NWB Nr. 1 vom Seite 1

„Erfüllt das BVerfG-Urteil die Rechtsschutzanforderungen?“

Professor Dr. Jochen Lüdicke | RA StB FAStR | Präsident Bundesverband der Steuerberater e.V. | Honorarprofessor an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf

Erbschaftsteuerrecht auf dem Weg von München über Karlsruhe nach Luxemburg oder Straßburg?

Das BVerfG hat mit dem am veröffentlichten Urteil zum aktuellen Erbschaftsteuerrecht eine Reihe von Begünstigungsregelungen bei der Übertragung von Betriebsvermögen beanstandet und ausgeführt, dass die Gleichheitsverstöße vom Gesetzgeber durch ein bis zum zu erlassendes Gesetz zu beseitigen seien. Anderenfalls tritt das ErbStG faktisch wegen der beanstandeten Tarifregelung in § 19 ErbStG außer Kraft. Damit akzeptiert das Gericht – seine erste Entscheidung aus 1995 betraf einen Fall aus 1987, wobei die Rechtslage seit 1974 besteht –, dass vierzig Jahre Erbschaftsteuern im Umfang von rund 90 Mrd. € auf Basis verfassungswidrigen Rechts erhoben wurden. Dies löst die Frage aus, ob das Urteil die Anforderungen an den unionsrechtlich und durch die Menschenrechtskonvention garantierten effektiven Rechtsschutz noch erfüllt, weil ja die Kläger in den Ausgangsverfahren letztlich keine Änderung der angegriffenen Steuerbescheide erreicht haben.

Die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährt in ihrem Art. 6 das Recht auf ein faires Verfahren in Bezug auf Zivil- und Strafrecht, nicht aber in Bezug auf öffentlich-rechtliche Streitigkeiten. Allerdings wurde durch das Zusatzprotokoll vom in dessen Art. 1 der in der Konvention noch fehlende Eigentumsschutz aufgenommen. Insofern stellt sich die Frage, ob für Zwecke der EMRK Steuerstreitverfahren als (nicht geschützte) öffentlich-rechtliche oder – wegen des Zahlungsbezugs – zivilrechtliche Verfahren eingestuft werden. Der Gerichtshof hat bereits 2008 im Zusammenhang einer drohenden Erbschaftsteuerbelastung (im Vereinigten Königreich) als potenziellem Eigentumseingriff seine Zuständigkeit über das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) bejaht. Ferner hat er im Zusammenhang mit einer schwedischen 7%igen Vermögensabgabe deren Prüfungsrelevanz beim Eigentumsschutz bestätigt. Da der Eigentumsschutz in Art. 1 Abs. 2 des Zusatzprotokolls bei Steuern keine Anwendung für Gesetze, die der Staat für erforderlich hält, findet, stellt sich die Frage, ob ein verfassungswidriges Gesetz die Legitimität des Eingriffs begründen kann.

Der EuGH ist nach der zum in Kraft getretenen Grundrechtecharta im Rahmen deren Eigentumsschutz (Art. 17) zur Entscheidung über die Auslegung deren Umfangs berufen. Das Schutzniveau soll nach Art. 52 Abs. 3 nicht unterhalb desjenigen der EMRK liegen. Insofern wird sich jedes Finanzgericht bei der jetzt anstehenden Fortsetzung von Klagen über Erbschaftsteuerfestsetzungen die Frage zu stellen haben, ob die fortgesetzte Anwendung der Unvereinbarkeits- statt der Nichtigkeitsrechtsprechung durch das BVerfG, die innerstaatlich durch die Gewaltenteilung gut begründet ist, mit europäischem Recht übereinstimmt oder wegen der fehlenden Prozesserfolge für die Ausgangskläger als nicht wirksamer Rechtsbehelf i. S. von Art. 47 Grundrechtecharta anzusehen ist. Hat ein Finanzgericht hier Zweifel, kann und sollte es die Auslegung durch den EuGH nach Art. 267 AEUV beantragen.

Jochen Lüdicke

Fundstelle(n):
NWB 2015 Seite 1
NAAAE-81858