BAG Urteil v. - 10 AZR 336/11

Fleischkontrolleure - Arbeitszeit - Bedarfsarbeitsverhältnis

Instanzenzug: ArbG Oldenburg (Oldenburg) Az: 1 Ca 54/10 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Niedersachsen Az: 13 Sa 1393/10 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten darüber, ob die Kläger nur nach Arbeitsanfall beschäftigt werden müssen oder ob im Jahresdurchschnitt eine wöchentliche Mindestarbeitszeit von 39 Stunden vereinbart ist.

Der arbeitsvertraglich in Bezug genommene Tarifvertrag über die Regelung der Rechtsverhältnisse der amtlichen Tierärzte und Fleischkontrolleure außerhalb öffentlicher Schlachthöfe vom (TV Ang aöS) ist zum außer Kraft getreten. Er regelte in § 11a eine Arbeitszeit nach Arbeitsanfall, aber keine Mindestarbeitszeit. Seit dem ist der Tarifvertrag zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Beschäftigten in der Fleischuntersuchung vom (TV Fleischuntersuchung) in Kraft. Er gilt nach § 1 Abs. 1 für nicht vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und regelt zur Arbeitszeit Folgendes:

4Der Beklagte setzte die Kläger in der Vergangenheit teilweise mit wöchentlich mehr als 39 Stunden ein. Die Arbeitszeiten wurden in Arbeitszeitkonten erfasst, der Beklagte zahlte bis zum ein verstetigtes monatliches Gehalt auf Grundlage von 169,60 Stunden. Ende des Jahres 2006 wiesen die Arbeitszeitkonten der Kläger zwischen 361 und 692 nicht ausgezahlte Arbeitsstunden auf. Nach Einstellung weiterer Fleischkontrolleure setzte der Beklagte die Kläger seit dem Jahr 2007 in geringerem Umfang ein, sodass die Arbeitszeitkonten weitgehend abgebaut wurden. Seit dem erfolgt die monatliche Abrechnung auf Basis der jeweils geleisteten Stunden.

5Die Kläger haben die Auffassung vertreten, die Arbeitsverhältnisse hätten sich nach der Vertragspraxis und dem Umfang der Heranziehung zur Arbeit dahin gehend verändert, dass eine Mindestarbeitszeit von wöchentlich 39 Stunden im Jahresdurchschnitt Vertragsbestandteil geworden sei.

Die Kläger haben zuletzt beantragt

7Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen und die Auffassung vertreten, die Parteien hätten Bedarfsarbeitsverhältnisse begründet. Einsatzzeiten unterhalb der Grenze einer Vollzeitbeschäftigung seien deshalb zulässig.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Gründe

9Die Revision ist begründet. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung hat die Klage keinen Erfolg. Die Revision führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

10I. Die Klage ist als Elementenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO zulässig (vgl.  - Rn. 22; - 4 AZR 811/09 - Rn. 13, DB 2011, 2783). Die Parteien streiten über eine wöchentliche Mindestarbeitszeit und damit über den Umfang der vereinbarten Arbeitspflicht. Die Kläger haben ein rechtliches Interesse an der begehrten Feststellung. Die angestrebte Entscheidung ist geeignet, den Konflikt der Parteien über den Umfang der vereinbarten Arbeitszeit zu lösen und weitere Prozesse zu vermeiden (vgl.  - Rn. 15, BAGE 116, 267).

11II. Ob die Klage begründet und eine Mindestarbeitszeit von 39 Wochenstunden im Jahresdurchschnitt Vertragsinhalt geworden ist, kann der Senat mangels ausreichender Feststellungen nicht entscheiden. Mit der Begründung des Landesarbeitsgerichts kann der Klage nicht stattgegeben werden.

121. Die Parteien haben bei Begründung ihrer Arbeitsverhältnisse keine Mindestarbeitszeit vereinbart, sondern ein Bedarfsarbeitsverhältnis auf Grundlage des TV Ang aöS begründet. Dieser Tarifvertrag sollte den Besonderheiten einer Berufsgruppe im Verhältnis zu den sonstigen Beschäftigten im öffentlichen Dienst Rechnung tragen (vgl. zum TV Ang aöS:  - zu II 3 b bb der Gründe, AP BGB § 611 Fleischbeschauer-Dienstverhältnis Nr. 20 = EzA BetrAVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 13). Regelmäßig handelt es sich bei dieser Berufsgruppe um Teilzeitbeschäftigte, die neben ihrer Tätigkeit für den öffentlichen Dienstherrn einer weiteren Tätigkeit nachgehen; nach § 9 TV Ang aöS wird das Recht, eine sonstige berufliche Tätigkeit auszuüben, durch das Arbeitsverhältnis grundsätzlich nicht berührt. Nach § 11a TV Ang aöS richtet sich die Arbeitszeit des Angestellten nach dem Arbeitsanfall, der Arbeitgeber ist nur verpflichtet, in Großbetrieben eine möglichst gleichmäßige Heranziehung zur Arbeit zu regeln. Der Angestellte ist nicht verpflichtet, die Arbeitsleistung aufzunehmen, er hat nach § 11a Satz 3 TV Ang aöS eine Verhinderung nur unverzüglich anzuzeigen. Eine unbedingte Verpflichtung zur Arbeitsleistung verbunden mit der Gefahr, sich bei deren Verletzung Schadensersatzansprüchen auszusetzen, besteht nach diesen tariflichen Regelungen nicht ( - aaO).

132. Mit der Ersetzung des TV Ang aöS durch den TV Fleischuntersuchung zum ist, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, dieser Tarifvertrag Vertragsbestandteil geworden. Wegen des Fehlens einer Tarifsukzessionsklausel im Arbeitsvertrag ergibt sich dies entweder aus einer ergänzenden Vertragsauslegung (vgl.  - Rn. 19 ff., AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 88; - 5 AZR 888/08 - Rn. 21 ff., AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 73 = EzA TVG § 3 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 44) oder aus einer ergänzenden (konkludenten) Vereinbarung der Parteien, da die materiellen Regelungen des TV Fleischuntersuchung auf die Arbeitsverhältnisse angewendet wurden. Auch der TV Fleischuntersuchung bestimmt nach § 5 (Arbeitszeit), dass sich die Arbeitszeit nach dem Arbeitsanfall richtet, er regelt aber abweichend hiervon in § 6 (Besondere Regelungen zur Arbeitszeit in Großbetrieben), dass die Beschäftigten durchschnittlich wöchentlich zehn Stunden zur Arbeit herangezogen werden, sofern im Arbeitsvertrag nichts anderes vereinbart ist; nach § 6 Abs. 1 Satz 2 TV Fleischuntersuchung ist der Beschäftigte nach näherer tariflicher Maßgabe in diesem Umfang zur Arbeitsaufnahme verpflichtet. Allein durch Unterstellung der Arbeitsverhältnisse unter den TV Fleischuntersuchung hat sich an der Vertragslage der Kläger im Hinblick auf die geltend gemachte Vereinbarung einer Mindestarbeitszeit von 39 Wochenstunden im Jahresdurchschnitt nichts geändert.

143. Es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass Arbeitspflichten sich, ohne dass ausdrückliche Erklärungen ausgetauscht werden, nach längerer Zeit auf bestimmte Arbeitsbedingungen konkretisieren ( - Rn. 19 mwN, EzA GewO § 106 Nr. 9). Eine Konkretisierung der Leistungspflicht des Arbeitnehmers im Wege stillschweigender Vertragsergänzung setzt voraus, dass über den bloßen Zeitablauf hinaus Umstände vorliegen, die ein schutzwürdiges Vertrauen des Arbeitnehmers auf Beibehaltung des bisherigen Leistungsinhalts für die Zukunft begründen ( - Rn. 17, BAGE 116, 267). Dass ein Arbeitnehmer vom Arbeitgeber - auch längere Zeit - unter deutlicher Überschreitung einer vertraglich vorgesehenen Arbeitszeit eingesetzt wird, ergibt für sich genommen noch keine Vertragsänderung. Bei dem Arbeitseinsatz handelt es sich um ein tatsächliches Verhalten, dem nicht notwendig ein bestimmter rechtsgeschäftlicher Erklärungswert in Bezug auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses zukommt. Vielmehr ist auf die Absprachen abzustellen, die dem erhöhten Arbeitseinsatz zugrunde liegen. Dazu zählen auch die betrieblichen Anforderungen, die vom Arbeitgeber gestellt und vom Arbeitnehmer akzeptiert werden. Ohne derartige zumindest konkludente Erklärungen des Arbeitgebers ist der konkrete Arbeitseinsatz nicht denkbar, es sei denn, der Arbeitnehmer arbeitet eigenmächtig. Die Annahme einer dauerhaften Vertragsänderung mit einer erhöhten regelmäßigen Arbeitszeit setzt die Feststellung entsprechender Erklärungen der Parteien voraus. Dafür kann neben anderen Umständen von Bedeutung sein, um welche Art von Arbeit es sich handelt, wie sie in die betrieblichen Abläufe integriert ist und in welcher Weise die Arbeitszeit hinsichtlich Dauer und Lage geregelt bzw. ausgedehnt wird. In diesem Sinne kann für die Bestimmung der regelmäßigen vertraglichen Arbeitszeit auf das gelebte Rechtsverhältnis als Ausdruck des wirklichen Parteiwillens abgestellt werden ( - Rn. 12, AP BGB § 615 Nr. 121 = EzA BGB 2002 § 615 Nr. 20).

154. Das Landesarbeitsgericht hat wegen des Umfangs der Heranziehung der Kläger zu Arbeitsleistungen in der Vergangenheit, der Jahressalden der Arbeitszeitkonten seit 2007 und der Zahlung eines verstetigten Monatsentgelts auf Grundlage von 169,60 Stunden die konkludente Vereinbarung einer Mindestarbeitszeit von 39 Stunden wöchentlich im Jahresdurchschnitt angenommen. Entscheidend sei, dass nach § 6 Abs. 1 Satz 1 TV Fleischuntersuchung die arbeitsvertragliche Arbeitszeitregelung gegenüber der dort normierten wöchentlichen Arbeitszeit von 10 Stunden vorrangig sei. Dem folgt der Senat nicht. Diese Feststellungen erlauben nicht den Schluss auf eine einvernehmliche Vertragsänderung.

16a) Es liegt nahe, die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung des gleichförmigen Abruf- und Abrechnungsverhaltens des Beklagten im Hinblick auf den darin liegenden rechtsgeschäftlichen Erklärungswert revisionsrechtlich nach den Regeln über typische Willenserklärungen zu überprüfen. Aber auch einer revisionsrechtlich nur eingeschränkten Überprüfung, ob die Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB verletzt worden sind, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen oder Umstände, die für die Auslegung von Bedeutung sein können, außer Betracht gelassen worden sind (st. Rspr.,  - Rn. 26, AP BUrlG § 7 Nr. 51 = EzA BUrlG § 7 Nr. 124; - 10 AZR 617/07 - Rn. 21, AP HGB § 74 Nr. 82 = EzA HGB § 74 Nr. 70), hält die Auslegung des Landesarbeitsgerichts nicht stand.

17b) Dem Landesarbeitsgericht ist darin zuzustimmen, dass in dem Abrechnungsverhalten des Beklagten grundsätzlich ein Indiz für eine weitergehende vertragliche Bindung als im Rahmen eines reinen Bedarfsarbeitsverhältnisses liegen kann. Eine verstetigte Vergütung führt im Gegensatz zu einer Abrechnung nach geleisteten Stunden zu größerer Planungssicherheit der Beschäftigten und ist geeignet, diesbezüglich Vertrauen zu begründen. Dies gilt umso mehr, als tariflich nach § 12 Abs. 5 TV Ang aöS für die Berechnung der Vergütung die innerhalb eines Kalendermonats geleistete Arbeitszeit zusammenzurechnen ist. Der Beklagte hat die zustehende Vergütung aber stets auf Grundlage des TV Ang aöS und des TV Fleischuntersuchung berechnet und eine gegenüber dem TVöD erhöhte Vergütung gezahlt, während er auf die Arbeitsverhältnisse vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer den TVöD angewendet hat. Der Beklagte wollte sich damit grundsätzlich im Rahmen des jeweils anwendbaren Tarifrechts bewegen; aus dem Abrechnungsverhalten allein ist ein Rückschluss auf eine Vertragsänderung im Hinblick auf eine an den TVöD angelehnte Mindestarbeitszeit von 39 Wochenstunden im Jahresdurchschnitt deshalb nicht möglich.

18c) Auch in dem Umfang der Heranziehung zur Arbeit kann ein rechtsgeschäftlicher Erklärungsgehalt liegen. Allein daraus, dass ein Arbeitnehmer vom Arbeitgeber - auch längere Zeit - unter deutlicher Überschreitung einer vertraglich vorgesehenen Arbeitszeit eingesetzt wird, ergibt sich aber keine Vertragsänderung ( - Rn. 12, AP BGB § 615 Nr. 121 = EzA BGB 2002 § 615 Nr. 20). Der Arbeitseinsatz ist ein tatsächliches Verhalten, dem nicht notwendig ein bestimmter rechtsgeschäftlicher Erklärungswert in Bezug auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses zukommt. Mit den Klägern war eine bestimmte Arbeitszeit im Rahmen ihrer Bedarfsarbeitsverhältnisse auch nicht vereinbart. Aus dem Abrufverhalten des Beklagten konnten die Kläger deshalb grundsätzlich nur auf einen hohen Bedarf an ihrer Arbeitsleistung, nicht aber auf die Vereinbarung einer bestimmten Mindestarbeitszeit schließen.

19Eine Auslegung des Abrufverhaltens des Beklagten ist auch deshalb nicht möglich, weil konkrete Feststellungen fehlen. Soweit das Landesarbeitsgericht seiner Auslegung die Entwicklung der Arbeitszeitkonten seit dem Jahr 2007 zugrunde gelegt hat, hat es verkannt, dass die Kläger in dieser Zeitpanne mit weniger als 39 Wochenstunden im Jahresdurchschnitt beschäftigt worden sind. Das Abrufverhalten seit dem Jahr 2007 stützt das Klagebegehren nicht.

20d) Rechtsfehlerhaft ist auch, dass das Landesarbeitsgericht „entscheidend“ für seine Auslegung darauf abgestellt hat, dass § 6 Abs. 1 Satz 1 TV Fleischuntersuchung ausdrücklich den Vorrang der arbeitsvertraglichen Arbeitszeitregelung bestimmt. Diese Norm regelt zwar erstmalig eine tarifliche Mindestbeschäftigungsdauer (KomTVöD/Litschen § 6 TV Fleischuntersuchung Rn. 1); sie kann aber im Rahmen der geltend gemachten (konkludenten) Vertragsänderung nicht als Argument herangezogen werden, weil die Kläger zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des TV Fleischuntersuchung bereits mit einer geringeren durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit als mit der Klage geltend gemacht, beschäftigt wurden.

215. Die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts lassen eine abschließende Entscheidung nicht zu. Den Klägern ist Gelegenheit zu geben, ergänzenden Vortrag zu halten. Es bedarf der Darlegung der konkreten Entwicklung des Abrufverhaltens des Beklagten vor dem Jahr 2007 sowie in diesem Zusammenhang der Darlegung etwaiger Absprachen, die dem erhöhten Arbeitseinsatz zugrunde gelegen haben. Rückschlüsse auf die begehrte Rechtsfolge können sich daraus ergeben, inwieweit die Arbeitsverhältnisse in der täglichen Praxis tatsächlich als Bedarfs- oder doch als Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse gelebt wurden (Umgang mit Verhinderungsanzeigen der Kläger; Bindung an Dienstpläne). Eine ständig erbrachte Mindestarbeitsleistung könnte als konkludent vereinbart angesehen werden, wenn der Beklagte die Arbeitsleistung nicht nur abgerufen und erwartet, sondern von den Klägern als vertraglich geschuldete Leistung gefordert hat. Auch sonstige Erklärungen oder Verhaltensweisen des Beklagten können schutzwürdiges Vertrauen begründet haben und den Schluss auf einen Erklärungswert erlauben, dass die Arbeitsverhältnisse nicht als Bedarfsarbeitsverhältnisse, sondern mit einer Mindestarbeitszeit von 39 Wochenstunden im Jahresdurchschnitt fortgesetzt werden sollten.

6. Erlauben die weiteren Feststellungen keinen Schluss auf die konkludente Vereinbarung einer Mindestarbeitszeit, folgt daraus nicht, dass der Beklagte künftig über die Heranziehung der Kläger zur Arbeit frei entscheiden kann. Mit der gelebten Vertragspraxis hat der Beklagte ein berechtigtes schutzwürdiges Vertrauen der Kläger auf fortgesetzte Beschäftigung im bisherigen Umfang begründet, welches bei der gebotenen Ausübung billigen Ermessens im Rahmen der Heranziehung der Kläger zu berücksichtigen ist.

Fundstelle(n):
BB 2013 S. 244 Nr. 5
DB 2013 S. 290 Nr. 6
AAAAE-26995