BAG Beschluss v. - 1 ABR 110/09

Fortgeltung einer Betriebsvereinbarung nach Zusammenfassung von Betrieben zu neuen Organisationseinheiten

Gesetze: § 3 Abs 1 Nr 1 Buchst b BetrVG

Instanzenzug: Az: 4a BV 233/07 Beschlussvorgehend Landesarbeitsgericht München Az: 5 TaBV 6/08 Beschlussnachgehend Landesarbeitsgericht München Az: 5 TaBV 77/11 Beschluss

Gründe

1A. Die Beteiligten streiten über die Geltung einer Betriebsvereinbarung.

2Die Arbeitgeberin betreibt ein Unternehmen, das Finanzprodukte der Deutschen Postbank AG und Dienstleistungen des Konzerns der Deutschen Postbank AG vermittelt und vertreibt.

3Zur Deutschen Post AG gehörte im Jahre 1997 ua. die Niederlassung München, für die ein eigener Betriebsrat gewählt war. Am schlossen die Deutsche Post AG, Niederlassung München, und der bei der Niederlassung Postfilialen München gebildete Betriebsrat die Betriebsvereinbarung zum Jahresarbeitszeitmodell (BV JAZMO) ab, die in der Fassung vom bis heute ungekündigt ist. Darin ist für einzelne Filialen die Einführung von Gruppenarbeit mit einer eigenverantwortlichen Planung der Arbeitszeit durch die Arbeitnehmer geregelt (§§ 1, 3 BV JAZMO). In der Anlage 3 der BV JAZMO ist vorgesehen, dass zur Festlegung des Personalbedarfs für die Koordination innerhalb der Gruppe und für die Wahrnehmung der dem Gruppensprecher obliegenden Aufgaben Zeitzuschläge zugrunde gelegt werden.

4Die Arbeitgeberin ist nach zahlreichen Unternehmensspaltungen, Verschmelzungen und Umfirmierungen innerhalb des Konzerns der Deutschen Postbank AG entstanden. Mehrere vormals selbständige Betriebe einzelner konzernangehöriger Unternehmen wurden dabei durch einen Tarifvertrag nach § 3 BetrVG zu zehn regionalen Betrieben - unter ihnen auch der Betrieb München - zusammengefasst.

5Der Betriebsrat ist der Auffassung, die BV JAZMO gelte in den näher bezeichneten Filialen weiterhin normativ. Von den Umstrukturierungen sei allein die Unternehmensebene betroffen gewesen. Hingegen seien die Organisation auf betrieblicher Ebene und der Betriebszweck nicht verändert worden.

Der Betriebsrat hat - soweit für die Rechtsbeschwerde noch von Bedeutung - beantragt:

7Die Arbeitgeberin hat Antragsabweisung beantragt.

8Das Arbeitsgericht hat den Antrag abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihm entsprochen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde erstrebt die Arbeitgeberin die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

9B. Die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung (§ 563 Abs. 1 ZPO). Auf der Grundlage der vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen ist dem Senat eine eigene Sachentscheidung nicht möglich.

10I. Der Antrag des Betriebsrats ist zulässig.

111. Der Antrag bedarf zunächst der Auslegung. Mit der vom Betriebsrat begehrten Feststellung, dass die BV JAZMO in den in seinem Antrag im Einzelnen bezeichneten Filialen „Anwendung findet“ geht es dem Betriebsrat - wie er in der Anhörung vor dem Senat klargestellt hat - um die Feststellung, dass diese Betriebsvereinbarung auch nach den erfolgten Umstrukturierungen in den bezeichneten Filialen unmittelbar und zwingend gilt.

122. Der so verstandene Antrag ist zulässig. Er ist hinreichend bestimmt iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, da der Betriebsrat die Filialen, in denen die BV JAZMO normativ Anwendung finden soll, im Einzelnen konkret benannt hat. Damit bestehen keine Unklarheiten darüber, auf welche betrieblichen Strukturen sich der Antrag bezieht. Er ist auf das Bestehen eines Rechtsverhältnisses iSd. § 256 Abs. 1 ZPO gerichtet. Die von ihm begehrte Feststellung der normativen (Fort-)Geltung der BV JAZMO betrifft das betriebsverfassungsrechtliche Rechtsverhältnis der Beteiligten. Der Betriebsrat hat auch das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche rechtliche Interesse an der begehrten gerichtlichen Feststellung. Die Arbeitgeberin hat die unmittelbare und zwingende Geltung der BV JAZMO in den im Antrag aufgeführten Filialen in Abrede gestellt. Mit dem Feststellungsantrag ist eine umfassende Klärung des zwischen den Beteiligten bestehenden Streits über die Anwendbarkeit der Betriebsvereinbarung möglich.

13II. Das Landesarbeitsgericht hat dem Antrag des Betriebsrats zu Unrecht entsprochen.

141. Nach der Senatsrechtsprechung lässt die bloße Zusammenfassung von Betrieben mit bis dahin eigener Arbeitnehmervertretung zu einer größeren betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheit durch Tarifvertrag nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BetrVG die betriebsverfassungsrechtliche Identität der zusammengefassten Einheiten unberührt. Tatsächliche Veränderungen der bisherigen Betriebsorganisation gehen mit einer solchen Zusammenfassung nicht notwendig einher. Dementsprechend bleiben, sofern nicht der Arbeitgeber den Abschluss des Zuordnungstarifvertrags zum Anlass nimmt, durch zusätzliche Maßnahmen die Organisations- und Leitungsstruktur der betroffenen Betriebe auch tatsächlich zu ändern, die tariflich zusammengefassten Betriebe als organisatorisch getrennte Teileinheiten der tariflich geschaffenen größeren Organisationseinheit bestehen. Auch wenn die Betriebe nach der ersten Betriebsratswahl in der neuen Einheit keine eigenständigen Arbeitnehmervertretungen mehr haben, behalten sie doch ihre Leitungs- und Organisationsstruktur bei. Sie sind dann organisatorisch klar abgegrenzte Teile des nach § 3 Abs. 5 BetrVG fingierten Einheitsbetriebs. Der Fortbestand der betrieblichen Einheiten hat deshalb zur Folge, dass die in ihnen geltenden Betriebsvereinbarungen im fingierten Einheitsbetrieb normativ fortwirken. Ihre Geltung ist auf den Betriebsteil des Einheitsbetriebs beschränkt, der ihrem bisherigen Geltungsbereich entspricht ( - Rn. 27 ff., BAGE 126, 161).

152. Das Landesarbeitsgericht hat danach zu Unrecht angenommen, die Zuordnung des vormaligen betriebsratsfähigen Betriebs zu einer neuen Organisationseinheit durch einen Tarifvertrag nach § 3 BetrVG habe an der normativen Fortgeltung der BV JAZMO nichts geändert, weil der bisherige Geltungsbereich dieser Betriebsvereinbarung unabhängig davon, ob die Identität des ursprünglichen Betriebs „Niederlassung Postfilialen München“ erhalten geblieben sei, nach wie vor räumlich und organisatorisch abgegrenzt werden könne. Für die Fortgeltung der BV JAZMO kommt es hierauf nicht an. Maßgeblich ist vielmehr, ob trotz der erfolgten Zusammenfassung von Betrieben zu neuen Organisationseinheiten die betriebsverfassungsrechtliche Identität der zusammengefassten Einheiten unberührt geblieben ist. Die räumliche und organisatorische Abgrenzbarkeit des bisherigen Geltungsbereichs innerhalb der neuen Organisationseinheit allein ist kein taugliches Abgrenzungskriterium. Damit wird nicht genügend beachtet, dass eine Fortgeltung der Betriebsvereinbarung in diesen Fallkonstellationen nur gerechtfertigt ist, wenn die ursprüngliche organisatorische (Teil-)Einheit als betriebsverfassungsrechtlicher Bezugspunkt fortbesteht. Entscheidend ist daher, ob die Organisation der Arbeitsabläufe, der Betriebszweck und die Leitungsstruktur, welche die Betriebsidentität prägen, nach der erfolgten Zusammenfassung von Betrieben zu neuen Organisationseinheiten unverändert geblieben sind.

3. Auf der Grundlage des vom Landesarbeitsgericht festgestellten Sachverhalts kann der Senat nicht selbst in der Sache entscheiden. Der Rechtsstreit war deshalb nach Aufhebung des angefochtenen Beschlusses (§ 562 Abs. 1 ZPO) an das Beschwerdegericht zur neuen Anhörung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO). Dem bisherigen Vortrag der Beteiligten ist nicht zu entnehmen, welche Organisations- und Leitungsstruktur in dem Betrieb der Niederlassung München beim Abschluss der BV JAZMO im Jahre 1997 bestand und welche Betriebszwecke dort verfolgt wurden. Das Landesarbeitsgericht hat zu etwaigen Veränderungen keine Feststellungen getroffen. Es hat zwar im Hinweisbeschluss vom darauf hingewiesen, dass nicht nachvollzogen werden könne, aufgrund welcher organisatorischen Veränderungen auf betrieblicher Ebene die Umstrukturierungen zum zum Untergang des bisherigen Betriebs Deutsche Post AG, Vertriebsdirektion München, Betrieb München geführt haben. Diese Hinweise greifen jedoch zu kurz. Es hätte vielmehr weitergehend aufgeklärt werden müssen, inwieweit sich die Betriebsidentität seit dem Abschluss der Betriebsvereinbarung bis heute geändert hat. Der Betriebsrat hat hierzu lediglich pauschal vorgetragen, die Organisationsstruktur sei unverändert geblieben, an der Spitze des Betriebs habe ein Vertriebsdirektor gestanden. Wie sich die Organisation und Leitung allerdings konkret dargestellt haben, ist vom Betriebsrat nicht näher ausgeführt worden.

Fundstelle(n):
BB 2011 S. 2612 Nr. 42
DB 2011 S. 2498 Nr. 44
NJW 2011 S. 8 Nr. 47
KAAAD-93445