BSG Urteil v. - B 14 AS 76/12 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Einkommensberücksichtigung - Erbschaft - Aufteilung der einmaligen Einnahme auf Verteilzeitraum - vorzeitiger Verbrauch - verfassungskonforme Auslegung

Gesetze: § 9 Abs 1 SGB 2, § 11 Abs 1 S 1 SGB 2, § 2 Abs 4 AlgIIV 2008, Art 1 Abs 1 GG, Art 20 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: S 20 AS 143/09 Urteilvorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: L 7 AS 1155/10 Urteil

Tatbestand

1Streitig ist der Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozial-gesetzbuch Zweites Buch (SGB II) vom bis ohne Berücksichtigung einer im Januar 2009 zugeflossenen einmaligen Einnahme als Einkommen.

2Der 1964 geborene, allein lebende Kläger bezieht seit 2006 Arbeitslosengeld II (Alg II). Mit einer geringfügigen Beschäftigung erzielte er im März und Juni 2009 einen monatlichen Verdienst von 68 Euro und in den Monaten Juli und August 2009 von jeweils 80 Euro. Das beklagte Jobcenter bewilligte ihm für die Zeit vom bis monatliche Leistungen in Höhe von 707,40 Euro. Nach Zufluss eines Betrags in Höhe von 6477,47 Euro aus einer Erbschaft hob es die Bewilligung ab vollständig auf und kündigte sinngemäß an, dass die als einmalige Einnahme zu berücksichtigende Erbschaft über einen Zeitraum von sieben Monaten auf den Leistungsanspruch des Klägers angerechnet werde (Bescheid vom und Widerspruchsbescheid vom ). Am beantragte der Kläger erneut Alg II und gab unter Vorlage von Belegen über Ausgaben von etwa 4900 Euro an, er habe die Erbschaft bereits vollständig verbraucht und sei nunmehr wieder hilfebedürftig; ua habe er das Erbe für die Anschaffung einer Digitalkamera, den Ersatz von verschlissenen Möbeln, für Kleidungsstücke, den Ersatz eines defekten Fernsehers, die Anschaffung eines Laptops sowie eine preiswerte Pauschalreise in die Türkei eingesetzt. Diesen Antrag lehnte der Beklagte ab, weil ungeachtet des fraglichen Verbleibs eines Restbetrags aus der Erbschaft ein Anspruch auch dann nicht bestehe, wenn die Mittel hieraus vollständig verbraucht seien (Bescheid vom und Widerspruchsbescheid vom ).

3Während das Sozialgericht (SG) Düsseldorf die Klage hiergegen abgewiesen hat (Urteil vom ), hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen das Urteil des SG geändert und den Beklagten entsprechend dem zuletzt im Berufungsverfahren verfolgten Begehren des Klägers unter Aufhebung des Bescheids vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom verurteilt, ihm für die Zeit vom bis Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung von Einkommen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu "bewilligen" (Urteil vom ). Ungeachtet der ihm zugeflossenen Erbschaft habe der hilfebedürftige Kläger Anspruch auf Leistungen auch für den im Streit stehenden Zeitraum. Zu seiner - des LSG - Überzeugung sei die Erbschaft im Zeitpunkt der Antragstellung am vollständig verbraucht gewesen. Abgesehen von nicht zurechenbaren Zuwendungen Dritter hätten deshalb ab diesem Zeitpunkt keine bereiten Mittel zum Lebensunterhalt mehr zur Verfügung gestanden. Auf eine fiktive Anrechnung der einmaligen Einnahme müsse sich der Kläger nicht verweisen lassen. Da auch seine Einkünfte aus der geringfügigen Beschäftigung während des streitigen Zeitraums nicht über 100 Euro gelegen hätten, seien ihm Leistungen ohne Anrechnung von Einkommen zu gewähren.

4Mit seiner Revision rügt der Beklagte die Verletzung von § 2 Abs 4 der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (<Alg II-V> idF der Ersten Verordnung zur Änderung der Alg II-V vom , BGBl I 2780) und von § 2 Abs 2 Satz 1 SGB II. Hiernach seien einmalige Einnahmen selbst bei vorzeitigem Verbrauch über den vorgegebenen Verteilzeitraum anzurechnen.

5Der Beklagte beantragt sinngemäß,das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom zurückzuweisen.

6Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil und beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Gründe

7Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet. Im Ergebnis zutreffend hat das LSG entschieden, dass dem Kläger in der Zeit vom bis dem Grunde nach Alg II ohne Berücksichtigung der ihm im Januar 2009 zugeflossenen Erbschaft zusteht, nur der Tenor war zu berichtigen.

81. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom , mit dem der Beklagte den Antrag auf erneute Bewilligung von Alg II für die Zeit ab abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger statthaft mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 56 Sozialgerichtsgesetz <SGG>), nach seinem Klageziel begrenzt auf den Zeitraum bis zum und gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 SGG). Von dessen Zulässigkeit ist das LSG zu Recht ausgegangen, nachdem es für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt hat, dass der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 SGB II (Alter, Erwerbsfähigkeit, Hilfebedürftigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt) in dem streitgegenständlichen Zeitraum erfüllt und weiteres Einkommen und Vermögen nicht zu berücksichtigen ist, mithin also ein Anspruch auf Alg II besteht (vgl zur Zulässigkeit und den Voraussetzungen aus der Rechtsprechung der für das SGB II zuständigen Senate des Bundessozialgerichts <BSG>: B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 16; B 11b AS 37/06 R - BSGE 98, 243 = SozR 4-4200 § 12 Nr 4, RdNr 15 ff; B 14/7b AS 8/07 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 4 RdNr 11; - BSGE 111, 234 = SozR 4-1500 § 54 Nr 28, RdNr 19; - RdNr 12). Insoweit ist das LSG auch trotz seines Tenors, Leistungen ohne Anrechnung von Erwerbseinkommen "zu bewilligen", nicht unzulässig hinter dem Leistungsantrag des Klägers zurückgeblieben, weil es den Beklagten ausweislich der Entscheidungsgründe nicht nur zum Erlass eines entsprechenden Verwaltungsaktes, sondern auch zur Leistung verurteilt hat. Lediglich klarstellend war im Tenor zum Ausdruck zu bringen, dass dem Kläger Alg II ohne Anrechnung (überhaupt) von Einkommen zu zahlen ist.

92. Zutreffend hat das LSG entschieden, dass der Kläger in dem im Streit stehenden Zeitraum als erwerbsfähiger Hilfebedürftiger (vgl § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II) dem Grunde nach Anspruch auf Alg II hat (vgl § 19 SGB II in der bis zum geltenden Fassung), weil ihm, von dem jeweils unter 100 Euro monatlich liegenden und daher nicht zu berücksichtigenden Verdienst aus seiner geringfügigen Beschäftigung (§ 11 Abs 2 Satz 3 SGB II idF des Freibetragsneuregelungsgesetzes vom , BGBl I 2407) abgesehen, kein zu berücksichtigendes Einkommen zur Sicherung seines Lebensunterhalts zur Verfügung stand.

10a) Nach § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II (idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom , BGBl I 2954) sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach dem SGB II, der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des BVG vorsehen und Renten oder Beihilfen, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit erbracht werden. Dabei sind Einnahmen iS des § 11 Abs 1 SGB II nach der Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate grundsätzlich alles das, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazuerhält, und Vermögen das, was er vor Antragstellung bereits hatte (vgl nur - SozR 4-4200 § 11 Nr 17 RdNr 23; - BSGE 101, 291 = SozR 4-4200 § 11 Nr 15, RdNr 18). Zutreffend hat das LSG ausgeführt, dass sich die einmalige Einnahme damit im Zeitpunkt des Zuflusses als Einkommen darstellte. Diesen Charakter als Einkommen verliert eine einmalige Einnahme auch nach erneuter Antragstellung im nachfolgenden Bewilligungszeitraum nicht. Die rechtliche Wirkung des "Zuflussprinzips" endet nicht mit dem Monat des Zuflusses, sondern erstreckt sich über den gesamten Zeitraum, auf den das Einkommen (vorliegend nach § 2 Abs 4 Alg II-V idF vom ; vgl jetzt § 11 Abs 3 Satz 3 SGB II idF des Art 2 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch <Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz> vom , BGBl I 453 - neue Fassung <nF>) aufgeteilt wird, den sog "Verteilzeitraum" (vgl nur - BSGE 101, 291 = SozR 4-4200 § 11 Nr 15, RdNr 21 und - B 4 AS 57/07 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 16 RdNr 28 sowie - juris RdNr 25); davon geht der Beklagte zutreffend aus.

11b) Nicht unbeachtlich ist entgegen der Auffassung des Beklagten aber, ob die einmalige Einnahme im Bedarfszeitraum nicht mehr zur Verfügung stand; dem ist das LSG zu Recht nicht gefolgt. Wie der Senat bereits entschieden hat, kommt es bei Berücksichtigung einer Einnahme als Einkommen in einem abschließenden Prüfungsschritt darauf an, ob zugeflossenes Einkommen als "bereites Mittel" geeignet ist, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken. Dies gilt auch bei Berücksichtigung einer einmaligen Einnahme über einen Verteilzeitraum hinweg ohne Einschränkungen ( - BSGE 112, 229 = SozR 4-4200 § 11 Nr 57, RdNr 13 ff mwN). Hiernach muss zwar der Hilfebedürftige sein Einkommen auch dann zur Behebung einer gegenwärtigen Notlage für sich verwenden, wenn er sich dadurch außerstande setzt, anderweitig bestehende Verpflichtungen zu erfüllen ( B 14/7b AS 10/07 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 18 RdNr 25). Dementsprechend ist er bei Zufluss einer einmaligen Einnahme gehalten, das Geld nicht zur Schuldendeckung zu verwenden, sondern über den Verteilzeitraum hinweg zur Sicherung des Lebensunterhalts einzusetzen. Wenn die einmalige Einnahme, deren Berücksichtigung als Einkommen in Rede steht, tatsächlich aber nicht (mehr) uneingeschränkt zur Verfügung steht, ist ein Leistungsanspruch nicht ausgeschlossen. Die Verweigerung existenzsichernder Leistungen aufgrund einer unwiderleglichen Annahme, dass die Hilfebedürftigkeit bei bestimmtem wirtschaftlichen Verhalten - hier dem Verbrauch der einmaligen Einnahme in bestimmten monatlichen Teilbeträgen - (teilweise) abzuwenden gewesen wäre, ist mit Art 1 Grundgesetz (GG) iVm Art 20 GG nicht vereinbar (vgl nur - NVwZ 2005, 927 = Breith 2005, 803 = juris RdNr 28). Diesem Gedanken folgt das gesetzgeberische Grundprinzip, dass Einkommen nicht "fiktiv" berücksichtigt werden darf, sondern tatsächlich geeignet sein muss, Hilfebedürftigkeit zu beseitigen ( - BSGE 112, 229 = SozR 4-4200 § 11 Nr 57, RdNr 14 mwN).

12c) Hieran ist festzuhalten, wie der Senat bereits mit Urteil vom (B 14 AS 38/12 R) bekräftigt hat. Schon vor der Entscheidung des erkennenden Senats vom hatte der 4. Senat am Beispiel der Berücksichtigung schwankender Einnahmen ebenso darauf hingewiesen, dass es auf den tatsächlichen Zufluss "bereiter Mittel" ankommt (vgl - BSGE 108, 258 = SozR 4-4200 § 11 Nr 39, RdNr 29 mwN). Nunmehr hat er sich mit Urteil vom dem Ausspruch vom für die vorliegende Fallgestaltung ausdrücklich angeschlossen (B 4 AS 89/12 R, Terminbericht Nr 44/13 zu 2 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-4200 § 11 Nr 62 vorgesehen). Dem ist anders als vom Beklagten geltend gemacht auch nicht entgegenzuhalten, dass der vorzeitige Verbrauch laufender Einnahmen einen nachträglich höheren Leistungsanspruch im Zuflussmonat ebenfalls nicht zu begründen vermöge und in diesem Fall neben der Ausgabe von Lebensmittelgutscheinen (§ 23 Abs 2 SGB II in der bis zum geltenden Fassung <aF>, § 24 Abs 2 SGB II nF) nur eine darlehensweise Leistungsgewährung in Betracht komme. Dabei kann offenbleiben, ob das überhaupt zutrifft. Vorliegend ist nämlich nicht zu entscheiden, inwieweit der Verbrauch laufender Einnahmen vor Ablauf des Monats, in dem sie zugeflossen sind, als wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch anzusehen ist und mithin nachträglich Leistungsansprüche entstehen würden. Denn hier stand die Erbschaft nach Feststellung des LSG schon zu Beginn des im Streit stehenden Bewilligungszeitraums nicht mehr zur Sicherung des Lebensunterhalts zur Verfügung. In solcher Lage ist für eine darlehensweise Leistungsgewährung schon im Ansatz kein Raum, wie der Senat in seiner Entscheidung vom im Einzelnen dargelegt hat: Weder ist ein nur einmaliger Bedarf iS von § 23 Abs 1 SGB II aF zu decken (nunmehr § 24 Abs 1 SGB II nF) noch kommt die darlehensweise Gewährung von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bei zu erwartendem Zufluss von Einkommen in Betracht ( - BSGE 112, 229 = SozR 4-4200 § 11 Nr 57, RdNr 19 mwN).

133. In Betracht zu ziehen ist allerdings, dass ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II entstanden sein könnte; das hat der Senat bereits mit der Entscheidung vom ausgesprochen und mit Urteil vom nochmals bekräftigt (B 14 AS 55/12 R - SozR 4-4200 § 34 Nr 2 RdNr 22). Insbesondere wenn dem Leistungsberechtigten aus vorangegangenen Bezugszeiträumen oder nach entsprechender Aufklärung durch den Träger der Grundsicherung, die insbesondere bei sog Aufstockern mit laufendem und einmaligen Erwerbseinkommen angezeigt erscheint, bekannt ist oder bekannt sein müsste, in welcher Weise der Einsatz einer einmaligen Einnahme von ihm erwartet wird, kann bei entgegenstehendem Verhalten ein solcher Anspruch entstehen (zu den Voraussetzungen des § 34 SGB II im Einzelnen - BSGE 112, 135 = SozR 4-4200 § 34 Nr 1, RdNr 16 ff).

144. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2013:121213UB14AS7612R0

Fundstelle(n):
XAAAE-65458