BFH Beschluss v. - VI B 67/12

Haushaltsaufnahme eines seelisch behinderten Kindes bei den Eltern; Heimunterbringung; Überraschungsentscheidung; Begründungserleichterung nach § 105 Abs. 5 FGO

Gesetze: GG Art. 103 Abs. 1, EStG § 32 Abs. 1 Nr. 2, SGB 8 § 27, SGB 8 § 34, SGB 8 § 35a, FGO § 118 Abs. 2, FGO § 116 Abs. 3 Satz 3, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 105 Abs. 5

Instanzenzug:

Gründe

1 Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

2 1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.

3 a) Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn eine Frage zu entscheiden ist, an deren Beantwortung ein allgemeines Interesse besteht (sog. Klärungsbedürftigkeit) und die im angestrebten Revisionsverfahren gegen das angefochtene Urteil geklärt werden kann (sog. Klärungsfähigkeit, vgl. dazu , BFH/NV 2012, 1320, m.w.N.).

4 b) Der Kläger wirft sinngemäß die Rechtsfrage auf, ob ein Kind, dessen Erziehungsberechtigte bei der Erziehung versagen bzw. der Erziehung nicht gewachsen sind und das deshalb im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe in einem Heim oder einer ähnlichen Wohnform nach § 34 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) untergebracht ist, zugleich in dem Haushalt des (zur Erziehung nicht geeigneten) Elternteils, bei dem es zuvor gewohnt hat, aufgenommen sein kann.

5 c) Diese Frage ist in dem angestrebten Revisionsverfahren jedoch nicht klärungsfähig. Die Prämisse des Klägers, dass im Streitfall Hilfe zur Erziehung gewährt wurde, weil eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für dessen Entwicklung geeignet und notwendig war, trifft schon nicht zu. Nach den den BFH gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts (FG) im angefochtenen Urteil (Bl. 38 der mit Verfügung vom —Bl. 9 der FG-Akte— beigezogenen Kindergeldakte, „KG-Nr. .”) ist den Personensorgeberechtigten durch die Heim-/Wohngruppenunterbringung des Kindes keine Hilfe zur Erziehung nach § 27 i.V.m. § 34 SGB VIII wegen mangelnder elterlicher Erziehungsleistungen gewährt worden. Vielmehr hat die Stadt A dem Kind Hilfe zur Erziehung in einem Heim oder einer sonstigen betreuten Wohnform im Rahmen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35a SGB VIII zugesprochen.

6 d) Insoweit ist der Begriff der Haushaltsaufnahme i.S. des § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes nicht klärungsbedürftig, sondern durch die Rechtsprechung des BFH geklärt. Danach kann ein behindertes Kind trotz (dauernder) Heimunterbringung weiterhin zum Haushalt der (Pflege-)Eltern gehören, wenn es dort in einem zeitlich bedeutsamen Umfang betreut wird (, BFH/NV 2011, 788; zu den Voraussetzungen im Einzelnen vgl. , BFHE 197, 296, BStBl II 2002, 244; vom VIII R 91/98, BFH/NV 2004, 324). Der Kläger zieht diese Rechtsgrundsätze, von denen das FG bei seiner Entscheidung ausgegangen ist, nicht in Zweifel. Auch ist nicht ersichtlich, weshalb eine nochmalige Befassung mit den vorstehend dargestellten Grundsätzen erfolgen soll.

7 2. Die Revision ist schließlich auch nicht wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Vorliegend ist weder eine Überraschungsentscheidung noch ein Verstoß gegen § 105 Abs. 5 FGO zu beklagen.

8 a) Entgegen der Auffassung des Klägers hat das FG keine Überraschungsentscheidung erlassen, als es entgegen seiner vorherigen Ankündigung die Klage nicht als unzulässig, sondern als unbegründet abgewiesen hat.

9 aa) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH liegt eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen mussten (vgl. z.B. , BFH/NV 2005, 1617). Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt erst dann vor, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter —selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen— nicht zu rechnen brauchte, so dass dies im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleichkommt.

10 Ein solches Geschehen ist im Streitfall nicht zu erkennen. Denn das FG hat über das Begehren des Klägers, wie von diesem im gesamten Klageverfahren stets (zutreffend) gefordert, —wenn auch zu seinen Lasten— in der Sache entschieden.

11 bb) Das FG hat auch im Übrigen nicht gegen den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen. Der Anspruch umfasst in erster Linie das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und —gegebenenfalls— Beweisergebnissen zu äußern sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 119 Rz 10a, m.w.N.). Dass der Kläger am tatsächlichen oder rechtlichen Vortrag im Laufe des Verfahrens und insbesondere während der mündlichen Verhandlung gehindert gewesen wäre, ist nicht ersichtlich. Vielmehr hat er ausführlich schriftsätzlich zur materiellen Rechtslage vorgetragen und entsprechende Beweise angeboten. Auch ist ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung in der Sache der Verfahrensstand mit den Beteiligten erörtert worden.

12 cc) Allein der Umstand, dass der Einzelrichter dabei zum Ausdruck gebracht haben soll, dass die Klage als unzulässig abzuweisen sei, kommt einer Verhinderung weiteren Sachvortrags zur materiellen Rechtslage nicht gleich. Vielmehr hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung auf seinem Rechtsstandpunkt, dass in der Sache zu entscheiden sei, beharrt. Nach der Niederschrift über die mündliche Verhandlung in dieser Sache hat er dem Gericht einen dementsprechenden Schriftsatz übergeben. Es war ihm deshalb auch unbenommen, weiter zur Sache vorzutragen und die seiner Ansicht nach für eine Sachentscheidung erforderlichen Beweisanträge —wie im Schriftsatz vom — in der mündlichen Verhandlung zu stellen. Schließlich musste der fachkundige Kläger in dieser Situation damit rechnen, dass das FG von einer weiteren Sachaufklärung absehen werde. Angesichts dessen hätte er in der Beschwerdebegründung jedenfalls erläutern müssen, weshalb er das Vorgehen des FG nicht schon in der ersten Instanz gerügt hat. Allein der Vortrag, dass er sich wegen der Unrichtigkeit der richterlich geäußerten Rechtsauffassung zur Zulässigkeit der Klage in Sicherheit gewiegt habe, sein Recht erst vor dem BFH zu erhalten, und deshalb davon abgesehen habe, Beweisanträge zu stellen, wird dem Darlegungsgebot (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) nicht gerecht. Denn der Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch die prozessuale Mitverantwortung des Beteiligten begrenzt (vgl. , BFH/NV 2007, 947).

13 b) Soweit der Kläger rügt, § 105 Abs. 5 FGO erlaube lediglich in Fällen der Anfechtungsklage auf die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf Bezug zu nehmen, verkennt er, dass die in § 105 Abs. 5 FGO in der seit dem geltenden Fassung normierte Begründungserleichterung nicht länger nur auf (bestimmte) Anfechtungsklagen beschränkt ist, sondern auch bei Verpflichtungsklagen angewendet werden kann (Gräber/von Groll, a.a.O., § 105 Rz 29; Lange in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 105 FGO Rz 48).

Fundstelle(n):
WAAAE-20819