Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer - Maßgeblichkeit des tatsächlichen „Besitzes“ eines aufenthaltsrechtlichen Titels
Leitsatz
Erteilt die Ausländerbehörde rückwirkend einen Aufenthaltstitel, der nach § 62 Abs. 2 EStG zur Inanspruchnahme von Kindergeld berechtigt, so hat dies kindergeldrechtlich keine Rückwirkung. Für den Anspruch auf Kindergeld ist vielmehr der „Besitz“ eines solchen Aufenthaltstitels erforderlich. Dies setzt voraus, dass der Kindergeldberechtigte den Titel im maßgeblichen Anspruchszeitraum tatsächlich in den Händen hält.
Gesetze: EStG § 62 Abs. 2; EStG § 66; AufenthG § 28; AufenthG § 4; FGO § 74;
Instanzenzug: (EFG 2014, 1416),
Tatbestand
1 I. Es ist streitig, ob der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) für ihre am geborene Tochter Kindergeld für die Zeit ab der Geburt bis Juni 2013 zusteht.
2 Die Klägerin ist nigerianische, die Tochter deutsche Staatsangehörige. Die Klägerin reiste mit einem vom bis gültigen Besuchsvisum in die Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) ein. Am beantragte sie unter Hinweis auf ihre Schwangerschaft eine Duldung. Dem Antrag war eine notarielle Urkunde beigefügt, in der U, deutscher Staatsangehöriger, die Vaterschaft für das zu erwartende Kind anerkannte.
3 Ab dem gewährte die Stadt…ihr daraufhin eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Nach der Geburt des Kindes beantragte die Klägerin am eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Da die Stadt…die biologische Vaterschaft des U anzweifelte, wurde ein Verfahren zur Überprüfung der Vaterschaft bei der Bezirksregierung…eingeleitet. Am übersandte die Klägerin der Stadt…ein Vaterschaftsgutachten vom , in dem die Vaterschaft des Herrn U bestätigt wurde. Die Stadt…erteilte der Klägerin daraufhin am eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, die zur Ausübung der Erwerbstätigkeit berechtigte.
4 Im Oktober 2012 beantragte die Klägerin bei der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) Kindergeld. Dies lehnte die Familienkasse am mit der Begründung ab, dass kein nach § 62 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorgesehener Aufenthaltstitel vorliege. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom zurück.
5 Während des sich anschließenden Klageverfahrens teilte die Ausländerbehörde der Stadt…auf Nachfrage des Finanzgerichts (FG) diesem zunächst mit, dass die Aufenthaltserlaubnis ab der Ersterteilung gelte. Mit einem weiteren Schreiben vom erklärte die Ausländerbehörde, dass der Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis bereits seit der Geburt des Kindes bestanden habe.
6 Das FG gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2014, 1416 veröffentlichten Gründen statt.
7 Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts. Zur Begründung macht sie geltend, das Gesetz knüpfe explizit an den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis an.
8 Die Familienkasse beantragt (sinngemäß),
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
9 Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
die Revision zurückzuweisen.
10 Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO— i.V.m. § 121 FGO).
Gründe
11 II. Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des Urteils und zur Klageabweisung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Das FG hat zu Unrecht die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG bejaht.
12 1. Gemäß § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG erhält ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer —wie die Klägerin— für Kinder i.S. des § 63 EStG Kindergeld nur, wenn sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt oder berechtigt hat, sofern es sich nicht um einen der in § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a bis c EStG genannten Aufenthaltstitel handelt.
13 § 62 Abs. 2 EStG knüpft nach seinem eindeutigen Wortlaut an den „Besitz“ einer Aufenthaltserlaubnis an. Diese Voraussetzung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nur und erst dann erfüllt, wenn der Ausländer eine Aufenthaltsgenehmigung der gesetzlich vorgeschriebenen Art tatsächlich in Händen hält, ihm also das Aufenthaltsrecht in Deutschland durch entsprechenden Verwaltungsakt mit Wirkung für die Bezugszeit des Kindergeldes zugebilligt worden ist (, BFH/NV 1998, 696, unter II.). Nicht entscheidend ist, ob ein Anspruch auf einen entsprechenden Titel bestand (, BFHE 229, 262, BStBl II 2010, 980, Rz 13, m.w.N.; BFH-Beschlüsse vom III B 88/13, BFH/NV 2014, 517, Rz 16, und vom III B 152/08, BFH/NV 2009, 1811, unter II.2., m.w.N.). Der Kindergeldanspruch setzt vielmehr voraus, dass der Kindergeldberechtigte im maßgeblichen Streitzeitraum einen Aufenthaltstitel tatsächlich (körperlich) in den Händen hält (Senatsbeschluss vom III B 138/11, BFH/NV 2013, 372, Rz 5; , EFG 2014, 1597).
14 Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin im Streitzeitraum zunächst keinen der in § 62 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 EStG aufgeführten Aufenthaltstitel. Erst während des Klageverfahrens erhielt sie die Aufenthaltserlaubnis. Die Erklärung der Ausländerbehörde, dass die aufenthaltsrechtliche Wirkung der Aufenthaltserlaubnis ab dem Zeitpunkt der Geburt gelte, ändert nichts an dem Umstand, dass die Klägerin in den Monaten August 2012 bis Juni 2013 keinen Aufenthaltstitel besessen hat.
15 2. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels der zum Bezug von Kindergeld berechtigt, führt nicht rückwirkend zu einem Anspruch auf Kindergeld (Wendl in Hermann/Heuer/Raupach, § 62 EStG Rz 14; Blümich/Treiber, § 62 EStG Rz 40; a.A. , EFG 2005, 980; Bauhaus, EFG 2014, 1418). Dabei lässt der Senat dahinstehen, ob ein solcher Aufenthaltstitel mit rückwirkendem Geltungsbeginn im vorliegenden Fall überhaupt durch die außerhalb des Titels abgegebene nachträgliche Erklärung der Stadt ..., der Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sei bereits ab „Geburt des Kindes…entstanden“, vorliegt. Das Tatbestandsmerkmal „im Besitz“ steht einem rückwirkenden Bezug von Kindergeld auch dann entgegen, wenn ein Aufenthaltstitel rückwirkend erteilt wird.
16 a) Der Kindergeldanspruch richtet sich —dem Monatsprinzip nach § 66 Abs. 2 EStG folgend— danach, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld im jeweiligen Monat vorliegen (, BFHE 239, 327, BStBl II 2013, 491, Rz 13). Entscheidend ist daher, ob zumindest an einem Tag des jeweils monatlichen Leistungszeitraums die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch tatsächlich vorliegen (, BFHE 242, 399, BStBl II 2014, 37, Rz 15).
17 § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG bringt deutlich zum Ausdruck, dass nur derjenige einen Anspruch auf Kindergeld haben soll, der eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, die selbst zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt oder berechtigt hat. Nicht entscheidend ist zwar, ob er tatsächlich erwerbstätig ist. Das Gesetz stellt aber auf die mögliche Integration von Ausländern in den deutschen Arbeitsmarkt ab. Damit ist der Gesetzgeber den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in seinem Beschluss vom 1 BvL 4/97 (BVerfGE 111, 160) nachgekommen, das beanstandet hatte, dass die frühere Regelung nur ausländische Eltern benachteiligte, die legal in Deutschland lebten und bereits in den Arbeitsmarkt integriert waren. Bei Ausländern, denen keine Erwerbstätigkeit erlaubt ist, ging der Gesetzgeber wie das BVerfG davon aus, dass das Existenzminimum ihrer Kinder durch staatliche Fürsorgeleistungen in ausreichendem Maße gesichert ist (BTDrucks 16/1368, S. 9, BVerfG-Beschluss in BVerfGE 111, 160).
18 Ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer, der nicht im Besitz einer zur Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltserlaubnis ist, kann eine legale Erwerbstätigkeit nicht aufnehmen und somit nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden. Denn der Arbeitgeber ist gemäß § 4 Abs. 3 Satz 4 AufenthG verpflichtet zu überprüfen, ob ein entsprechender Aufenthaltstitel vorliegt, aus dem sich erkennbar die Erlaubnis einer Beschäftigung ergeben muss (§ 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Daher kann regelmäßig —von den Ausnahmen in § 4 Abs. 2 Satz 3 AufenthG (Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit) abgesehen— eine rechtmäßige Beschäftigung nur erfolgen, wenn der Arbeitnehmer einen entsprechenden Titel zu Beginn der Beschäftigung tatsächlich in den Händen hält. Daran ändert auch eine mögliche rückwirkende Erteilung nichts. Sofern die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Erwerbsberechtigung als zulässig angesehen wird, gilt dies nur, soweit der Ausländer die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum beansprucht, weil er ein schutzwürdiges Interesse daran hat. Ein schutzwürdiges Interesse wird dann angenommen, wenn es für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein kann, von welchem Zeitpunkt an der Ausländer den begehrten Aufenthaltstitel besitzt (, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2009, 1431, unter 3.; Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 19 K 365.12, nicht veröffentlicht —n.v.—, Rz 26 f.). Die aus aufenthaltsrechtlichen Gründen erteilte rückwirkende Aufenthaltsbefugnis ändert nichts daran, dass in der Zeit bis zur Erteilung des Aufenthaltstitels keine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden konnte.
19 b) Indem § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis mit dem weiteren Merkmal der Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit verknüpft, bringt die Vorschrift damit deutlich zum Ausdruck, dass die betreffende Aufenthaltserlaubnis zumindest an einem Tag des monatlichen Leistungszeitraums tatsächlich vorgelegen haben muss.
20 Diese Auslegung knüpft an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu vergleichbaren Vorschriften an. Soweit § 1 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG), § 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes, § 1 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes für die entsprechenden Leistungen eines nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländers den Besitz eines entsprechenden Aufenthaltstitels voraussetzt, liegt ein solcher nur vor, wenn die Ausländerbehörde bereits zu Beginn des Leistungszeitraums ein entsprechendes Aufenthaltsrecht förmlich festgestellt hat (, RegNr 31398; , BSGE 107, 1, Rz 29; , NVwZ 1998, 1110; vom 10 RKg 24/95, SGb 1997, 216; vom 14/14b REg 9/93, InfAuslR 1994, 320; vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom L 12 EG 66/12, n.v.; Landessozialgericht —LSG— Baden-Württemberg, Urteil vom L 11 EG 3136/13, n.v., Rz 35; , n.v., Rz 34). Ausdrücklich stellt das BSG fest, dass für den Anspruch auf Bundeserziehungsgeld die Erteilung eines Aufenthaltstitels, in dem die Geltungsdauer auf einen Zeitpunkt vor seiner tatsächlichen Erteilung zurückreicht, keine rückwirkende Kraft entfaltet (BSG-Teilurteil in BSGE 107, 1, unter 2., und BSG-Urteil in NVwZ 1998, 1110, Rz 13; vgl. , n.v., Rz 35). Selbst wenn daher die hier vorliegende nachträgliche Erklärung der Stadt…als Anordnung der Rückwirkung des Aufenthaltstitels anzusehen sein sollte, lässt die Erteilung des Titels den Anspruch auf Kindergeld erst für die Zukunft entstehen.
21 c) Nach Auffassung des Senats kommt auch mangels einer planwidrigen Regelungslücke eine analoge Anwendung von § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht in Betracht, wenn nach Ablauf des Leistungszeitraums eine Aufenthaltserlaubnis mit einer rückwirkenden Geltungsdauer erteilt wird. Der Fall, dass eine Aufenthaltserlaubnis eine bestimmte Überprüfungszeit in Anspruch nimmt, kommt in der Praxis regelmäßig vor. Es kann daher nicht angenommen werden, dass dieser Umstand im Gesetzgebungsverfahren außer Acht geblieben ist. Auch aus den Gesetzesmaterialien (zum Entwurf eines Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss, BTDrucks 16/1368, S. 1 ff.) wird deutlich, dass der Gesetzgeber nicht den Familienkassen die Prüfung eines Aufenthaltstitels mit Erwerbsberechtigung auferlegen wollte. Die Gewährung von Kindergeld sollte dem Aufenthaltsrecht folgen (BTDrucks 16/1368, S. 9, zu § 1 Abs. 3 BKGG). Dabei war dem Gesetzgeber auch bewusst, dass die Dauer der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Erwerbsberechtigung von Zufälligkeiten des Verfahrensablaufs abhängen kann. Hierauf hatte zum einen das BSG vor der Gesetzesänderung im Jahr 2006 schon mehrfach hingewiesen ( 14b/4 REg 16/91, SozR 3-7833 § 1 Nr 10; in InfAuslR 1994, 320). Zum anderen hat die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zu Vorschlägen des Bundesrates (BTDrucks 16/368, S. 14) ausgeführt, dass der Gesetzentwurf darauf abstelle, „dass nicht allein an die Möglichkeit der Berechtigung zu einer Erwerbstätigkeit angeknüpft werden soll, sondern dass nur diejenigen Anspruch auf Familienleistungen haben sollen, die tatsächlich in Besitz dieser Berechtigung sind oder schon einmal waren“.
22 d) Die Auslegung des Senats, dass der in § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG genannte Aufenthaltstitel, der zur Erwerbstätigkeit berechtigt haben muss, im Leistungszeitraum tatsächlich vorgelegen haben muss, steht nicht in Widerspruch zum Senatsurteil vom III R 87/03 (BFH/NV 2012, 1603), wonach ein rückwirkend entzogener Aufenthaltstitel zwangsläufig zur rückwirkenden Aufhebung von Kindergeld führen muss. Die dortige Klägerin war zunächst im Besitz einer nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c EStG erteilten Aufenthaltserlaubnis, die ihr rückwirkend entzogen wurde. Der Senat stellte bei der Frage der Anspruchsvoraussetzungen nicht entscheidend auf den rückwirkenden Entzug ab, sondern auf die fehlende zusätzliche Voraussetzung nach § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG (Arbeitsmarktintegration, BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 1603, Rz 14).
23 e) Die Kindergeldberechtigung eines nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländers von der tatsächlichen Erteilung eines entsprechenden Aufenthaltstitels zu Beginn des Leistungszeitraums abhängig zu machen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
24 aa) Das BVerfG hat sich zwar in keiner seiner Entscheidungen zum Elterngeld (Beschluss vom 1 BvL 2-4/10 und 3/11, BVerfGE 132, 72), zum Erziehungsgeld (Beschluss vom 1 BvL 14/07, BVerfGE 130, 240) oder zum Kindergeld (Beschluss in BVerfGE 111, 160) dazu geäußert, dass von Verfassungs wegen nicht auf den Besitz einer entsprechenden Erlaubnis abgestellt werden dürfe. Es hat aber die jahrelange Praxis, dass bei nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländern die Gewährung von Familienleistungen den Entscheidungen zum Ausländerrecht folgt, nicht beanstandet, obwohl ihm die Verfahrensdauer der Erteilung eines entsprechenden Aufenthaltstitels bewusst gewesen sein müsste (vgl. BSG-Teilurteil in BSGE 107, 1, Rz 36). Mit Rücksicht auf die Typisierungsnotwendigkeiten und die Verwaltungspraktikabilität des auf die Beurteilung von Massentatbeständen zugeschnittenen Kindergeldrechts bei Ausländern ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die sachnähere Ausländerbehörde den maßgebenden Ausländerstatus feststellt und die Familienkassen hieran gebunden sind (Tatbestandswirkung).
25 bb) Die Regelung der Tatbestandswirkung verstößt auch nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes); sie ist insbesondere nicht unverhältnismäßig. Zwar macht sie den Anspruch auf Kindergeld von Zufälligkeiten des Verfahrensablaufs abhängig. Es ist jedoch zulässig und auch nicht ungewöhnlich, dass ein Anspruch von der Tatbestandswirkung einer anderweitig getroffenen Entscheidung abhängt, solange keine willkürliche rechtsmissbräuchliche Verzögerung vorliegt (vgl. 14b/4 Reg 10/91, RegNr 20624). Welche Rechtsfolgen eine solche Verzögerung hätte, kann der Senat dahinstehen lassen. Denn die vorliegende Zeitspanne bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis aufgrund der Überprüfung der Vaterschaft des Kindes war nicht rechtsmissbräuchlich, da die Vaterschaftsfeststellung nach § 28 AufenthG entscheidungserheblich war.
26 3. Der Rechtsstreit war auch nicht wegen der Vorlagen des Niedersächsischen FG vom 19. August und vom 7 K 9/10, 7 K 111/13, 7 K 112/13, 7 K 113/13, 7 K 114/13, 7 K 116/13 (teilweise abgedruckt in EFG 2014, 932 ff.) an das BVerfG gemäß § 74 FGO auszusetzen.
27 a) Nach der Rechtsprechung des BFH kann eine Aussetzung des Verfahrens entsprechend der Vorschrift des § 74 FGO geboten sein, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Verfahrensbeteiligten ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (vgl. z.B. , BFH/NV 2005, 238; Schoenfeld in Beermann/Gosch, FGO § 74 Rz 23 „Bundesverfassungsgericht“). Dabei ist nach der Senatsrechtsprechung eine Aussetzung des Klageverfahrens wegen vor dem BVerfG anhängiger Musterverfahren nur dann gerechtfertigt, wenn die Musterverfahren und das Klageverfahren hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im Wesentlichen gleichgelagert sind (Senatsbeschluss vom III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240, unter 3.).
28 b) Hier fehlt es an einer solchen Vergleichbarkeit der Verfahren.
29 aa) In verfassungsrechtlicher Hinsicht kommt dem vom BVerfG in dem Beschluss in BVerfGE 111, 160 nicht beanstandeten Ziel des Gesetzgebers, Kindergeld nur solchen Ausländern zu gewähren, von denen zu erwarten war, dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben würden, maßgebliche Bedeutung zu (vgl. dazu Senatsurteil vom III R 54/02, BFHE 220, 45, BStBl II 2009, 913, unter II.2.a). Der Senat hat für (reine) Duldungsfälle —ohne innerhalb dieser Fallgruppe weiter zu differenzieren (z.B. nach der Dauer der erteilten Duldung)— allgemein die Auffassung vertreten, dass die fehlende Kindergeldberechtigung geduldeter Ausländer nicht gegen die Verfassung verstößt, da sich aus einer Duldung kein (rechtmäßiger) Daueraufenthalt ableiten lässt (z.B. Senatsbeschlüsse vom III B 158/12, BFH/NV 2013, 968, Rz 13, m.w.N., und vom III B 119/12, BFH/NV 2013, 1417, Rz 13).
30 bb) Soweit ersichtlich betrifft allein der im Verfahren 7 K 113/13 (EFG 2014, 932) ein Klageverfahren, in dem der Kläger —vergleichbar mit dem Streitfall— während des Streitzeitraums (nur) geduldet war. In den anderen —den Vorlagebeschlüssen zugrundeliegenden— Klageverfahren hatten die Kläger im Streitzeitraum einen Aufenthaltstitel. Der dem Vorlageverfahren 7 K 113/13 zugrundeliegende Fall ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass bei dem Kläger eine langjährige „Dauerduldung“ vorlag.
31 cc) Im Streitfall ist hingegen keine langjährige „Dauerduldung“ gegeben. Vielmehr wurde nur einmal eine Duldung für ein Jahr erteilt, weil noch nicht feststand, ob das Kind durch Geburt deutscher Staatsangehöriger ist (vgl. § 4 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes) und dementsprechend der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zu erteilen war. Bis zu einem geeigneten Nachweis war daher völlig offen, ob die Klägerin in Deutschland bleiben darf. Es fehlte mithin im Streitzeitraum an einer geeigneten Grundlage für die Prognose eines dauerhaften rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland.
32 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BStBl 2015 II Seite 840
BFH/NV 2015 S. 1167 Nr. 8
BFH/PR 2015 S. 300 Nr. 9
BStBl II 2015 S. 840 Nr. 16
DStR 2015 S. 8 Nr. 27
DStRE 2015 S. 1040 Nr. 17
DStZ 2015 S. 583 Nr. 15
EStB 2015 S. 278 Nr. 8
FR 2016 S. 284 Nr. 6
GStB 2015 S. 34 Nr. 9
HFR 2015 S. 949 Nr. 10
NWB-Eilnachricht Nr. 28/2015 S. 2044
PIStB 2015 S. 175 Nr. 7
StB 2015 S. 254 Nr. 8
StBW 2015 S. 682 Nr. 18
StBW 2015 S. 697 Nr. 18
FAAAE-93756