BVerwG Urteil v. - 5 C 13/13

Bewilligung von Ausbildungsförderung für ausländischen Straftäter; geduldeter Aufenthalt

Leitsatz

1. Ein Ausländer hält sich auch dann im Sinne des § 8 Abs. 2a BAföG geduldet im Bundesgebiet auf, wenn die Ausländerbehörde es pflichtwidrig unterlassen hat, ihm eine Duldung zu erteilen.

2. Wurden einem Ausländer pflichtwidrig Duldungen nicht erteilt, so kann dieser den Nachweis, sich im Sinne des § 8 Abs. 2a BAföG seit mindestens vier Jahren ununterbrochen geduldet im Bundesgebiet aufgehalten zu haben, durch eine entsprechende Bescheinigung der Ausländerbehörde führen.

3. Wegen der § 8 Abs. 2a BAföG zugrunde liegenden Integrationserwartung verleiht die Bestimmung demjenigen keinen Anspruch, der im Sinne des § 18a Abs. 1 Nr. 7 AufenthG verurteilt worden ist.

Gesetze: § 11 Abs 1 S 2 AufenthG, § 18a Abs 1 Nr 7 AufenthG, § 25a Abs 1 S 1 AufenthG, § 60a Abs 2 S 1 AufenthG, § 60a Abs 4 AufenthG, § 77 Abs 1 S 1 AufenthG, § 104 Abs 1 S 1 AufenthG, § 2 Abs 1 Nr 1 BAföG, § 2 Abs 1a Nr 1 BAföG, § 7 Abs 1 Nr 1 BAföG, § 8 Abs 2a BAföG, § 32 Abs 1 BeschV 2013, § 32 Abs 2 BeschV 2013, § 10 BeschVerfV, § 59 Abs 2 SGB 3

Instanzenzug: Az: 11 K 1711/12 Urteil

Tatbestand

1Der im September 1978 geborene Kläger ist eigenen Angaben zufolge russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Er begehrt für den Zeitraum von April 2012 bis Juli 2012 die Bewilligung von Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz.

2Seiner Darstellung zufolge reiste er im September 2001 in das Bundesgebiet ein. Im Februar 2002 wurde er wegen versuchten Diebstahls mit Waffen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Im April 2002 wurde er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen. Da sich das Russische Generalkonsulat in der Folge weigerte, dem Kläger ein Reisedokument auszustellen, war und ist seine Abschiebung tatsächlich unmöglich. Im Juli 2006 wurde er wegen versuchten schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer weiteren Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Während der Verbüßung dieser Strafhaft wurde sein Aufenthalt zunächst "faktisch geduldet". Erst am wurde ihm auf seinen Antrag hin eine auf ein Jahr befristete Duldung erteilt, die in der Folge verlängert wurde.

3Zum September 2011 wurde der Kläger zur schulischen Ausbildung in die Oberstufe der Technischen Oberschule S. aufgenommen. Im gleichen Monat beantragte er für den Zeitraum von September 2011 bis Juli 2012 Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom ab. Der Widerspruch des zwischenzeitlich aus der Strafhaft entlassenen Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid des Landesamtes für Ausbildungsförderung vom zurückgewiesen.

4Im März 2012 bestätigte die Ausländerbehörde dem Kläger, dass sich dieser seit über vier Jahren im Status der Duldung befinde, ihm während der Haftzeit zwar keine Duldungsbescheinigungen ausgestellt worden seien, er in diesem Zeitraum jedoch faktisch geduldet worden sei. Hierauf beantragte der Kläger im April 2012, den Ablehnungsbescheid vom in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom zurückzunehmen.

5Nachdem die Beklagte ein Wiederaufgreifen des Verfahrens abgelehnt hatte, hat er am Klage mit dem Ziel erhoben, ihm für seine Ausbildung an der Technischen Hochschule in S. ab April 2012 Ausbildungsförderung zu bewilligen. Am hat er überdies Klage erhoben mit dem Begehren, die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag auf Rücknahme des Ablehnungsbescheides vom in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Mit Bescheid vom hat die Beklagte den Rücknahmeantrag abgelehnt. Der Kläger hat die Einbeziehung dieses Bescheides in das Klageverfahren und in der Sache beantragt, die Beklagte zu verpflichten, ihm antragsgemäß Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz für den Besuch der Technischen Oberschule S. für den Zeitraum von April 2012 bis Juli 2012 in gesetzlicher Höhe zu gewähren und den Bescheid der Beklagten vom aufzuheben, soweit dieser dem entgegenstehe.

6Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Bescheide vom und lägen nicht vor, da der Kläger die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Ausbildungsförderung nicht erfülle. Er sei nicht der Gruppe der von § 8 Abs. 2a BAföG erfassten geduldeten Ausländern zuzurechnen. Der Umstand, dass inhaftierte Ausländer, auch wenn ihnen eine Duldungsbescheinigung nicht erteilt werde, ausländerrechtlich als faktisch geduldet gälten, genüge ausbildungsförderungsrechtlich nicht. Die Entstehungsgeschichte des § 8 Abs. 2a BAföG mache deutlich, dass die Vorschrift nur solche geduldeten Ausländer einbeziehe, die gut integriert seien. Dabei habe der Gesetzgeber maßgeblich auch den Gedanken der Straffreiheit in den Blick genommen (§ 18a Abs. 1 Nr. 7 AufenthG).

7Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Begehren weiter. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, § 8 Abs. 2a BAföG setze den Besitz einer Duldungsbescheinigung voraus, finde im Gesetz keine Stütze. Die Erwägungen in den Gesetzesmaterialien hätten sich im Gesetzestext nicht niedergeschlagen. Er wäre rechtsschutzlos, sähe § 8 Abs. 2a BAföG das Erfordernis des Besitzes einer förmlichen Duldung für die Dauer von vier Jahren vor, da die Norm erst zum in Kraft getreten sei, weshalb für ihn jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt kein Rechtsschutzbedürfnis bestanden habe, die Erteilung einer entsprechenden Bescheinigung zu beantragen. Zudem würde er gegenüber einem nichtinhaftierten geduldeten Ausländer in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise benachteiligt. Wer in einer Justizvollzugsanstalt untergebracht sei, dürfe nicht schlechter gestellt werden als jemand, der aus Gründen nicht abgeschoben werden könne, die er selbst zu vertreten habe. Eine Gleichbehandlung sei ferner insoweit geboten, als Ausländer, denen wiederkehrend Duldungsbescheinigungen ausgestellt würden, nicht mehr Vertrauen in einen weiteren Inlandsaufenthalt entwickeln könnten als faktisch geduldete inhaftierte Ausländer.

8Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

Gründe

9Die zulässige Revision des Klägers, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Die Beklagte hat, soweit es den Zeitraum von April 2012 bis Juli 2012 betrifft, im Ergebnis zu Recht sowohl die Rücknahme des Ablehnungsbescheides vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom (1.) als auch die Gewährung von Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz für den Besuch der Technischen Oberschule S. (2.) abgelehnt.

101. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch des Klägers auf Rücknahme der Bescheide vom und folgt weder aus § 44 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - i.d.F. der Bekanntmachung vom (BGBl I S. 130), zuletzt geändert durch Gesetz vom (BGBl I S. 2749), - SGB X - (a) noch aus § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X (b).

11a) Die Voraussetzungen einer Rücknahme nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen nicht vor.

12Nach dieser Bestimmung ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden ist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Für die unrichtige Anwendung des Rechts im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X genügt ein objektiver Rechtsverstoß (vgl. - InfAuslR 1984, 145), was nach dem zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Ausgangsverwaltungsakts maßgebenden Recht zu beurteilen ist (vgl. - BSGE 88, 75 <81> und vom - B 4 RA 43/05 R - BSGE 97, 94 <Rn. 55>). Die Ablehnung von Ausbildungsförderung mit Bescheid vom war rechtmäßig.

13Der erstrebten Bewilligung von Leistungen nach Maßgabe von § 7 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1a Nr. 1 des Bundesgesetzes über individuelle Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz - BAföG) i.d.F. vom (BGBl I S. 1422), im hier maßgeblichen Zeitraum zuletzt geändert durch Gesetz vom (BGBl I S. 2854), steht entgegen, dass der Kläger nicht die persönlichen Voraussetzungen einer Förderung erfüllt. Er gehört nicht dem von § 8 Abs. 2a BAföG erfassten Personenkreis an. Nach dieser Norm wird geduldeten Ausländern (§ 60a des Aufenthaltsgesetzes), die ihren ständigen Wohnsitz im Inland haben, Ausbildungsförderung geleistet, wenn sie sich seit mindestens vier Jahren ununterbrochen rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten. Allerdings verstößt die Annahme des Verwaltungsgerichts, ein Ausländer, der lediglich "faktisch geduldet" werde, halte sich nicht im Sinne des § 8 Abs. 2a BAföG geduldet im Bundesgebiet auf, gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) (aa). Auf diesem Verstoß beruht das Urteil indes nicht, da das Verwaltungsgericht zutreffend auch angenommen hat, ein Anspruch auf Ausbildungsförderung scheide wegen der Verurteilungen des Klägers zu Freiheitsstrafen aus (bb).

14aa) Im streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum vom bis zum erfüllte der Kläger die Voraussetzung eines mindestens vierjährigen ununterbrochenen geduldeten Aufenthalts im Bundesgebiet.

15§ 8 Abs. 2a BAföG nimmt § 60a des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) i.d.F. der Bekanntmachung vom (BGBl I S. 162), im hier maßgeblichen Zeitraum zuletzt geändert durch Gesetz vom (BGBl I S. 3044) bzw. vom (BGBl I S. 1224), auch im Zusammenhang mit dem Erfordernis eines vierjährigen geduldeten Aufenthalts in Bezug. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange sie aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist und ihm keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Erteilung der Duldung bedarf der Schriftform (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Über die Aussetzung der Abschiebung ist dem Ausländer eine Bescheinigung auszustellen (§ 60a Abs. 4 AufenthG). Hier lagen die materiellen Voraussetzungen einer Duldung vor, weil die Abschiebung des Klägers wegen der Weigerung der Auslandsvertretung der Russischen Förderation, ihm ein Reisedokument auszustellen, tatsächlich unmöglich war. Zwar wurden dem Kläger (schriftliche) Duldungen erst ab dem erteilt. Jedoch konnte er in der Zeit vom bis zum die Erteilung einer Duldung beanspruchen. Dieser Zeitraum ist im Rahmen des § 8 Abs. 2a BAföG als geduldeter Aufenthalt zu berücksichtigen. Ein Ausländer hält sich nämlich auch dann im Sinne des § 8 Abs. 2a BAföG geduldet im Bundesgebiet auf, wenn die Ausländerbehörde es pflichtwidrig unterlassen hat, ihm eine Duldung zu erteilen und er die Voraussetzungen für die Erteilung in einer den Anforderungen der Massenverwaltung genügenden Weise nachgewiesen hat. Das ist hier der Fall.

16(1) Die Auslegung der § 8 Abs. 2a BAföG ergibt, dass die Voraussetzung eines geduldeten Aufenthalts auch für einen Zeitraum erfüllt ist, in dem dem Ausländer eine Duldung hätte erteilt werden müssen.

17Der Wortlaut des § 8 Abs. 2a BAföG ist insoweit offen. Mangels einer ausdrücklichen Bezugnahme auf das Schriftformerfordernis des § 77 Abs. 1 Satz 1 AufenthG lässt er es zu, seinen Anwendungsbereich auch in den Fällen als eröffnet anzusehen, in denen der Ausländer (lediglich) die materiellen Voraussetzungen einer Duldung erfüllt, ohne dass ihm eine solche schriftlich erteilt worden ist. Aus grammatikalischer Sicht kann die Bestimmung aber auch dahin verstanden werden, dass eine schriftliche Duldung erteilt sein muss.

18Rückschlüsse auf die Auslegung des § 8 Abs. 2a BAföG lassen sich auch nicht aus der Interpretation der entsprechenden Merkmale in der Parallelnorm des § 59 Abs. 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (Art. 1 des Gesetzes vom , BGBl I S. 594), geändert durch Gesetz vom (BGBl I S. 2854), - SGB III - ziehen. Dies gilt gleichermaßen für das systematische Verhältnis zu § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG und § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. In diesen Bestimmungen wird ein Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis u.a. an einen mehrjährigen geduldeten Aufenthalt geknüpft. Soweit dies dahin verstanden wird, dass auch solche Zeiten einbezogen werden, in denen der Ausländer die materiellen Duldungsvoraussetzungen erfüllte, ihm hingegen eine Duldung nicht erteilt wurde, ist dies das Ergebnis einer Auslegung jener Bestimmungen (vgl. Burr, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz - GK-AufenthG -, Stand: Januar 2014, § 25a AufenthG Rn. 4, und Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, a.a.O., § 104a AufenthG Rn. 15, jeweils m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: September 2013, § 25a Rn. 2 und § 104a AufenthG Rn. 7). Dieses kann nicht zwingend auf § 8 Abs. 2a BAföG übertragen werden.

19Auch die historisch-genetische Auslegung des § 8 Abs. 2a BAföG weist nicht zwingend darauf hin, dass nur Zeiten zu berücksichtigen sind, in denen eine förmliche Duldung erteilt wurde.

20Sinn und Zweck der Bestimmung gebieten es hingegen, auch solche Zeiträume in Ansatz zu bringen, in denen dem Ausländer von der Ausländerbehörde pflichtwidrig eine Duldung nicht erteilt wurde. Der allgemeine Zweck der Bestimmung liegt darin, auch jungen geduldeten Ausländern den Zugang zur Ausbildung durch finanzielle Sicherung ihres Lebensunterhalts zu erleichtern (vgl. BTDrucks 16/10914 S. 7 f. und 9; BTPlenprot 16/187, Stenografischer Bericht S. 20175 C und 20176 A). Im Rahmen dieser Zwecksetzung kommt dem Erfordernis eines geduldeten Aufenthalts seit mindestens vier Jahren vornehmlich die Funktion zu, in verwaltungspraktikabler Weise sicherzustellen, dass sich der Ausländer in dem genannten Zeitraum im Bundesgebiet aufgehalten hat und er nicht "untergetaucht" war oder sich in anderer Weise dem ausländerrechtlichen Verfahren entzogen hat. Der Zweck des § 8 Abs. 2a BAföG darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass die Ausländerbehörde bei Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG pflichtwidrig die Erteilung einer das Schriftformerfordernis wahrenden Duldung unterlässt. Anderenfalls hätte sie es entgegen dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck des § 8 Abs. 2a BAföG in der Hand, durch pflichtwidriges Unterlassen einer Amtshandlung die Erfüllung der Förderungsvoraussetzungen zu vereiteln. Deshalb ist § 8 Abs. 2a BAföG dahin auszulegen, dass er auch dann einen Anspruch auf Ausbildungsförderung verleiht, wenn die Ausländerbehörde von einer (schriftlichen) Duldung abgesehen hat, obwohl sie eine solche hätte erteilen müssen. Sind die materiellen Voraussetzungen einer Aussetzung der Abschiebung gegeben, hat der Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer förmlichen Duldung. Eine stillschweigende - "faktische" - Aussetzung der Abschiebung anstelle der förmlichen Duldung sieht das Aufenthaltsgesetz nicht vor (vgl. BVerwG 1 C 3.97 - BVerwGE 105, 232 <236> = Buchholz 402.240 § 55 AuslG Nr. 2 S. 5 f. und vom - BVerwG 1 C 23.99 - BVerwGE 111, 62 <65> = Buchholz 402.240 § 55 AuslG Nr. 7 S. 3; - NVwZ 2003, 1250 <1251>).

21(2) Die Feststellungslast für das Bestehen eines seit mindestens vier Jahren ununterbrochenen geduldeten Aufenthalts im Bundesgebiet trägt der Ausländer. Den Darlegungsanforderungen in einem Verfahren der Massenverwaltung genügt er in der Regel durch die Vorlage ausländerrechtlicher Dokumente oder Bescheinigungen (vgl. BTDrucks 16/5172 S. 19 zu § 8 Abs. 2 BAföG-E).

22Eine dem Gebot der Praktikabilität im Gesetzesvollzug entsprechende Nachweisführung wird in den Fällen der förmlichen Duldung durch die Vorlage der gemäß § 60a Abs. 4 AufenthG zu erstellenden Duldungsbescheinigung ermöglicht (Nr. 8.2a.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundesausbildungsförderungsgesetz vom (GMBl S. 770), zuletzt geändert durch Verordnung vom (GMBl S. 1094); Fischer, in: Rothe/Blanke; BAföG, 5. Aufl., Stand: April 2012, § 8 Rn. 53). Wurden einem Ausländer pflichtwidrig Duldungen nicht erteilt, so kann der in Rede stehende Nachweis insbesondere durch eine entsprechende Bescheinigung der Ausländerbehörde geführt werden.

23(3) Gemessen an den vorstehenden Grundsätzen liegen hier die Voraussetzungen eines mindestens vierjährigen geduldeten Aufenthalts im Bundesgebiet vor. Soweit dem Kläger Duldungen erteilt wurden, hat er diese vorgelegt. Die materiellen Voraussetzungen einer Duldung waren - wie aufgezeigt - auch für die Zeit vom 1. April bis zum erfüllt. Insoweit durfte es die Ausländerbehörde nicht bei einer "faktischen Duldung" belassen, sondern hätte die Abschiebung förmlich aussetzen müssen. Das Vorliegen der materiellen Duldungsvoraussetzungen für diesen Zeitraum hat der Kläger durch Vorlage der am von der Ausländerbehörde ausgestellten Bescheinigung nachgewiesen. Aus dieser ergibt sich, dass sich der Kläger auch in dem hier in Rede stehenden Zeitraum im "Status der Duldung" befand.

24bb) Der Kläger erfüllt wegen seiner strafrechtlichen Verurteilungen gleichwohl nicht die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2a BAföG. Die Bestimmung ist im Wege der teleologischen Reduktion insoweit einzuschränken.

25Die Befugnis der Korrektur des Wortlauts einer Vorschrift steht den Gerichten unter anderem dann zu, wenn diese nach ihrer grammatikalischen Fassung Sachverhalte erfasst, die sie nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht erfassen soll. In einem solchen Fall ist eine zu weit gefasste Regelung im Wege der sogenannten teleologischen Reduktion auf den ihr nach Sinn und Zweck zugedachten Anwendungsbereich zurückzuführen (vgl. BVerwG 5 C 10.11 - BVerwGE 142, 10 = Buchholz 454.710 § 14 WoGG <n.F.> Nr. 1, jeweils Rn. 15 m.w.N.). Ob eine planwidrige Gesetzeslücke als Voraussetzung einer teleologischen Reduktion vorliegt, ist nach dem Plan des Gesetzgebers zu beurteilen, der dem Gesetz zugrunde liegt ( BVerwG 5 C 28.12 - NJW 2013, 2775 <Rn. 9> m.w.N.). Liegt eine solche Lücke vor, ist sie durch Hinzufügung einer dem gesetzgeberischen Plan entsprechenden Einschränkung zu schließen. So verhält es sich hier.

26§ 8 Abs. 2a BAföG erweist sich insoweit als planwidrig, als er keine Einschränkung dahin enthält, dass Ausländer, die wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat im Sinne des § 18a Abs. 1 Nr. 7 AufenthG zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, dem Anwendungsbereich der Bestimmung nicht unterfallen.

27§ 8 Abs. 2a BAföG geht auf das Gesetz zur arbeitsmarktadäquaten Steuerung der Zuwanderung Hochqualifizierter und zur Änderung weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen (Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz) vom (BGBl I S. 2846) zurück. Dieses Regelungswerk dient der teilweisen Umsetzung des Aktionsprogramms der Bundesregierung "Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland" vom (http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/aktionsprogramm-arbeitsm igration-fachkraeftebasis.pdf). Nach diesem Programm (S. 2 und 5) soll der steigende Bedarf an Fachkräften dadurch gedeckt werden, dass vor allem die Potenziale derjenigen jungen Ausländerinnen und Ausländer genutzt werden, "die durch Integration im Inland mit der deutschen Kultur vertraut sind und hier ihre Ausbildung absolvieren ('Bildungsinländer/innen')". Dieses Anliegen bezieht sich ausdrücklich auf junge geduldete Ausländerinnen und Ausländer. An diese Erwägung knüpft die Begründung des Entwurfs des Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzes, in dem § 8 Abs. 2a BAföG ursprünglich nicht enthalten war, an und hebt hervor, dass der Zweck verfolgt werde, einen Beitrag zur langfristigen Deckung des Fachkräftebedarfs dadurch zu leisten, dass aufenthaltsrechtliche Erleichterungen für solche jungen geduldeten Ausländerinnen und Ausländer geschaffen würden, "die durch Integration im Inland mit der deutschen Kultur vertraut sind" (vgl. BTDrucks 16/10288 S. 8). Vor diesem Hintergrund drängt es sich auf, dass der Gesetzgeber solche geduldeten Ausländer begünstigen wollte, deren Aufenthalt zumindest die Erwartung rechtfertigt, dass sie sich in die hiesigen Lebensverhältnisse einfügen werden.

28Diese Zielgruppe hat auch nicht dadurch eine Erweiterung erfahren, dass im parlamentarischen Ausschussverfahren der federführende Innenausschuss des Deutschen Bundestages auf Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD empfahl, den Entwurf des Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzes unter anderem um die Einfügung des § 8 Abs. 2a BAföG zu ergänzen. Diese Empfehlung zielte darauf, den in dem Aktionsprogramm vorgesehenen erleichterten Zugang junger geduldeter Ausländer zu einer Ausbildung durch eine Erweiterung des Ausbildungsförderungsrechts zu flankieren (BTDrucks 16/10914 S. 7 f.). Geduldete Ausländer mit einem Aufenthalt von mindestens vier Jahren in Deutschland sollten denjenigen Ausländern gleichgestellt werden, die über eine der in § 8 Abs. 2 Nr. 2 BAföG genannten Aufenthaltserlaubnisse verfügen (BTDrucks a.a.O.). Die durch das Aktionsprogramm initiierten Verbesserungen für Geduldete sollten "im Ausbildungsförderungsrecht gespiegelt" werden (BTPlenprot 16/187, Stenografischer Bericht S. 20176 <A>). Es fehlt jeglicher Anhaltspunkt dafür, dass der Zweck des Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzes, diejenigen Geduldeten zu begünstigen, bei denen zumindest die Erwartung einer erfolgreichen Integration gehegt werden kann, für § 8 Abs. 2a BAföG keine Geltung beansprucht.

29Das Verfahren bietet keinen Anlass abschließend darüber zu befinden, bei welchen Fallgestaltungen die Integrationsprognose nicht gerechtfertigt ist. Dies ist jedenfalls anzunehmen, wenn der Ausländer wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylverfahrensgesetz nur von Ausländern begangen werden können, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Das entspricht der vom Gesetzgeber in § 18a Abs. 1 Nr. 7 AufenthG getroffenen Wertung. Diese ist auch im Zusammenhang mit § 8 Abs. 2a BAföG zu berücksichtigen. § 18a AufenthG ist - wie § 8 Abs. 2a BAföG - Gegenstand des Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzes und deshalb ebenfalls von dem Zweck getragen, Erleichterungen für junge geduldete Ausländer, bei denen jedenfalls eine positive Integrationserwartung gerechtfertigt ist, zu schaffen. Da § 18a Abs. 1 Nr. 7 AufenthG eine Fallgestaltung beschreibt, bei der dieser Zweck aus Sicht des Gesetzgebers nicht erreicht wird, erweist es sich als planwidrig, dass § 8 Abs. 2a BAföG eine solche Einschränkung nicht enthält. Deshalb ist es geboten, die Bestimmung im Wege teleologischer Reduktion dahin einzuschränken, dass ihr Anwendungsbereich in Fällen des § 18a Abs. 1 Nr. 7 AufenthG nicht eröffnet ist.

30Mit Blick darauf mag es auf sich beruhen, ob die Gewährung von Ausbildungsförderung in einem solchen Fall überhaupt geeignet wäre, den Zugang dieses Ausländers zum Arbeitsmarkt mittelbar zu erleichtern (vgl. § 10 der Verordnung über das Verfahren und die Zulassung von im Inland lebenden Ausländern zur Ausübung einer Beschäftigung <Beschäftigungsverfahrensverordnung - BeschVerfV> vom <BGBl I S. 2934>, im hier maßgeblichen Zeitraum zuletzt geändert durch Gesetz vom <BGBl I S. 2258> bzw. vom <BGBl I S. 1224>; § 32 Abs. 1 und 2 der Verordnung über die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern <Beschäftigungsverordnung> i.d.F. vom <BGBl I S. 1499>). Ebenfalls ohne Belang ist, dass unabhängig von dem Abschluss einer (Schul-)Ausbildung der Erteilung eines Aufenthaltstitels etwa nach § 18a AufenthG die Sperre des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG entgegensteht.

31Gemessen daran gehört der Kläger dem von § 8 Abs. 2a BAföG begünstigten Personenkreis nicht an, weil er wegen versuchten Diebstahls mit Waffen in Tateinheit mit gefährlicher und schwerer Körperverletzung sowie wegen versuchten schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurde.

32b) Die Beklagte war auch nicht nach § 44 Abs. 2 SGB X verpflichtet, den Ablehnungsbescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom zurückzunehmen. Nach dieser Norm ist im Übrigen ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise zurückzunehmen. In Anknüpfung an die Ausführungen zu a) fehlt es bereits an einer rechtswidrigen Versagung von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz.

332. Aus den unter 1. dargelegten Gründen war die Beklagte nicht verpflichtet, dem Kläger Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz für den Besuch der Technischen Oberschule S. zu gewähren.

Fundstelle(n):
BAAAE-65918