BSG Beschluss v. - B 13 R 379/14 B

Instanzenzug: S 22 R 4476/11

Gründe:

1Das LSG Baden-Württemberg hat im Urteil vom einen Anspruch des Klägers auf höhere - nicht um einen Abschlag wegen Inanspruchnahme vor Vollendung des 65. Lebensjahrs geminderte - Rente wegen voller Erwerbsminderung verneint.

2Der Kläger macht mit seiner beim BSG erhobenen Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem genannten Urteil eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend.

3Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Seine Beschwerdebegründung vom genügt nicht der vorgeschriebenen Form, da in ihr eine grundsätzliche Bedeutung nicht ordnungsgemäß dargelegt ist (§ 160 Abs 2 Nr 1 iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG).

4Zur formgerechten Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache ist in der Beschwerdebegründung eine konkrete Rechtsfrage in klarer Formulierung zu bezeichnen und schlüssig aufzuzeigen, dass diese klärungsbedürftig, in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 19; Nr 22 RdNr 5; BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 5 RdNr 2 ff; Nr 9 RdNr 4 - jeweils mwN). Es muss aus der Beschwerdebegründung ersichtlich sein, dass sich die Antwort auf die Rechtsfrage nicht ohne Weiteres aus dem Gesetz oder der bisherigen Rechtsprechung ergibt; hierzu bedarf es der Auseinandersetzung mit den vorinstanzlichen Entscheidungen und sonstiger einschlägiger Rechtsprechung. Diese Anforderungen, die allerdings nicht überspannt werden dürfen, sind verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG [Kammer] SozR 4-1500 § 160a Nr 12 RdNr 3 f; Nr 16 RdNr 4 f; Nr 24 RdNr 5 ff).

5Die Beschwerdebegründung des Klägers genügt diesen Erfordernissen nicht. Er benennt folgende Fragen als klärungsbedürftig:

1. "Verstößt die Regelung des § 77 SGB VI (Zugangsfaktor - versicherungsmathematische Abschläge) gegen Art. 14 EMRK i.V.m. der EG-Verordnung 883/2004 des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit?"

2. "Sind die Rentenbescheide mit Dauerwirkung, die einen geschmälerten Zugangsfaktor nach § 77 SGB VI inne haben, mit Inkrafttreten des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes zum verfassungswidrig geworden?"

6(1) Zur ersten Frage trägt er weiter vor, es werde von ihm unumwunden an der Rechtsauffassung festgehalten, dass § 77 SGB VI gegen das Diskriminierungsverbot verstoße, wobei Art 14 EMRK im Prinzip wie Art 3 GG zu bewerten sei. Die Auffassung, dass die EMRK als supranationales Recht nicht über dem GG stehe, sei unzutreffend; die Auslegung des BVerfG zur Gültigkeit der EMRK im Rahmen des GG stelle eine Abschnürung des Europarechts dar. Aus den Entscheidungen des BVerfG wie des BSG sei "in keinster Weise ersichtlich, dass jemals zu Art. 14 EMRK und insbesondere allerdings auch zu der EG-Verordnung 883/2004 Stellung bezogen wurde". Die Frage sei auch klärungsfähig, denn wenn ein Verstoß gegen Art 14 EMRK iVm der EGV 883/2004 vorliege, "dann wäre der Fall hier anders zu entscheiden".

7Damit ist jedoch weder die Klärungsfähigkeit noch die Klärungsbedürftigkeit der Frage zur Vereinbarkeit des § 77 SGB VI mit Europarecht hinreichend dargetan. Ob die Beantwortung dieser Frage für den Ausgang des Rechtsstreits erheblich ist, könnte der Senat nur sicher beurteilen, wenn der Kläger den entscheidungserheblichen Sachverhalt vollständig wiedergegeben hätte. Hieran fehlt es. Die allenfalls fragmentarischen Angaben lassen lediglich erahnen, dass der Kläger eine Rente wegen Erwerbsminderung bezieht und dabei vom Umfang her nicht näher bezeichnete Kürzungen hat hinnehmen müssen. Mit welcher Begründung das LSG diese Kürzungen für rechtmäßig erachtet hat, lässt sich dem Vorbringen des Klägers jedoch nicht entnehmen. Es ergibt sich daraus ebenfalls nicht, in welcher Hinsicht auf der Grundlage bereits vorhandener oberstgerichtlicher Rechtsprechung noch weiterer Klärungsbedarf besteht. Soweit der Kläger die Vereinbarkeit von § 77 SGB VI mit dem Diskriminierungsverbot des Art 14 EMRK in Frage stellt, trägt er selbst vor, dass sich aus Art 14 EMRK im Prinzip dieselben Anforderungen ergäben wie aus Art 3 GG. Weshalb dann trotz der Entscheidung des welche die Vereinbarkeit einer Kürzung des Zugangsfaktors bei Renten wegen Erwerbsminderung mit Art 3 Abs 1, Abs 3 S 2 GG festgestellt hat (vgl BVerfGE 128, 138, 156 f = SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 53 ff), diese Frage einer weiteren Klärung bedarf, stellt der Kläger nicht dar. Seine Ausführungen lassen zudem völlig offen, gegen welche der zahlreichen Vorschriften der EGV 883/2004 die Regelung in § 77 SGB VI verstoßen soll und weshalb im Fall des Klägers ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt, der eine Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit nach Maßgabe der EGV 883/2004 erforderlich macht. Schließlich fehlt jegliche Auseinandersetzung mit Entscheidungen des BSG, die zu Art 14 EMRK sowie zur EGV 883/2004 ergangen sind (zB Senatsurteil vom - B 13 R 17/11 R - BSGE 111, 177 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 26 ff, 29, 57).

8(2) Zur zweiten Frage führt der Kläger aus, das BVerfG habe die Kürzung des Zugangsfaktors nach § 77 SGB VI nur deshalb für verfassungsgemäß angesehen, weil es dem Gesetzgeber in Notsituationen einen weiten Gestaltungsspielraum zugebilligt habe. Jedoch sei die Notsituation zum weggefallen, wie die Leistungsausweitungen durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz belegten. Sie zeigten, "dass mehr Geld als genug da ist" und führten dazu, dass die durch das BVerfG gerechtfertigten Eingriffe in das Eigentumsgrundrecht automatisch verfassungswidrig würden. Denn der Gesetzgeber habe "die Verpflichtung gehabt und sich genötigt fühlen müssen, unverzüglich und als allererstes die versicherungsmathematischen Abschläge zu beseitigen für die Bestandsrentner".

9Die Frage nach der Verfassungswidrigkeit von Rentenbescheiden ab einem bestimmten Zeitpunkt bezeichnet jedoch keine Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zur Auslegung, zur Anwendbarkeit oder zur Vereinbarkeit einer Norm des Bundesrechts mit höherrangigem Recht. Doch auch wenn man ihr wohlwollend die Rechtsfrage entnimmt, ob die Abschlagsregelung in § 77 SGB VI mit Inkrafttreten des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes am wegen Verletzung des Eigentumsgrundrechts (Art 14 Abs 1 GG) verfassungswidrig geworden sei, hat der Kläger deren Klärungsbedürftigkeit nicht in der erforderlichen Weise unter eingehender Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BVerfG aufgezeigt. Durch nichts belegt ist schon seine Prämisse, das BVerfG habe im Beschluss vom (BVerfGE 128, 138 = SozR 4-2600 § 77 Nr 9) die Begrenzung von Rentenanwartschaften über einen Zugangsfaktor nur für die Dauer von Notsituationen - gleichsam als "Notstandsgesetz" - als verfassungskonform beurteilt. Im Übrigen hat der Kläger nicht dargelegt, weshalb auf der Grundlage des von ihm selbst betonten weiten Gestaltungsspielraums der Gesetzgeber von Verfassungs wegen verpflichtet sein soll, im Falle einer deutlichen Verbesserung der Finanzsituation der gesetzlichen Rentenversicherung zuvörderst die unter versicherungsmathematischen Gesichtspunkten als sachlich gerechtfertigt angesehenen Rentenabschläge bei vorzeitiger Inanspruchnahme (BVerfGE 128, 138, 151 = SozR 4-2600 § 77 Nr 9 RdNr 41) wieder zu beseitigen und andere Gemeinwohlziele, die zB mit der "Mütterrente" verfolgt werden, als nachrangig hintanzustellen. Allein die Behauptung, dass dies nach eigener Rechtsmeinung so sein müsse, genügt zur Bezeichnung einer ernstlich klärungsbedürftigen verfassungsrechtlichen Frage nicht.

10(3) Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang zusätzlich rügt, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil es sich mit der Rechtsfrage zu (2) nicht auseinandergesetzt, sondern diese aufgrund einer fehlerhaften Eingrenzung des Streitgegenstands als irrelevant bezeichnet habe, ist auch ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, nicht schlüssig bezeichnet (§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG). Denn wenn das LSG versehentlich nur über den streitigen Zeitraum bis zum entschieden hat, obwohl in Wirklichkeit auch der darüber hinausgehende Zeitraum bis zur mündlichen Verhandlung des Berufungsgerichts im September 2014 Streitgegenstand war, so hätte der Kläger zunächst binnen eines Monats nach Zustellung des LSG-Urteils dessen Ergänzung beantragen müssen (§ 140 Abs 1 SGG), da dies der insoweit speziellere und vorrangige Rechtsbehelf darstellt ( - SozR 4-1500 § 160a Nr 4 RdNr 4; Senatsbeschluss vom - B 13 R 454/12 B - Juris RdNr 19). Dass er einen solchen Antrag gestellt habe, hat der Kläger nicht vorgetragen.

11Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

12Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

13Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.

Fundstelle(n):
QAAAE-94130