Einlegung eines Rechtsbehelfs erst nach Bekanntgabe eines Verwaltungsakts
Leitsatz
1. Ein Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt kann regelmäßig auch dann erst nach dessen Bekanntgabe eingelegt werden, wenn der Steuerpflichtige von dem Inhalt des Verwaltungsakts bereits zuvor sichere Erkenntnis erlangt hat.
2. Ist ein Steuerbescheid wirksam bekannt gegeben worden, kommt es für alle Folgefragen einschließlich des Beginns der Einspruchsfrist auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe dieses Bescheids an. Hat das Finanzamt wegen bestehender Zweifel am Zugang eines Steuerbescheids einen inhaltsgleichen Verwaltungsakt bekannt gegeben oder eine Bescheidkopie übermittelt, kommt dem nur dann Bedeutung zu, wenn die Bekanntgabe zuvor nicht wirksam gewesen war.
Gesetze: AO § 80 Abs. 1, AO § 110, AO § 122
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
1 I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist australischer Staatsbürger und wohnt in Australien. Er versteht nach seinen Angaben die deutsche Sprache weder in Schrift noch in Wort, obwohl er in Deutschland geboren ist.
2 Der Kläger und sein Bruder sind Miterben ihres im April 2006 verstorbenen Onkels. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) setzte die Erbschaftsteuer zunächst unter Berücksichtigung der Steuervergünstigungen nach § 13a Abs. 1 und 2 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes in der im Jahr 2006 geltenden Fassung fest. Da der geerbte Betrieb innerhalb von fünf Jahren nach dem Eintritt des Erbfalls veräußert wurde, gewährte das FA im geänderten Erbschaftsteuerbescheid vom die Steuervergünstigungen nicht mehr und erhöhte die Steuer entsprechend. Den für den Kläger bestimmten Steuerbescheid gab das FA der vom Kläger schriftlich bevollmächtigten Kanzlei von Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern und Rechtsanwälten bekannt, die den Bescheid mit Schreiben vom mit der Begründung, sie vertrete den Kläger seit dem Jahr 2008 nicht mehr steuerlich, an das FA zurücksandte.
3 Der Kläger wandte sich mit dem am beim FA eingegangenen, in englischer Sprache abgefassten Schreiben vom gegen den geänderten Erbschaftsteuerbescheid.
4 Das FA übersandte dem Kläger persönlich unter dem einen Erbschaftsteuerbescheid, mit dem es die Erbschaftsteuer in unveränderter Höhe festsetzte und dem es eine Rechtsbehelfsbelehrung beifügte, die auf die Bekanntgabe im Ausland abgestellt war.
5 Das FA verwarf den Einspruch vom als unzulässig, da er verspätet eingegangen sei. Die Einspruchsfrist habe mit der Bekanntgabe des Bescheids an die bevollmächtigte Kanzlei begonnen und sei am abgelaufen.
6 Das Finanzgericht (FG) gab der auf Herabsetzung der Erbschaftsteuer gerichteten Klage durch das in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 823 veröffentlichte Urteil teilweise statt. Es führte aus, der Kläger habe mit dem Schreiben vom wirksam Einspruch gegen den Bescheid vom eingelegt. Dieser Einspruch habe auch dann zu einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit der geänderten Steuerfestsetzung berechtigt und verpflichtet, wenn der Bescheid vom wegen nicht rechtzeitiger Einspruchseinlegung unanfechtbar geworden sein sollte. Die geänderte Steuerfestsetzung sei zum Teil rechtswidrig.
7 Das FA macht mit der Revision geltend, es habe den Einspruch vom zu Recht als unzulässig verworfen. Die Einspruchsfrist sei beim Eingang des Einspruchs am bereits abgelaufen gewesen. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Einspruchsfrist habe der Kläger nicht vorgetragen. Der Bescheid vom sei nicht mit dem Einspruch angefochten worden. Ein Einspruch gegen diesen Bescheid hätte im Übrigen wegen der Bestandskraft des Bescheids vom nicht zu einer Änderung der Steuerfestsetzung führen können.
8 Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
9 Der Kläger, dem die Revision und die Revisionsbegründung des FA durch Einschreiben mit Rückschein zugestellt wurden, hat sich nicht geäußert.
10 II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG hat zu Unrecht angenommen, es liege ein zulässiger Einspruch vor, so dass die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerfestsetzung überprüft werden könne.
11 1. Der Einspruch vom gegen den Steuerbescheid vom ist unzulässig. Er ist erst am und somit nach Ablauf der in § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) bestimmten Frist von einem Monat nach Bekanntgabe des Steuerbescheids und somit verspätet beim FA eingegangen.
12 a) Der Bescheid vom gilt aufgrund der Übermittlung durch die Post im Inland gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, somit am . Wie sich aus dem Schreiben der Kanzlei vom ergibt, lag der Steuerbescheid dieser auch tatsächlich bereits an diesem Tag vor.
13 b) Das FA konnte den Bescheid der Kanzlei gemäß § 80 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 122 Abs. 1 Satz 3 AO aufgrund der früheren Bevollmächtigung durch den Kläger wirksam bekannt geben. Der Widerruf der Vollmacht war dem FA gegenüber gemäß § 80 Abs. 1 Satz 4 AO nicht wirksam geworden, weil er ihm nicht zugegangen war.
14 c) Da der 30. und auf ein Wochenende fielen und der ein Feiertag war, endete die Einspruchsfrist gemäß § 108 Abs. 3 AO mit dem Ablauf des und war somit beim Eingang des Einspruchs am bereits abgelaufen.
15 d) Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO wegen der Versäumung der Einspruchsfrist hat der Kläger nicht vorgetragen und sind auch aus den Akten nicht ersichtlich. Wie sich aus dem von ihm eingelegten Einspruch ergibt, war er trotz der nach seinem Vorbringen fehlenden deutschen Sprachkenntnisse zur Erhebung eines Einspruchs in der Lage und hätte diesen bei Wahl eines anderen Übertragungswegs, insbesondere durch Telefax (vgl. z.B. Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 357 AO Rz 7), rechtzeitig einreichen können.
16 2. Das FG hat zu Unrecht angenommen, der Einspruch vom richte sich gegen den Steuerbescheid vom und habe die Möglichkeit eröffnet, die Steuerfestsetzung unabhängig von einer eingetretenen Bestandskraft des Bescheids vom zu überprüfen und zu Gunsten des Klägers zu ändern.
17 a) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) kann ein Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt erst nach dessen Bekanntgabe eingelegt werden, und zwar auch dann, wenn der Steuerpflichtige von dem Inhalt des Verwaltungsakts bereits zuvor sichere Erkenntnis erlangt hat (, BFHE 138, 154, BStBl II 1983, 551, m.w.N.; , BFH/NV 2010, 2014; ebenso , BFH/NV 2000, 439 zu dem früher in § 68 FGO vorgesehenen Antrag, einen während des gerichtlichen Verfahrens ergangenen Änderungsbescheid zum Gegenstand des Verfahrens zu machen).
18 Dies gilt zwar nach der Rechtsprechung des BFH nicht ausnahmslos. Im Streitfall sind aber die Voraussetzungen für eine Ausnahme nicht erfüllt. Das FG verweist insoweit zu Unrecht auf das (nicht veröffentlicht). Nach diesem Urteil kann ein Steuerbescheid bereits dann wirksam mit dem Einspruch angefochten werden, wenn er zwar noch nicht bekannt gegeben wurde, der Steuerpflichtige aber damit rechnen musste, dass die Bekanntgabe bereits bewirkt war.
19 Ein solcher Fall ist hier indes nicht gegeben; denn der Bescheid vom war durch Übersendung an die bevollmächtigte Kanzlei wirksam bekannt gegeben worden, so dass ohne weiteres dagegen Einspruch erhoben werden konnte. Der demgemäß zu Recht gegen den Bescheid vom gerichtete Einspruch vom kann nicht als gleichzeitig gegen den Bescheid vom eingelegter Einspruch verstanden werden.
20 b) Ein Einspruch gegen den Bescheid vom hätte darüber hinaus nicht die Möglichkeit eröffnet, die Steuerfestsetzung inhaltlich zu überprüfen. Einer solchen Überprüfung hätte die Bestandskraft des Bescheids vom entgegengestanden.
21 Ist ein Steuerbescheid wirksam bekannt gegeben worden, kommt es für alle Folgefragen einschließlich des Beginns der Einspruchsfrist auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe dieses Bescheids an. Hat das FA wegen bestehender Zweifel am Zugang eines Steuerbescheids einen inhaltsgleichen Verwaltungsakt bekannt gegeben oder eine Bescheidkopie übermittelt, kommt dem nur dann Bedeutung zu, wenn die Bekanntgabe zuvor nicht wirksam gewesen war (, BFHE 228, 111, BStBl II 2010, 732, unter II.1.b aa).
22 Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt; denn die Bekanntgabe des Bescheids vom an die bevollmächtigte Kanzlei war wirksam. Die Bekanntgabe des inhaltsgleichen Bescheids vom an den Kläger persönlich hatte somit keine Rechtsfolgen. Sie eröffnete insbesondere keine erneute Einspruchsmöglichkeit.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BFH/NV 2013 S. 693 Nr. 5
StBW 2013 S. 247 Nr. 6
PAAAE-31052