BGH Beschluss v. - VIII ZB 69/11

Leitsatz

Leitsatz:

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Instanzenzug: AG Hamburg-Sankt-Georg, 922 C 435/09 vom LG Hamburg, 320 S 79/10 vom

Gründe

I. Die Klägerin begehrt von den beklagten Sonderkunden die Zahlung restlichen Entgelts für Gaslieferungen; insoweit streiten die Parteien über die Berechtigung von Gaspreiserhöhungen. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landgericht (Zivilkammer 20) hat das Berufungsverfahren analog § 148 ZPO bis zur Entscheidung der beim Senat anhängigen Revisionsverfahren VIII ZR 93/11 und VIII ZR 94/11, die Parallelverfahren der Klägerin gegen andere Kunden betreffen, ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die vom Landgericht zugelassene Rechtsbeschwerde der Beklagten.

II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

Zwar sei eine Vorgreiflichkeit im Sinne des § 148 ZPO nicht gegeben. Das vorliegende Verfahren könne aber analog § 148 ZPO ausgesetzt werden, da es sich hierbei um einen Teil eines "Massenverfahrens" handele und die Unmöglichkeit einer angemessenen Bewältigung der Gesamtheit der Verfahren das Gewicht verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen so erhöhe, dass hierdurch ein qualitativ anderer Wertungsgesichtspunkt als die "normale" Prozessökonomie begründet werde. Bei dem Landgericht Hamburg seien gegenwärtig 280 gleichgelagerte Berufungen anhängig, davon 98 bei der Zivilkammer 20. Die Kammer sei nicht in der Lage, diese Verfahren in absehbarer Zeit sämtlich zum Abschluss zu bringen. Nach Abschluss der beim Bundesgerichtshof anhängigen Revisionsverfahren sei zu erwarten, dass entweder die Klägerin ihre Berufung zurücknehme oder die Beklagtenseite den Klageanspruch anerkenne. Eine streitige Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde daher zu einer erheblichen Mehrbelastung des Gerichts führen. Sie wäre insbesondere auch für die betroffenen Parteien in einem Maße unwirtschaftlich, dass es gerechtfertigt erscheine, dem Wertungsgesichtspunkt der Prozessökonomie das erforderliche Gewicht beizumessen.

2. Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Nach § 148 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist. Die Aussetzung der Verhandlung setzt damit die Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit zu treffenden Entscheidung im Sinne einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus, also dass die Entscheidung in dem einen Rechtsstreit die Entscheidung des anderen rechtlich beeinflussen kann (, BGHZ 162, 373, 375). Diese Voraussetzung ist - wie das Landgericht auch erkannt hat - vorliegend nicht erfüllt, da die beim Senat anhängigen Revisionsverfahren VIII ZR 93/11 und VIII ZR 94/11 im Hinblick auf das der Rechtsbeschwerde zu Grunde liegende Verfahren weder materielle Rechtskraft entfalten noch Gestaltungs- oder Interventionswirkung haben (vgl. Stein/Jonas/Roth, ZPO, 22. Aufl., § 148 Rn. 23 ff.). Es genügt nicht, dass die in den genannten Revisionsverfahren zu erwartenden Entscheidungen (lediglich) geeignet sind, einen rein tatsächlichen Einfluss auf die im vorliegenden Fall zu treffende Entscheidung zu haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom - X ZB 26/04, aaO; vom - IV ZB 36/03, [...] Rn. 2; BAG, NJOZ 2005, 2318, 2324).

b) Allein die Tatsache, dass in einem anderen Verfahren über einen gleich oder ähnlich gelagerten Fall nach Art eines Musterprozesses entschieden werden soll, rechtfertigt für sich genommen ebenfalls noch keine Aussetzung analog § 148 ZPO (BGH, Beschlüsse vom - X ZB 26/04, aaO S. 376, und X ZB 20/04, [...] Rn. 11; vgl. auch , aaO; Senatsurteil vom - VIII ZR 4/82, NJW 1983, 2496 unter II 2 a; OLG Stuttgart, OLGR 1999, 134 f.). Insbesondere enthält § 148 ZPO keine allgemeine Ermächtigung, die Verhandlung eines Rechtsstreits zur Abwendung einer vermeidbaren Mehrbelastung des Gerichts auszusetzen (, aaO). Denn die Vorschrift stellt nicht auf sachliche oder tatsächliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen Verfahren, sondern auf die Abhängigkeit vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab. Allein die tatsächliche Möglichkeit eines Einflusses genügt dieser gesetzlichen Voraussetzung nicht, so dass die bloße Übereinstimmung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage die Aussetzung noch nicht erlaubt (BGH, Beschlüsse vom - X ZB 26/04, aaO S. 377, und X ZB 20/04, [...] Rn. 15; BFH, BFH/NV 2010, 1847). Dem entsprechend hat auch der Gesetzgeber mit § 7 KapMuG und § 93a VwGO eigens spezialgesetzliche Grundlagen für eine von § 148 ZPO beziehungsweise der parallelen Vorschrift des § 94 VwGO an sich nicht mehr gedeckte Aussetzung von Musterverfahren geschaffen (vgl. BT-Drucks. 11/7030 S. 28; 15/5091 S. 14).

c) Die vom Bundesgerichtshof in diesem Zusammenhang bislang ausdrücklich offen gelassene Frage, ob bei "Massenverfahren" die Unmöglichkeit der angemessenen Bewältigung der Gesamtheit der Verfahren das Gewicht verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen so zu erhöhen vermag, dass hierin ein nicht nur quantitativ, sondern qualitativ anderer Wertungsgesichtspunkt als die "normale" Prozessökonomie hervortritt (BGH, Beschlüsse vom - X ZB 26/04, aaO S. 377, und X ZB 20/04, aaO Rn. 13; vgl. auch Stürner, JZ 1978, 499), bedarf auch vorliegend keiner Entscheidung. Voraussetzung für die Annahme eines derartigen "Massenverfahrens" wäre jedenfalls, dass das Gericht mit einer schlechthin nicht zu bewältigenden Vielzahl von gleichgelagerten Verfahren befasst ist (, aaO Rn. 15). Dazu hat das Landgericht bislang keine zureichenden Feststellungen getroffen.

Der Umstand, dass 98 gleichgelagerte Berufungsverfahren bei der Zivilkammer 20 anhängig sind, hat für sich allein keine Aussagekraft zur Beantwortung der Frage, ob dieser Spruchkörper mit einer schlechthin nicht zu bewältigenden Vielzahl von gleichgelagerten Verfahren befasst ist. Zur Geschäftsbelastung dieses Spruchkörpers durch sonstige Verfahren ist nichts festgestellt. Insbesondere verhält sich das Berufungsgericht nicht zu der Frage, ob und inwieweit bei dem Landgericht Hamburg - etwa durch Verteilung der eingehenden Sachen im Rotationssystem - ein Verfahren eingerichtet ist, um die Geschäftsbelastung möglichst gleichmäßig auf alle Spruchkörper zu verteilen. Im Übrigen liegt es auch nicht auf der Hand, dass bei 98 gleichgelagerten Berufungsverfahren innerhalb eines landgerichtlichen Spruchkörpers, dessen Mitglieder sich bereits in den Streitstoff eingearbeitet haben, oder bei 280 gleichgelagerten Berufungsverfahren innerhalb eines großen Landgerichts eine Verfahrenserledigung binnen angemessener Zeit schlechthin nicht zu bewältigen ist.

Ebenso wenig wird eine solche Aussetzung durch die Überlegung des Berufungsgerichts gerechtfertigt, dass eine streitige Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu einer erheblichen Mehrbelastung des Gerichts führen würde und auch für die betroffenen Parteien in besonderer Weise unwirtschaftlich wäre. Auch zu einer solchen Mehrbelastung ist nichts Näheres festgestellt. Zudem läge eine solche, unterhalb der Schwelle einer nicht mehr hinnehmbaren Erschöpfung gerichtlicher Kapazität liegende Mehrbelastung genauso wie der damit verbundene Hinweis auf die Unwirtschaftlichkeit einer Verfahrensfortsetzung noch im Bereich "normaler" Prozessökonomie, welche die vom Berufungsgericht vorgenommene Verfahrensaussetzung nicht trägt (vgl. BGH, Beschlüsse vom - X ZB 26/04, und X ZB 20/04; jeweils aaO).

Fundstelle(n):
RAAAE-05795