NWB Nr. 49 vom Seite 4073

„Ein flüchtiger Blick zurück”

Professor Dr. Hans-Joachim Kanzler | Vors. Richter im VI. Senat des Bundesfinanzhofs, München

Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung im Steuerrecht des Jahres 2011

Ein Jahresrückblick, zumal in den NWB, sollte etwas von einer Bilanz haben, dem Prinzip von true and fair view verpflichtet sein und die Grundsätze der Wahrheit und Klarheit beachten. Im Hinblick auf das kommende Weihnachts- oder Friedensfest sollte ein Jahresrückblick aber auch etwas Versöhnliches vermitteln und in die Zukunft weisen. Deshalb verbietet sich eine Überschrift nach dem Stück von John Osborne „Blick zurück im Zorn”, auch wenn ein Blick auf die Steuergesetzgebung des vergangenen Jahres dies durchaus nahelegen könnte und der Ausblick in die Zukunft kaum viel rosiger ausfallen dürfte. Denn der Bundesfinanzminister hat die in der Koalitionsvereinbarung aber auch im Regierungsentwurf zum Steuervereinfachungsgesetz 2011 angekündigte Unternehmensteuerreform gestoppt (Handelsblatt v. S. 16). Damit bleibt das Steuervereinfachungsgesetz 2011 das größte Vorhaben der Steuergesetzgebung des Jahres 2011, auch wenn einige der Neuregelungen erstmals im Veranlagungszeitraum 2013 anzuwenden sind. Nicht nur deswegen hinterlässt dieses Gesetz einen zwiespältigen Eindruck. Es enthält einige durchaus beachtliche Vereinfachungen, die aber kaum das Bild einer systematischen Vereinfachungsreform vermitteln können und wohl auch nicht sollten. Stattdessen bringt dieses Gesetz unter dem Etikett der Steuervereinfachung einige Begünstigungen, wie den Verzicht auf die Einkünfte- und Bezügegrenze im Familienleistungsausgleich, die Vorschrift zur verbilligten Vermietung von Wohnraum und die umfassende Neuregelung zur Besteuerung außerordentlicher Holznutzungen, alles Änderungen, die eher den Gesetzestitel „Steuerbegünstigungsgesetz 2011” rechtfertigen würden. Das zweite Steuergesetz des Jahres 2011 von einiger Bedeutung ist das Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz, das nur in seinem Art. 1 das EU-Beitreibungsgesetz enthält, in seinem ausführlichen Titel „Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften” aber auf seinen eigentlichen Zweck, nämlich den eines Jahressteuergesetzes verweist, das einkommensteuerliche Regelungen zur Riesterrente, zum Familienleistungsausgleich und zur Abgeltungsteuer vorsieht, sowie Änderungen zum KStG, BewG und zur Umsatzsteuer enthält. Wenden wir uns der Verwaltung zu, dann ist hervorzuheben, dass es gelungen ist, den Umwandlungssteuererlass zu verabschieden. Erfreulich ist auch die Zurückhaltung bei den Nichtanwendungserlassen. Bis zum Heft 17 des BStBl I findet sich kein Nichtanwendungserlass des BMF im Jahr 2011, dafür aber zahlreiche Anwendungserlasse, die sich auf BFH-Urteile beziehen. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass die Nichtanwendungserlasse in einigen Fällen durch rückwirkende Nichtanwendungsgesetze ersetzt wurden, wie dies durch Einführung des amtsärztlichen Attestes im Steuervereinfachungsgesetz 2011 oder des Abzugsverbots für erwerbsbedingte Ausbildungskosten durch das Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz geschehen ist. Der BFH, nicht aber seine Rechtsprechung, hatten unter dem monatelangen „Interregnum” nach dem Ausscheiden des Präsidenten Wolfgang Spindler zu leiden. Erst gegen Jahresende wurde mit Rudolf Mellinghoff der Nachfolger berufen. Nach true and fair view ergibt sich so ein Bild von Licht und Schatten.

Hans-Joachim Kanzler

Fundstelle(n):
NWB 2011 Seite 4073
VAAAD-96940