BFH Urteil v. - VIII R 65/13

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und der Sachaufklärungspflicht; ergänzende Erläuterungen innerhalb einer gesetzten Ausschlussfrist

Leitsatz

1. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und der Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 FGO kann gegeben sein, wenn das Finanzgericht (FG) das Vorbringen eines Klägers zu Unrecht gemäß § 79b Abs. 3 FGO zurückweist.
2. Eine Aufforderung des FG zu ergänzenden Ausführungen ist keine Aufforderung nach § 79b FGO, wenn sie keinen Hinweis darauf enthält, dass das FG einen nach Ablauf einer bestimmten Frist eingehenden Vortrag nach Maßgabe des § 79b Abs. 3 FGO zurückweisen werde.
3. Das FG kann ergänzende Erläuterungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht ohne Sachprüfung des Vortrags allein wegen Ablaufs einer Ausschlussfrist zurückweisen, wenn der Kläger auf diese Frist fristgerecht reagiert hat.

Gesetze: FGO § 79b Abs. 3, FGO § 96 Abs. 2, FGO § 76 Abs. 1, FGO § 90 Abs. 1, GG Art. 103 Abs. 1

Instanzenzug: ,

Tatbestand

1 I. Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der Einkommensteuerveranlagung des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) für das Streitjahr 2002 negative Einnahmen bei den Einkünften aus Kapitalvermögen in Höhe von 8.132,10 € zu berücksichtigen sind.

2 Dies lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) ab.

3 Daraufhin erhob der Kläger nach erfolglosem Einspruchsverfahren —ohne Prozessvertreter— Klage vor dem Finanzgericht (FG), das ihn mit Verfügung vom mit Ausschlussfrist nach § 79b Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bis zum aufforderte, „die Höhe der von ihm für das Jahr 2002 geltend gemachten negativen Einnahmen aus Kapitalvermögen an Hand von Steuerbescheinigungen bzw. Belegen und unter Vorlage einer detaillierten, nachvollziehbaren Berechnung“ zu belegen.

4 Mit Schreiben vom teilte der Kläger dem FG mit, er könne der Aufforderung noch nicht nachkommen, weil das FA die von ihm dorthin übersandten Bankbelege zum Nachweis negativer Einnahmen aus Kapitalvermögen nicht zurückgesandt habe.

5 Nachdem das FA diese Belege am an das FG übersandt hatte, schrieb das Gericht dem Kläger unter Hinweis auf diese Unterlagen, nunmehr werde eine detaillierte nachvollziehbare Berechnung der geltend gemachten negativen Einnahmen aus Kapitalvermögen bis zum erwartet.

6 Daraufhin führte der Kläger mit Schreiben an das aus, beim Vergleich der Einspruchsentscheidung vom mit dem Inhalt der übersandten Kopien ergebe sich, dass das FA bei der Steuerfestsetzung vom nachgewiesene Einnahmen in Höhe von ./. 8.132,10 € nicht berücksichtigt habe. Die für die Ermittlung dieses Betrags erforderlichen Details seien in —im Einzelnen enumerativ aufgelisteten— Belegen aufgeführt. Somit sei die Berechnung mit den vorliegenden Unterlagen nachvollziehbar. Sollte das FG trotzdem noch Fragen haben, bitte er, diese konkret zu nennen.

7 Im Anschluss daran setzte das FG —nach zweimaliger interner Wiedervorlagefrist des Berichterstatters von einmal drei Monaten sowie einmal vier Monaten— den Termin zur mündlichen Verhandlung am an, ohne zu dem Schreiben des Klägers oder zur Notwendigkeit weiterer Angaben Stellung zu nehmen.

8 Das Protokoll über die mündliche Verhandlung stellt u.a. Folgendes fest:

9 „Herr X überreicht eine Aufstellung mit fünf Beträgen, die in der Summe 8.132,10 € ergeben. Die Aufstellung wird dem Beklagtenvertreter in Kopie überreicht. Herr X erläutert exemplarisch anhand zweier Belege, wie die ersten beiden Beträge zustande kommen.

10 Der Beklagtenvertreter erklärt, er könne dies so nicht nachprüfen und bewerten.“

11 Daraufhin wies das FG die Klage unter Bezugnahme auf die Gründe der Einspruchsentscheidung des FA mit seinem Urteil vom 10 K 10073/10 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2014, 367) als unbegründet ab.

12 Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht des Gerichts nach § 76 Abs. 1 FGO.

13 Er sei den Aufforderungen des FG zur Darlegung seines Begehrens mit Schriftsatz vom nachgekommen. Im Hinblick auf die nicht berücksichtigten negativen Einnahmen in Höhe von 8.132,10 € habe er auf die dem Gericht vorliegenden Belege vom , , , , , und verwiesen und ausdrücklich darum gebeten, bei weitergehenden Fragen einen entsprechenden Hinweis zu geben.

14 Entsprechende Fragen habe das FG erst in der mündlichen Verhandlung gestellt. Die daraufhin gegebenen Erläuterungen habe das FG gemäß § 79b Abs. 3 FGO zur Vermeidung einer Verzögerung des Rechtsstreits zurückgewiesen, obwohl er berechtigterweise wegen fehlender Anforderung weiterer Informationen davon habe ausgehen können, dass seine Berechnung im Schriftsatz vom ausreichend gewesen sei.

15 Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

16 Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Revision sei unabhängig von der Frage, ob ein Verfahrensfehler vorliege, unbegründet, weil selbst bei Berücksichtigung des Klägervortrags in der mündlichen Verhandlung keine andere Entscheidung in der Sache möglich gewesen sei.

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b) Zum anderen hat der Kläger auf die Verfügung des nach Eingang dieser vom FA übersandten Unterlagen werde
   
"nunmehr bis zum die Vorlage einer detaillierten, nachvollziehbaren Berechnung der geltend gemachten negativen Einnahmen aus Kapitalvermögen erwartet“,
mit Schreiben vom Stellung genommen und ausgeführt,
   
"beim Vergleich der Einspruchsentscheidung vom mit dem Inhalt der übersandten Kopien ergebe sich, dass das FA bei der Steuerfestsetzung vom nachgewiesene Einnahmen in Höhe von ./. 8.132,10 € nicht berücksichtigt habe. Die für die Ermittlung dieses Betrages erforderlichen Details seien in —im Einzelnen enumerativ aufgelisteten— Belegen aufgeführt. Somit sei die Berechnung mit den vorliegenden Unterlagen nachvollziehbar. Sollte das FG trotzdem noch Fragen haben, bitte er, diese konkret zu nennen“.

Gründe

18 II. Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).

19 Mit der Zurückweisung des Klägervortrags in der mündlichen Verhandlung nach § 79b Abs. 3 FGO hat das FG den Anspruch auf rechtliches Gehör hinsichtlich dieses Vortrags nach § 96 Abs. 2 FGO sowie seine Amtsermittlungspflicht nach § 76 Abs. 1 FGO verletzt.

20 1. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) und der Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 FGO kann gegeben sein, wenn das FG das Vorbringen eines Klägers zu Unrecht gemäß § 79b Abs. 3 FGO zurückweist (, BFH/NV 2005, 2038). Nach dieser Vorschrift können Erklärungen und Beweismittel u.a. nur dann zurückgewiesen werden, wenn das FG Fristen i.S. von § 79b Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 FGO wirksam gesetzt hat und der Steuerpflichtige diesen Pflichten in unentschuldbarer Weise nicht nachgekommen ist (vgl. , juris).

21 2. Das FG hat zu Unrecht den Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung allein unter Hinweis auf den Ablauf der mit Verfügung vom gesetzten Frist —am — unbeachtet gelassen.

22 a) Zum einen hatte der Kläger innerhalb der gesetzten Frist auf die Verfügung mit dem zutreffenden Hinweis reagiert, die die Aufforderung betreffenden Unterlagen lägen noch dem FA vor.

24 Selbst wenn das FG diese Ausführungen nicht als hinreichende Beantwortung seiner Verfügung vom hätte ansehen dürfen, konnte es die ergänzenden Erläuterungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht ohne Sachprüfung des Vortrags allein wegen Ablaufs der am gesetzten Ausschlussfrist zurückweisen. Denn auf diese Frist hatte der Kläger fristgerecht reagiert.

25 Die Aufforderung des Gerichts vom zu ergänzenden Ausführungen war demgegenüber schon deshalb keine Aufforderung nach § 79b FGO, weil sie keinen Hinweis darauf enthielt, dass das Gericht nach Ablauf einer bestimmten Frist eingehenden Vortrag nach Maßgabe des § 79b Abs. 3 FGO zurückweisen werde.

26 c) Bei dieser Sachlage hätte es der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nach § 96 Abs. 2 FGO geboten, nicht ohne sachliche Beurteilung des Vortrags in der mündlichen Verhandlung über die Klage zu entscheiden (vgl. BFH-Beschlüsse vom VIII B 153/06, BFH/NV 2008, 389; vom IX B 12/08, BFH/NV 2008, 1509; vom I B 58/08, BFH/NV 2009, 176; vom I B 178/08, BFH/NV 2009, 1596, zum Verfahrensfehler durch erkennbare Nichtberücksichtigung eines Vortrags in der mündlichen Verhandlung).

27 Soweit sich das FG mit Blick auf die im Protokoll dokumentierte Auffassung des FA, in der mündlichen Verhandlung zu dem neuen Vortrag noch nicht Stellung nehmen zu können, an einer abschließenden Entscheidung über diesen Vortrag gehindert gesehen hat, hätte es deshalb zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 96 Abs. 2 FGO die Sache vertagen müssen (zum Anspruch auf Vertagung bei neuem Vortrag , BFH/NV 2006, 133, m.w.N.).

28 3. Die Sache ist nicht spruchreif. Da das FG den ergänzenden Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht protokolliert hat, kann der Senat nicht abschließend dessen Entscheidungserheblichkeit beurteilen, so dass die Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist.

29 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
WAAAE-96111