SteuerStud Nr. 9 vom Seite 517

Der BFH und das Recht auf Vergessen

Prof. Dr. Franz Jürgen Marx | Herausgeber | steuerstud-redaktion@nwb.de

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

von Honoré de Balsac, dem französischen Romancier des 19. Jahrhunderts, stammt der Ausspruch „Die Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich.“ Heute verfügen wir über modernste Informations- und Kommunikationstechnologie; trotzdem bleibt menschliches Handeln fehlerbehaftet. Unser Gehirn verfügt nicht über beliebig viel Speicherplatz. Das betrifft allerdings nach den Erkenntnissen der Hirnforschung nur das Kurzzeit-, nicht das Langzeitgedächtnis. Dem hat kürzlich der IX. Senat des BFH in einer klugen Entscheidung vom - IX R 18/14 NWB YAAAE-93365 Rechnung getragen.

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. „Grobes Verschulden“ liegt bei vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Handeln vor. „Grob fahrlässig“ agieren Steuerpflichtige, wenn sie die nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem, nicht entschuldbarem Maße verletzen. Der Begriff des „Verschuldens“ ist bei elektronisch gefertigten Steuererklärungen in gleicher Weise auszulegen wie bei papierschriftlich angefertigten Erklärungen.

Nach Ansicht des BFH ist nunmehr das schlichte „Vergessen“ des Übertrags selbst ermittelter Besteuerungsgrundlagen – im vorliegenden Streitfall ein Verlustbetrag – in die entsprechende Anlage zu einer elektronischen Einkommensteuererklärung nicht grds. als „grob fahrlässig“ anzusehen. Bei der Beurteilung des „individuellen Verschuldens“ des Steuerpflichtigen oder seines Beraters seien die Besonderheiten der elektronischen Steuererklärung hinsichtlich ihrer Übersichtlichkeit ebenso zu berücksichtigen wie der Umstand, dass am Computerbildschirm ein Überblick über die ausfüllbaren Felder der elektronischen Steuererklärung mitunter schwieriger zu erlangen sei, als in einer Steuererklärung in Papierform. Bloße Übertragungs- oder Eingabefehler zählen nach Auffassung des Gerichts zu den Nachlässigkeiten, die üblicherweise vorkämen und mit denen immer gerechnet werden müsse; sie seien jedenfalls dann nicht als „grob fahrlässig“ zu werten, wenn sie selbst bei sorgfältiger Arbeit nicht zu vermeiden seien.

Fehler können in den steuerberatenden Berufen in ganz unterschiedlichen Bereichen auftreten. Wichtig ist es für Individuen und Organisationen, eine positive Fehlerkultur zu entwickeln, Fehler transparent zu machen und daraus zu lernen. Gerd Gigerenzer formuliert das in dem sehr lesenswerten Buch „Risiko“ (2013, S. 69) folgendermaßen: „Gute Fehler helfen uns, zu lernen und zu entdecken. Ein System, das keine Fehler macht, lernt wenig und entdeckt noch weniger [...]. Intelligenz, Kreativität und Innovation versiegen, wenn man den Menschen verbietet, Fehler zu machen [...]. Schlecht sind Fehler, wenn sie nicht zum Lernen oder zur Entdeckung führen [...].“

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Spaß bei der Lektüre des aktuellen Hefts.

Herzliche Grüße

Ihr

P.S. Die SteuerStud und darüber hinaus die NWB Datenbank unterstützen Sie umfassend gegen das Vergessen! ;-)

Franz Jürgen Marx

Fundstelle(n):
SteuerStud 9/2015 Seite 517
NWB BAAAE-99096