Verpachtung landwirtschaftlicher Flächen
Leitsatz
Nach Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des am in Luxemburg unterzeichneten Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit muss eine Vertragspartei den „selbständigen Grenzgängern” einer anderen Vertragspartei im Sinne des Art. 13 dieses Anhangs hinsichtlich des Zugangs zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung im Aufnahmestaat eine Behandlung gewähren, die nicht weniger günstig ist als die den eigenen Staatsangehörigen gewährte Behandlung.
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 12 Abs. 1, 13 Abs. 1 und 15 Abs. 1 des Anhangs I des am in Luxemburg unterzeichneten Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (ABl. 2002, L 114, S. 6, im Folgenden: Abkommen).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Stamm und Frau Hauser einerseits und dem Regierungspräsidium Freiburg andererseits über die Anwendbarkeit des Grundsatzes der Gleichbehandlung auf die selbständigen Schweizer Grenzgänger.
Rechtlicher Rahmen
Das Abkommen
3 Nach Art. 1 Buchst. a und d des Abkommens besteht dessen Ziel u. a. in der Einräumung eines Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien und der Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
4 Nach Art. 2 des Abkommens werden „[d]ie Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, … bei der Anwendung dieses Abkommens gemäß den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert”.
5 Art. 16 des Abkommens („Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht”) lautet:
„1. Zur Erreichung der Ziele dieses Abkommens treffen die Vertragsparteien alle erforderlichen Maßnahmen, damit in ihren Beziehungen gleichwertige Rechte und Pflichten wie in den Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft, auf die Bezug genommen wird, Anwendung finden.
2. Soweit für die Anwendung dieses Abkommens Begriffe des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden, wird hierfür die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung berücksichtigt. Über die Rechtsprechung nach dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens wird die Schweiz unterrichtet. Um das ordnungsgemäße Funktionieren dieses Abkommens sicherzustellen, stellt der Gemischte Ausschuss auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung fest.”
6 Kapitel III des der Freizügigkeit gewidmeten Anhangs I des Abkommens enthält besondere Bestimmungen für Selbständige. Art. 12 dieses Anhangs bestimmt in seinem Abs. 1, dass „[e]in Staatsangehöriger einer Vertragspartei, der sich zwecks Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei niederlassen will (im Folgenden ‚Selbständiger‘ genannt), … eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Erteilung [erhält], sofern er den zuständigen nationalen Behörden nachweist, dass er zu diesem Zweck niedergelassen ist oder sich niederlassen will”.
7 Die Abs. 2 bis 6 dieses Artikels enthalten Verfahrensbestimmungen zum Aufenthaltsrecht der Selbständigen.
8 Hinsichtlich der selbständigen Grenzgänger bestimmt Art. 13 des genannten Anhangs:
„1. Ein selbständiger Grenzgänger ist ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei, der eine selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei ausübt und in der Regel täglich oder mindestens einmal in der Woche an seinen Wohnort zurückkehrt.
2. Die selbständigen Grenzgänger benötigen keine Aufenthaltserlaubnis.
Die zuständige Behörde des betreffenden Staates kann dem selbständigen Grenzgänger jedoch eine Sonderbescheinigung mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren ausstellen, sofern er den zuständigen nationalen Behörden nachweist, dass er eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt oder ausüben will. Diese Bescheinigung wird um mindestens fünf Jahre verlängert, sofern der Grenzgänger nachweist, dass er eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt.
3. Die Sonderbescheinigung gilt für das gesamte Hoheitsgebiet des Staates, der sie ausgestellt hat.”
9 Art. 14 („Berufliche und geographische Mobilität”) des Anhangs I des Abkommens lautet:
„1. Der Selbständige hat das Recht auf berufliche und geographische Mobilität im gesamten Hoheitsgebiet des Aufnahmestaates.
2. Die berufliche Mobilität umfasst den Wechsel des Berufs und den Übergang von einer selbständigen zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit. Die geographische Mobilität umfasst den Wechsel des Arbeits- und des Aufenthaltsortes.”
10 Zur Gleichbehandlung bestimmt Art. 15 dieses Anhangs:
„1. Dem Selbständigen wird im Aufnahmestaat hinsichtlich des Zugangs zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung eine Behandlung gewährt, die nicht weniger günstig ist als die den eigenen Staatsangehörigen gewährte Behandlung.
2. Artikel 9 dieses Anhangs gilt sinngemäß für die in diesem Kapitel genannten Selbständigen.”
11 Art. 16 („Ausübung hoheitlicher Befugnisse”) des genannten Anhangs lautet:
„Dem Selbständigen kann das Recht auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit verweigert werden, die dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist.”
12 Nach Art. 23 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens benötigt der Dienstleistungsempfänger für Aufenthalte von höchstens drei Monaten keine Aufenthaltserlaubnis. Für Aufenthalte von mehr als drei Monaten erhält er eine Aufenthaltserlaubnis, deren Gültigkeitsdauer der Dauer der Dienstleistung entspricht.
13 In Art. 25 dieses Anhangs heißt es:
„1. Der Staatsangehörige einer Vertragspartei, der ein Aufenthaltsrecht hat und seinen Hauptwohnsitz im Aufnahmestaat nimmt, hat hinsichtlich des Erwerbs von Immobilien die gleichen Rechte wie die Inländer. Er kann unabhängig von der Dauer seiner Beschäftigung jederzeit nach den geltenden innerstaatlichen Regeln seinen Hauptwohnsitz im Aufnahmestaat nehmen. Das Verlassen des Aufnahmestaates bedingt keine Veräußerungspflicht.
…
3. Ein Grenzgänger hat hinsichtlich des Erwerbs einer für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit dienenden Immobilie und einer Zweitwohnung die gleichen Rechte wie die Inländer; diese Rechte bedingen keine Veräußerungspflicht beim Verlassen des Aufnahmestaates. Ferner kann ihm der Erwerb einer Ferienwohnung gestattet werden. Für diese Kategorie von Staatsangehörigen lässt dieses Abkommen die geltenden Regeln des Aufnahmestaates für die bloße Kapitalanlage und den Handel mit unbebauten Grundstücken und Wohnungen unberührt.”
Nationales Recht
14 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass das deutsche Gesetz über die Anzeige und Beanstandung von Landpachtverträgen (LPachtVG) (BGBl. 1985 I S. 2075) besondere Vorschriften für die Landpacht enthält. Verpächter müssen Landpachtverträge der zuständigen Behörde anzeigen, die den Vertragsschluss u. a. dann beanstanden kann, wenn die Verpachtung eine „ungesunde” Verteilung der Bodennutzung bedeutet.
15 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach § 4 Abs. 1 und 2 LPachtVG die Verpachtung in der Regel dann eine „ungesunde” Verteilung der Bodennutzung bedeute, wenn sie Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur widerspreche. Dies sei u. a. dann der Fall, wenn landwirtschaftliche Grundstücke durch die Verpachtung an Nichtlandwirte der Nutzung durch Landwirte entzogen würden, die diese Flächen dringend zur Schaffung und Erhaltung leistungs- und wettbewerbsfähiger Betriebe benötigten und zur Anpachtung in der Lage seien.
16 Das vorlegende Gericht fügt hinzu, dass es nach seiner eigenen vor dem Inkrafttreten des Abkommens ergangenen Rechtsprechung den Maßnahmen zur Verbesserung der deutschen Agrarstruktur widerspreche, wenn landwirtschaftliche Grundstücke durch Verpachtung an Schweizer Landwirte, deren Betriebsstätten in der Schweiz lägen, der Nutzung durch deutsche Vollerwerbslandwirte entzogen würden, die diese Grundstücke dringend zur Schaffung und Erhaltung leistungs- und wettbewerbsfähiger Betriebe benötigten. Für die Zwecke des § 4 LPachtVG seien diese Schweizer Landwirte deshalb als außerhalb der deutschen Agrarstruktur stehend und mithin wie Nichtlandwirte zu behandeln.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
17 Herr Stamm, ein Schweizer Landwirt mit Betriebssitz in der Schweiz, schloss am mit Frau Hauser, die ihren Wohnsitz in Deutschland hat, einen Landpachtvertrag über in Deutschland gelegenes Ackerland mit einer Fläche von 2,75 ha. Der jährliche Pachtzins betrug nach dem für fünf Jahre geschlossenen Pachtvertrag 686 Euro.
18 Das Landwirtschaftsamt beanstandete den Pachtvertrag und forderte die Beteiligten auf, ihn unverzüglich aufzuheben. Der dagegen gerichtete Antrag auf gerichtliche Entscheidung und die Hilfsanträge von Herrn Stamm wurden vom Amtsgericht Waldshut-Tiengen zurückgewiesen. Es hob den Vertrag mit der Begründung auf, dass die Verpachtung eine „ungesunde” Verteilung der Bodennutzung bedeute.
19 Nach erfolgloser Anrufung des Oberlandesgerichts Karlsruhe in Freiburg beantragte Herr Stamm beim vorlegenden Gericht die Feststellung, dass der mit Frau Hauser geschlossene Pachtvertrag nicht zu beanstanden ist. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass der Landpachtvertrag unter Berücksichtigung der geschilderten Rechtsprechung aufzuheben gewesen sei, da im vorliegenden Fall deutsche Landwirte, die an einer Aufstockung ihres Betriebs interessiert seien, die betreffenden Flächen gerne pachten würden.
20 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass es der Aufrechterhaltung dieser Rechtsprechung entgegenstünde, wenn das in Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens verankerte Gleichbehandlungsgebot nicht nur für „Selbständige” im Sinne von Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I, sondern auch für „selbständige Grenzgänger” im Sinne von Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I gälte. Es wäre dann unzulässig, Schweizer Vollerwerbslandwirte mit Betriebssitz in der Schweiz bei der Anwendung von § 4 LPachtVG wie Nichtlandwirte zu behandeln. Vielmehr wäre ihnen eine Behandlung zu gewähren, die nicht weniger günstig sei als die deutschen Vollerwerbslandwirten gewährte Behandlung.
21 Da der Bundesgerichtshof die Auslegung des Abkommens für den Erlass seiner Entscheidung für erforderlich hält, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist nach Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens nur Selbständigen im Sinne von Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens in dem Aufnahmestaat hinsichtlich des Zugangs zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung eine Behandlung zu gewähren, die nicht weniger günstig ist als die den eigenen Staatsangehörigen gewährte Behandlung, oder gilt dies auch für selbständige Grenzgänger im Sinne von Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens?
Zur Vorlagefrage
Zur Zulässigkeit
22 Das Regierungspräsidium Freiburg hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, da die Vorlagefrage für den Ausgangsrechtsstreit nicht entscheidungserheblich sei. Es ist der Ansicht, dass Herr Stamm weder ein „Selbständiger” noch ein „selbständiger Grenzgänger” im Sinne des Anhangs I des Abkommens sei und dass ein Landwirt mit Betriebssitz in der Schweiz, der in Deutschland landwirtschaftliche Flächen nur bewirtschafte und die auf diesen Flächen gewonnenen landwirtschaftlichen Erzeugnisse dann zollfrei in die Schweiz einführe, unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit auf keinen Fall unter Art. 12 oder 13 des genannten Anhangs falle.
23 Auch die Kommission der Europäischen Gemeinschaften äußert Zweifel an der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Frage. Sie macht geltend, ein selbständiger Grenzgänger müsse – wie dies in Art. 12 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens allgemein für alle Selbständigen vorgesehen sei – im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei niedergelassen sein. Da sich den Akten nicht entnehmen lasse, dass Herr Stamm im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland einen zweiten Betriebssitz unterhalte, mit dem er sich in die deutsche Wirtschaft integriere und sich an Angehörige dieses Staates wende, sei nicht auszuschließen, dass der Betroffene nicht in Deutschland niedergelassen und kein „selbständiger Grenzgänger” im Sinne des Abkommens sei.
24 Diese Einwände sind zurückzuweisen.
25 Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (vgl. Urteile vom , Salzmann, C-300/01, Slg. 2003, I-4899, Randnrn. 29 und 31, und vom , van der Weerd u. a., C-222/05 bis C-225/05, Slg. 2007, I-4233, Randnr. 22). Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom , Cipolla u. a., C-94/04 und C-202/04, Slg. 2006, I-11421, Randnr. 25, und van der Weerd u. a., Randnr. 22).
26 Das vorlegende Gericht hat aber Herrn Stamm eindeutig als „selbständigen Grenzgänger” eingestuft.
27 Unter diesen Umständen erweist sich nicht, dass die erbetene Auslegung der Bestimmungen des Abkommens in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde. Die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage wird deshalb durch die Einwände des Regierungspräsidiums Freiburg und der Kommission nicht entkräftet.
28 Das Vorabentscheidungsersuchen ist demnach zulässig.
Zur Beantwortung der Frage
29 Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass der Kontext des Ausgangsverfahrens durch das Vorabentscheidungsersuchen bestimmt wird und deshalb die Übergangsbestimmungen und die Bestimmungen zur Weiterentwicklung des Abkommens in dessen Art. 10 und in Kapitel VII des Anhangs I des Abkommens nicht Gegenstand der Prüfung durch den Gerichtshof sind.
30 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Gleichbehandlungsregelung des Art. 15 des Anhangs I des Abkommens für die „selbständigen Grenzgänger” im Sinne des Art. 13 dieses Anhangs gilt.
31 Das Regierungspräsidium Freiburg bringt vor, der in Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens vorgesehene Grundsatz, dass Selbständigen eine nicht weniger günstige Behandlung gewährt werden müsse, gelte nur für die „selbständigen” im Sinne des Art. 12 Abs. 1 dieses Anhangs, nicht aber für die „selbständigen Grenzgänger” im Sinne des Art. 13 Abs. 1 dieses Anhangs. Diese Auslegung finde Bestätigung in Aufbau und Wortlaut des Abkommens, das Selbständige und selbständige Grenzgänger nicht völlig gleichstelle, sondern vielmehr beide Personengruppen bewusst unterscheide.
32 Dieser Auslegung kann jedoch nicht zugestimmt werden.
33 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das Kapitel III („Selbständige”) des Anhangs I des Abkommens die Art. 12 bis 16 dieses Anhangs umfasst. Art. 12 des Anhangs I betrifft die Selbständigen, d. h. die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die zwecks Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei niedergelassen sind oder sich niederlassen wollen. Art. 13 dieses Anhangs betrifft die selbständigen Grenzgänger, eine Kategorie von Selbständigen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei haben und eine selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei ausüben. Die Art. 14 und 15 des Anhangs I des Abkommens regeln die berufliche und geografische Mobilität und die Gleichbehandlung der Selbständigen. Art. 16 dieses Anhangs sieht die Möglichkeit vor, Selbständigen das Recht auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu verweigern, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist.
34 Es ist festzustellen, dass dieses Kapitel III keine Bestimmung enthält, nach der die Art. 14 bis 16 des Anhangs I des Abkommens nur auf „Selbständige” im Sinne des Art. 12 Abs. 1 dieses Anhangs und nicht auf „selbständige Grenzgänger” im Sinne des Art. 13 Abs. 1 des Anhangs I anzuwenden wären.
35 Nichts in Kapitel III deutet nämlich darauf hin, dass den selbständigen Grenzgängern nicht die berufliche und geografische Mobilität im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats nach Art. 14 des Anhangs I des Abkommens zugutekäme oder dass ihnen nicht gemäß Art. 16 dieses Anhangs das Recht auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt in diesem Staat verbunden ist, verweigert werden könnte. Diese Feststellung behält auch hinsichtlich der geografischen Mobilität ihre Gültigkeit, mag auch das Recht darauf so ausgeübt werden müssen, dass die Eigenschaft als „selbständiger Grenzgänger”, wie sie in Art. 13 des Anhangs I definiert ist, gewahrt bleibt.
36 Auch enthält keine Bestimmung des Kapitels III des Anhangs I des Abkommens in Bezug auf den in Art. 15 dieses Anhangs verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung einen Hinweis darauf, dass sich die selbständigen Grenzgänger nicht auf diesen Grundsatz berufen könnten.
37 Da Kapitel III des Anhangs I des Abkommens weder nach Wortlaut noch Aufbau Anhaltspunkte liefert, auf deren Grundlage die Anwendung der Art. 14 bis 16 dieses Anhangs auf die selbständigen Grenzgänger ausgeschlossen werden könnte, kann nicht die Ansicht vertreten werden, dass Letztere, die von Art. 13 Abs. 1 dieses Anhangs erfasst werden, im Rahmen dieses Kapitels nicht genauso als Selbständige angesehen werden wie die Personen, die unter Art. 12 des Anhangs I fallen.
38 Diese Feststellung wird dadurch gestützt, dass nach Art. 15 Abs. 2 des Anhangs I des Abkommens „Artikel 9 dieses Anhangs … sinngemäß für die in … Kapitel [III] genannten Selbständigen [gilt]”. Da in dieser Vorschrift auf die in Kapitel III „genannten Selbständigen” und nicht auf die in Art. 12 des Anhangs I genannten Selbständigen verwiesen wird, hatten die Parteien des Abkommens nicht die Absicht, hinsichtlich der Anwendbarkeit der Art. 14 bis 16 des Anhangs I des Abkommens zwischen den Selbständigen und den selbständigen Grenzgängern zu unterscheiden. Vielmehr liegt darin ein Beleg dafür, dass die berufliche und geografische Mobilität, die Gleichbehandlung und die Möglichkeit, bestimmte Personen von der Ausübung einer mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbundenen Erwerbstätigkeit auszuschließen, die in den letztgenannten Artikeln vorgesehen sind, unterschiedslos für die von Art. 12 des Anhangs I erfassten Personen und die in Art. 13 dieses Anhangs genannten Personen gelten.
39 Dem ist entsprechend dem Vorbringen der Kommission hinzuzufügen, dass das Abkommen die selbständigen Grenzgänger nur zu dem Zweck besonders in einem eigenen Artikel hervorhebt, aufenthaltsrechtliche Erleichterungen für sie festzulegen. In der Tat benötigen die selbständigen Grenzgänger anders als die übrigen Selbständigen im Sinne des Art. 12 des Anhangs I des Abkommens keine Aufenthaltserlaubnis. Es liegt auf der Hand, dass es nicht die Absicht der Parteien des Abkommens, die die Grenzgänger besser gestellt haben, gewesen sein kann, Letztere hinsichtlich der Anwendbarkeit des Grundsatzes der Gleichbehandlung schlechter zu stellen.
40 Die Auffassung von Herrn Stamm, dass den selbständigen Grenzgängern der Grundsatz der Gleichbehandlung zugutekomme, findet im Übrigen Bestätigung im Aufbau der Kapitel II und III des Anhangs I des Abkommens, in dessen allgemeiner Zielsetzung und in der Auslegung, die Art. 25 dieses Anhangs zu geben ist.
41 Erstens zeigt eine Strukturanalyse der Kapitel II („Arbeitnehmer”) und III („Selbständige”) des Anhangs I des Abkommens, dass diese Kapitel gleich aufgebaut sind.
42 Dabei ist auch festzustellen, dass Kapitel II dieses Anhangs in den Art. 6 und 7 die Bestimmungen über die Arbeitnehmer und über die abhängig beschäftigten Grenzgänger enthält und in den Art. 8 bis 10 die Grundsätze der beruflichen und geografischen Mobilität und der Gleichbehandlung sowie die Möglichkeit, die Arbeitnehmer vom Recht auf bestimmte Beschäftigungen in der öffentlichen Verwaltung auszuschließen, vorsieht. Es enthält keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass diese Grundsätze und diese Möglichkeit nicht für die abhängig beschäftigten Grenzgänger, sondern nur für die Arbeitnehmer gälten. Es gibt darin keine Bestimmung, die eine Grundlage für die Ansicht böte, dass die abhängig beschäftigten Grenzgänger – vorbehaltlich der Wahrung dieser Eigenschaft – keinen Anspruch auf berufliche und geografische Mobilität sowie auf Gleichbehandlung hätten oder dass ihnen nicht gegebenenfalls eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung verweigert werden könnte.
43 Dem Umstand, dass zum einen der Grundsatz der Gleichbehandlung sowohl die Arbeitnehmer als auch die abhängig beschäftigten Grenzgänger erfasst, und der Tatsache, dass zum anderen der Aufbau von Kapitel II des Anhangs I des Abkommens dem Aufbau von Kapitel III dieses Anhangs entspricht, ist zu entnehmen, dass die Parteien des Abkommens hinsichtlich der Anwendbarkeit des genannten Grundsatzes nicht zwischen den Selbständigen und den selbständigen Grenzgängern unterscheiden wollten.
44 Zweitens ist zur Zielsetzung des Abkommens darauf hinzuweisen, dass dieses nach seinem Art. 1 Buchst. a und d zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft u. a. die Einräumung eines Rechts auf Niederlassung als Selbständiger und die Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer bezweckt. Wie aber die Kommission ausführt, würden diese Ziele nur teilweise erreicht, wenn die selbständigen Grenzgänger bei der Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit besonderen Einschränkungen unterworfen werden könnten, die für die sonstigen Selbständigen nicht gelten.
45 Darüber hinaus dürfen die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, nach Art. 2 des Abkommens bei der Anwendung der Anhänge I bis III des Abkommens nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden.
46 Bei einer teleologischen Auslegung der Art. 12, 13 und 15 des Anhangs I des Abkommens im Licht der Art. 1 Buchst. a und d und 2 des Abkommens dürfen deshalb die selbständigen Grenzgänger hinsichtlich des Zugangs zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung im Aufnahmestaat nicht weniger günstig behandelt werden als dessen eigene Staatsangehörige.
47 Drittens ist in Bezug auf Kapitel VI („Erwerb von Immobilien”) des Anhangs I des Abkommens festzustellen, dass der einzige Artikel dieses Kapitels, nämlich Art. 25 des Anhangs, in seinem Abs. 3 vorsieht, dass ein Grenzgänger hinsichtlich des Erwerbs einer für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit dienenden Immobilie die gleichen Rechte hat wie die Inländer.
48 Zwar erfasst dieser Artikel nicht die Landpacht, doch es kann nicht die Absicht der Vertragsparteien gewesen sein, diese Verträge schlechter zu stellen als den Immobilienerwerb, der in der Regel umfassendere dingliche Rechte verschafft.
49 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass eine Vertragspartei nach Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des Abkommens den „selbständigen Grenzgängern” einer anderen Vertragspartei im Sinne des Art. 13 dieses Anhangs hinsichtlich des Zugangs zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung im Aufnahmestaat eine Behandlung gewähren muss, die nicht weniger günstig ist als die den eigenen Staatsangehörigen gewährte Behandlung.
Kosten
50 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Nach Art. 15 Abs. 1 des Anhangs I des am in Luxemburg unterzeichneten Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit muss eine Vertragspartei den „selbständigen Grenzgängern” einer anderen Vertragspartei im Sinne des Art. 13 dieses Anhangs hinsichtlich des Zugangs zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung im Aufnahmestaat eine Behandlung gewähren, die nicht weniger günstig ist als die den eigenen Staatsangehörigen gewährte Behandlung.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
GAAAE-23263