbesondere das BSG aufgestellt hat, sondern es ist aufzuzeigen, inwiefern das LSG diesen Kriterien ausdrücklich widersprochen, also andere rechtliche Maßstäbe entwickelt hat (vgl dazu BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29, 67; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26). Zudem ist anzugeben, inwiefern die Entscheidung des LSG auf der Abweichung beruhen kann (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29, 54, 67).

9Diesen Anforderungen hat die Klägerin nicht hinreichend Rechnung getragen. Zwar behauptet sie eine Abweichung des LSG von den Urteilen des (B 10 ÜG 1/12 KL - BSGE 113, 75 = SozR 4-1720 § 198 Nr 1) und vom (B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4), weil das LSG in seinem Urteil vom in der den tragenden Gründen zugrunde liegenden Rechtsauffassung gegen Rechtsgrundsätze verstoße, die das BSG zur Auslegung des § 198 GVG herausgearbeitet habe und legt dies inhaltlich dar. Insbesondere habe der Rechtsstreit für die Klägerin eine erhebliche Bedeutung gehabt. Hätte das LSG für die Auslegung des § 198 Abs 4 GVG die vom BSG in den genannten Entscheidungen entwickelten Rechtsgrundsätze berücksichtigt, so wäre es in den tragenden Gründen betreffend die Überlänge des Verfahrens vor dem SG München zu einem anderen Ergebnis gekommen.

10Ungeachtet des Umstandes, dass es die Klägerin bereits versäumt hat, aus der Entscheidung des LSG sowie aus den genannten Entscheidungen des BSG konkrete Rechtssätze herauszuarbeiten, die sich widersprechen, kritisiert sie tatsächlich lediglich die Rechtsanwendung des LSG im konkreten Einzelfall - etwa: das LSG habe die Dauer der Überlänge des Verfahrens falsch bestimmt - und unterstellt dem LSG damit eine Abweichung von der Rechtsprechung des BSG. Die Klägerin legt gerade nicht dar, dass das LSG eine eigene, die Entscheidung tragende Rechtsansicht bewusst in Abweichung von der des BSG getroffen hat. Tatsächlich hat sich das LSG gerade die Rechtsprechung des BSG in seinem Urteil vom (dort S 11) ausdrücklich zu eigen gemacht und insbesondere auf die im (aaO) für die Beurteilung der Verfahrensdauer entwickelten Grundsätze abgestellt. Zu der Entscheidung des (B 10 ÜG 12/13 R, aaO) konnte das LSG keinen abweichenden Rechtssatz entwickeln, da die Entscheidung des LSG der Entscheidung des BSG zeitlich vorausging.

11Soweit die Beschwerde darüber hinaus kritisiert, das LSG habe bei der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer iS von § 198 GVG das Kriterium des Verhaltens der Verfahrensbeteiligten anders ausgelegt als das BSG und die Rechtsauffassung vertreten, die bloße Ablehnung eines Terminvorschlags lasse eine ansonsten festzustellende unangemessene Verfahrensdauer als angemessen erscheinen, zeigt sie wiederum keinen abstrakten Rechtssatz des LSG auf. Vielmehr wendet sie sich erneut gegen die Rechtsanwendung des LSG im Einzelfall, insbesondere gegen seine tatsächliche Würdigung des Verursachungsbeitrags der Klägerin zu der vom LSG festgestellten Überlänge des Verfahrens. Zudem fehlt es an der Darlegung, warum die Feststellung von weiteren Monaten einer Überlänge zu der von der Klägerin begehrten Entschädigung hätte führen können, obwohl das LSG die Bedeutung des Verfahrens insgesamt als gering und eine gerichtliche Feststellung der Überlänge daher ausnahmsweise als ausreichend angesehen hat.

12Damit hat das LSG zu keinem Zeitpunkt den Kriterien des BSG zur Auslegung des § 198 GVG widersprochen oder wollte es gar eigene Kriterien für dessen Definition entwickeln. Ob das LSG im Einzelfall richtig entschieden hat, ist nicht zulässiger Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).

132. Soweit die Klägerin als Zulassungsgrund eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) geltend macht, genügt die Beschwerdebegründung zwar den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Die Beschwerde hat insoweit jedoch keinen Erfolg, denn die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung mehr.

14Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt (vgl BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 39). Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht (vgl BSGE 40, 40 = SozR 1500 § 160a Nr 4) oder bereits höchstrichterlich entschieden ist (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 13, 65). Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage ist in diesem Sinne nicht mehr klärungsbedürftig.

15Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage, ob die "Bedeutung des Verfahrens" gemäß § 198 Abs 1 S 2 GVG aus der nachvollziehbaren Sichtweise der Verfahrensbeteiligten oder allein objektiv aus derjenigen des Gerichts zu beurteilen ist, erweist sich zumindest im maßgeblichen Zeitpunkt der Senatsentscheidung als nicht mehr klärungsbedürftig (vgl hierzu B 11b AS 61/06 B - Juris RdNr 7 mwN).

16Wie der Senat bereits entschieden hat, richtet sich die Angemessenheit gemäß § 198 Abs 1 S 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalles (vgl die Senatsentscheidung vom - B 10 ÜG 1/12 KL - BSGE 113, 75 = SozR 4-1720 § 198 Nr 1). Diese Rechtsprechung hat der Senat in seiner Sitzung vom weiterentwickelt. Zu den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls zählen demnach insbesondere Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (vgl Urteil vom - B 10 ÜG 2/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 3 RdNr 22 ff). Dabei ergibt sich die von § 198 Abs 1 S 2 GVG genannte Bedeutung eines Verfahrens aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten (vgl EGMR Urteil vom - Individualbeschwerde Nr 75529/01 Sürmeli/Deutschland RdNr 133, NJW 2006, 2389; BVerwGE 147, 146). Zur Bedeutung der Sache iS von § 198 Abs 1 S 2 GVG trägt dabei im Kontext des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz maßgeblich das Interesse des Betroffenen gerade an einer raschen Entscheidung bei. Entscheidend ist deshalb auch, ob und wie sich der Zeitablauf nachteilig auf die Verfahrensposition des Klägers und das geltend gemachte materielle Recht sowie möglicherweise auf seine weiteren geschützten Interessen auswirkt (vgl BSG, aaO, RdNr 29 mwN; B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 35 und Urteil vom - B 10 ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 38).

17In nachfolgenden Entscheidungen hat der Senat die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Geldentschädigung nach § 198 GVG, wie ihn auch die Klägerin verfolgt, weiter konkretisiert. Demnach kommt bei festgestellter Überlänge eines Gerichtsverfahrens eine Wiedergutmachung auf andere Weise als durch Geldentschädigung gemäß § 198 Abs 2 S 2 iVm Abs 4 GVG allenfalls ausnahmsweise in Betracht, wenn das Verfahren beispielsweise für den Entschädigungskläger aus der Sicht eines verständigen Dritten in der Lage des Klägers keine besondere Bedeutung hatte oder dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen hat ( B 10 ÜG 7/14 R - RdNr 43 - Juris; vgl ebenfalls B 10 ÜG 9/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 6 RdNr 50).

18Die Bedeutung des Verfahrens ist demnach weder, wie die Klägerin meint, überwiegend subjektiv aus der Perspektive des Verfahrensbeteiligten noch allein aus der Sicht der Gerichtsinstanz, sondern nach dem objektivierten Klägerhorizont zu beurteilen, wie ihn der Senat in den zitierten Entscheidungen zugrunde gelegt hat. Davon ist im Übrigen auch das LSG ausgegangen, indem es aus der objektivierten Sicht der Klägerin nachvollziehbar eine nur noch geringe Bedeutung des Verfahrens angenommen hat, nachdem sich die streitbefangene Untersuchungsaufforderung erledigt und die BA insoweit Versäumnisse eingeräumt hatte. Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage ist damit geklärt. Warum gleichwohl noch Klärungsbedarf fortbestehen sollte, hat sie bei ihrer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BSG nicht begründen können (vgl dazu BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2). Insbesondere hat sie weder dargelegt noch ist sonst ersichtlich, welche Besonderheiten ihr Fall aufweisen sollte, die noch einer grundsätzlichen rechtlichen Einordnung und Klärung bedürften.

193. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO.

204. Die Streitwertentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 52 Abs 1 und 3 GKG. Da die Klägerin einen immateriellen Schaden in Höhe von 4500 Euro geltend macht, ist der Streitwert in dieser Höhe festzusetzen.

Fundstelle(n):
PAAAF-01552