BFH Urteil v. - III R 71/11

Anspruch auf Kindergeld für eine deutsche Grenzgängerin; Auflösung einer Anspruchskonkurrenz zwischen deutschem Kindergeldanspruch und ausländischer Familienleistung, wenn persönlicher Geltungsbereich nicht eröffnet ist

Leitsatz

1. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, der die Anrechnung von im Ausland gewährten, dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen regelt, kann durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 des Rates vom über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 in der durch die VO Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, diese wiederum geändert durch die VO Nr. 647/2005, verdrängt werden.
2. Unterfällt ein Steuerpflichtiger dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 und unterliegt er wegen einer abhängigen Beschäftigung in den Niederlanden gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats, wird dadurch der sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergebende Kindergeldanspruch nicht ausgeschlossen. Die Anspruchsberechtigung richtet sich auch bei Personen und bei Leistungen, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterliegen, allein nach den Bestimmungen des deutschen Rechts.
3. Fällt eine Person nicht in den persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71, dann richtet sich die Kindergeldberechtigung nach §§ 62 ff. EStG und die Anspruchskonkurrenz zwischen dem deutschen Kindergeldanspruch und der ausländischen Familienleistung ist nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu lösen.

Gesetze: EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, EStG § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, EWGV 1408/71 Art. 13 Abs. 2, EWGV 574/72 Art. 10

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

1 I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), die mit ihrer Familie in Deutschland lebt, bezog für ihren minderjährigen Sohn fortlaufend deutsches Kindergeld. Im Februar 2009 nahm sie in den Niederlanden eine abhängige Beschäftigung auf. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) nahm dies zum Anlass, die Kindergeldfestsetzung ab April 2009 aufzuheben. Zur Begründung führte sie aus, dass aufgrund der Beschäftigung im Ausland nur noch ein Anspruch auf niederländische Familienleistungen bestehe. Tatsächlich erhielt die Klägerin solche Leistungen ab April 2009, allerdings lediglich in der nach niederländischem Recht vorgesehenen Höhe von 194,99 € pro Quartal.

2 Die Zahlung von deutschem Differenzkindergeld verweigerte die Familienkasse unter Berufung auf § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Das Finanzgericht (FG) gab der daraufhin erhobenen Klage statt. Zur Begründung verwies es insbesondere auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Bosmann C-352/06 (Slg. 2008, I-3827).

3 Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse eine unzutreffende Auslegung des § 65 EStG.

4 Die Familienkasse beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

5 Die Klägerin beantragt, das Ruhen des Verfahrens bis zum Abschluss des unter dem Aktenzeichen III R 51/09 beim Bundesfinanzhof anhängigen Revisionsverfahrens anzuordnen.

6 II. Die begründete Revision der Familienkasse führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

7 1. Die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsakts (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit X - Familienkasse eingetreten (s. dazu , BFH/NV 2011, 1105, unter II.A.).

8 2. Das FG hat angenommen, dass ein etwaiger Anspruch der Klägerin auf (Differenz-)Kindergeld nicht an § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG scheitert. Diese rechtliche Folgerung ist nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen und daher fehlerhaft. Erst wenn die Feststellungen im zweiten Rechtsgang nachgeholt sind, wird die Prüfung möglich sein, ob § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG im vorliegenden Fall zur Anwendung gelangt oder durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften verdrängt wird.

9 Die Klägerin erfüllt, was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist, die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Das FG ist im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, der die Anrechnung von im Ausland gewährten, dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen regelt, durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 des Rates vom über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 (VO Nr. 574/72) in der durch die VO Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, diese wiederum geändert durch die VO Nr. 647/2005, verdrängt werden kann. Dies setzt allerdings voraus, dass die Klägerin überhaupt in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), fällt.

10 Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteile vom III R 55/08, BFHE 234, 316; vom III R 87/09, BFHE 237, 150; vom III R 76/10, BFHE 238, 87) ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet ist. Hierfür ist erforderlich, aber auch ausreichend, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der Europäischen Union versichert ist (zur Prüfung im Einzelnen s. BFH-Urteile in BFHE 234, 316; in BFHE 237, 150; in BFHE 238, 87).

11 Fällt eine Person nicht in den persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71, dann richtet sich die Kindergeldberechtigung nach §§ 62 ff. EStG und die Anspruchskonkurrenz zwischen dem deutschen Kindergeldanspruch und der ausländischen Familienleistung ist nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu lösen.

12 Das FG hat lediglich die Feststellung getroffen, dass die Klägerin in den Niederlanden beschäftigt sei. Dies genügt nicht für die Prüfung, ob der persönliche Geltungsbereich eröffnet wird, weil es hierfür maßgeblich auf den genauen Versichertenstatus ankommt.

13 3. Sollte sich im zweiten Rechtsgang herausstellen, dass die Klägerin dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterfällt und sie, was anhand der Senatsrechtsprechung (BFH-Urteile in BFHE 234, 316; in BFHE 237, 150; in BFHE 238, 87) im Einzelnen zu prüfen wäre, außerdem wegen einer abhängigen Beschäftigung in den Niederlanden gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt, dann wird das FG Folgendes zu beachten haben:

14 a) Obgleich Deutschland in diesem Fall im Hinblick auf die Gewährung der Familienleistungen an sich der unzuständige Staat wäre, würde der sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergebende Kindergeldanspruch nicht ausgeschlossen sein. Denn die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 entfalten keine Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats, so dass sich die Anspruchsberechtigung auch bei Personen und bei Leistungen, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterliegen, allein nach den Bestimmungen des deutschen Rechts richtet. Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf sein Urteil vom III R 8/11 (zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt).

15 b) Entgegen der Auffassung der Revision wäre die Festsetzung des (Differenz-)Kindergeldes nicht gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen.

16 Es könnte hierbei offenbleiben, ob die gegebene Anspruchskumulation zwischen deutschen und niederländischen Familienleistungen nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG oder —wie vom FG in der angegriffenen Entscheidung angenommen— nach der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 574/72 aufgelöst wird. Die Anwendung beider Vorschriften würde nämlich zum selben Ergebnis führen.

17 aa) Nach der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift ruht der deutsche Anspruch bis zur Höhe der im Beschäftigungsmitgliedstaat Niederlande geschuldeten Leistungen. Da mit der Anordnung des anteiligen Ruhens die Anspruchskumulation beseitigt ist, rechtfertigt es die Norm nicht, den weiter gehenden deutschen Kindergeldanspruch auszuschließen.

18 bb) § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sieht zwar vor, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind, zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre. Die Auslegung dieser Vorschrift hat jedoch unter Beachtung der Anforderungen des Primärrechts der Union auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erfolgen (, C-612/10, Hudzinski und Wawrzyniak, Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht —ZESAR— 2012, 475). Danach darf in einem Fall, in dem in einem anderen Mitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt werden, der Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nur in entsprechender Höhe gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden, wenn anderenfalls das Freizügigkeitsrecht des Wanderarbeitnehmers beeinträchtigt wäre.

19 Die vom EuGH in seinem Urteil in ZESAR 2012, 475 zur Bedeutung des Freizügigkeitsrechts entwickelten Rechtsgrundsätze sind über den dort entschiedenen Fall hinaus jedenfalls auch für solche Wanderarbeitnehmer anzuwenden, die dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterfallen und als Grenzgänger in einem anderen Mitgliedstaat einer abhängigen Beschäftigung nachgehen. Auch diese Wanderarbeitnehmergruppe kann von der Arbeitsaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union abgehalten werden, wenn sie befürchten müsste, den im Wohnmitgliedstaat bestehenden höheren Kindergeldanspruch zu verlieren. Es ist nicht ersichtlich, dass Grenzgänger anders zu behandeln sein könnten als Saisonarbeitnehmer oder entsandte Arbeitnehmer, die Gegenstand des EuGH-Urteils in ZESAR 2012, 475 waren.

20 4. Das Ruhen des Verfahrens war nicht anzuordnen. Eine solche Anordnung setzt gemäß § 155 FGO i.V.m. § 251 der Zivilprozessordnung übereinstimmende Anträge der Beteiligten voraus. Im Streitfall hat lediglich die Klägerin einen Antrag gestellt.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
BFH/NV 2014 S. 24 Nr. 1
TAAAE-48967