BFH Urteil v. - IX R 68/06

Auslegung des Begriffs der "negativen Summen" in § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002

Leitsatz

Unter den Begriff der "negativen Summen" in § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 fallen keine Verluste, die tatsächlich wirtschaftlich erzielt werden (sog. "echte" Verluste).
Vergleichbar .

Gesetze: EStG § 2 Abs. 3

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

1 I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erzielte im Streitjahr 1999 positive Einkünfte aus selbstständiger Arbeit in Höhe von 545.331 DM, Verluste aus Gewerbebetrieb in Höhe von ./. 532.446 DM sowie Verluste aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von ./. 34.581 DM. Die Verluste aus Gewerbebetrieb beruhen auf Beteiligungen an verschiedenen Schifffahrtsgesellschaften, welche degressive Absetzungen für Abnutzung (AfA) nach § 7 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf die von ihnen angeschafften Wirtschaftsgüter vorgenommen hatten und teilweise ihren Gewinn nach § 5a EStG ermittelten.

2 Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) ermittelte die Einkünfte der Klägerin unter Anwendung des § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/ 2002 (StEntlG 1999/2000/2002) und setzte im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom , zuletzt geändert durch Bescheid vom , eine Einkommensteuer in Höhe von 86.811 DM fest.

3 Im Einspruchs- und Klageverfahren machte die Klägerin erfolglos geltend, § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 sei verfassungswidrig. Das Finanzgericht (FG) vertrat in seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 47 veröffentlichten Urteil die Auffassung, dass der Klägerin bei voller Berücksichtigung der Verluste aus Gewerbebetrieb unstreitig von dem im Streitjahr Erworbenen rein rechnerisch nicht so viel verbleiben würde, wie sie im Streitjahr zum Bestreiten ihres Lebensunterhalts bedurfte. Indes handele es sich bei den Verlusten aus Gewerbebetrieb jedenfalls insoweit nicht um „echte” Verluste, als diese auf der Inanspruchnahme von AfA beruhten, die das Maß der nach § 7 Abs. 1 EStG absetzbaren Beträge übersteigen. Denn bei Schiffsbeteiligungen, bei denen bis zum gemäß § 5a Abs. 3 Satz 1 EStG die Möglichkeit bestanden habe, innerhalb von drei Jahren zur Tonnagebesteuerung zu wechseln, sei die degressive AfA wirtschaftlich mit einer erhöhten Absetzung bzw. einer Sonderabschreibung vergleichbar.

4 Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren nach vollständiger Berücksichtigung der geltend gemachten Verluste weiter.

5 Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil des FG aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom , zuletzt geändert durch Bescheid vom , mit der Maßgabe zu ändern, dass die bisher nicht ausgleichsfähigen Einkünfte vollständig zum Verlustausgleich zugelassen werden und mithin die Einkommensteuer auf 0 € festgesetzt wird.

6 Das FA beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Es vertritt die Auffassung, § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 sei von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

7 Der Bundesfinanzhof hat das Revisionsverfahren durch Beschluss vom XI R 39/06 bis zum Ergehen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in dem Vorlageverfahren 2 BvL 59/06 ausgesetzt. Nach Abschluss dieses Verfahrens (s. , BFH/NV 2010, 2387) hat der Senat das Revisionsverfahren mit Beschluss vom IX R 68/06 wieder aufgenommen.

8 II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Das FG ist zu Unrecht zu der Auffassung gelangt, dass das FA die Summe der Einkünfte zutreffend nach der maßgeblichen gesetzlichen Regelung in § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 ermittelt hat.

9 1. Nach § 2 Abs. 1 EStG unterliegen der Einkommensteuer die Einkünfte aus den in dieser Vorschrift genannten sieben Einkunftsarten.

10 a) Für die Besteuerung war nach § 2 Abs. 3 Satz 1 EStG in der bis zum geltenden Fassung (a.F.) die „Summe der Einkünfte” maßgeblich, und das heißt, positive und negative Ergebnisse unterschiedlicher Einkunftsarten waren im Rahmen eines periodeninternen (horizontalen und vertikalen) Verlustausgleichs zu saldieren. Soweit die negativen Einkünfte die positiven Einkünfte im jeweiligen Veranlagungszeitraum überstiegen, wurden die übrigen Verluste nach § 10d EStG a.F. in anderen Veranlagungszeiträumen zum Abzug gebracht (periodenübergreifender Verlustausgleich).

11 b) Um dem Rückgang von Steuereinnahmen entgegenzuwirken und steuerpolitisch nicht anerkennenswerte Verlustquellen einzuschränken, beabsichtigte der Gesetzgeber, eine „quellenbezogene Mindestbesteuerung” zu schaffen. § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 sieht in Satz 3 der Vorschrift vor, dass die Summe der positiven Einkünfte, soweit sie den Betrag von 100.000 Deutsche Mark übersteigt, durch „negative Summen der Einkünfte” aus anderen Einkunftsarten nur bis zur Hälfte zu mindern ist. Der Senat legt den Begriff der „negativen Summen” der Einkünfte dahin aus, dass hierunter grundsätzlich nur solche (negativen) Einkünfte fallen, die, wie der Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung ausgeführt hat, nicht wirtschaftlich erzielt werden (sog. „unechte” Verluste). Demgegenüber fallen Verluste, die tatsächlich wirtschaftlich erzielt werden (sog. „echte” Verluste), im Gegensatz zu „unechten” Verlusten überhaupt nicht in den Anwendungsbereich der Regelungen in § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 (ebenso Weber-Grellet, Die Steuerberatung 2004, 31, 39); sie sind unbeschadet der Frage, aus welcher Einkunftsart sie stammen, bei der Bildung der Summe der Einkünfte nach § 2 Abs. 3 Satz 1 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 stets und in vollem Umfang horizontal und vertikal auszugleichen.

12 Der Begriff der „unechten” Verluste, welche dem Grunde nach entsprechend den Regelungen in § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 8 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 nur eingeschränkt mit positiven Einkünften im Veranlagungszeitraum auszugleichen sind, ist nicht einkunftsartbezogen, sondern wirtschaftlich zu verstehen. Zu den „unechten” Verlusten zählen negative Einkünfte jedenfalls insoweit, als sie auf die Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen zurückzuführen sind. Demgegenüber führt die Inanspruchnahme der in § 7 EStG gesetzlich vorgesehenen (regulären oder erhöhten) AfA nicht zu einem lediglich buchmäßigen und damit nicht wirtschaftlich erzielten „unechten” Verlust. Der Senat verweist zur weiteren Begründung auf sein Urteil vom IX R 56/05, BFHE 233, 152, BStBl II 2011, 649.

13 2. Die Sache ist spruchreif. Das FG ist auf der Grundlage des seinerzeitigen Meinungsstandes zur Auslegung des § 2 Abs. 3 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 zu einem unzutreffenden Auslegungsergebnis gelangt und hat daher der Klägerin zu Unrecht den von ihnen begehrten Ausgleich der negativen Einkünfte im Streitjahr verwehrt.

14 Die Vorentscheidung ist aufzuheben und der Klage stattzugeben. Denn nach den gemäß § 118 Abs. 2 FGO für den Senat bindenden Feststellungen des FG sind die Verluste der Klägerin aus Gewerbebetrieb auf die Inanspruchnahme der in § 7 EStG gesetzlich vorgesehenen AfA, nicht aber auf Sonderabschreibungen zurückzuführen. Hierbei handelt es sich um tatsächlich wirtschaftlich erzielte —und damit „echte"— Verluste; der Senat teilt die Auffassung des FG, dass die degressive AfA nach § 7 Abs. 2 EStG wirtschaftlich mit einer erhöhten Absetzung bzw. einer Sonderabschreibung vergleichbar sei, weder dem Grunde nach noch für die besondere Sachverhaltskonstellation im vorliegenden Einzelfall.

15 Da die Verluste im Streitfall unstreitig die positiven Einkünfte der Klägerin übersteigen, ist die Einkommensteuer für das Streitjahr auf 0 € festzusetzen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
BFH/NV 2011 S. 1849 Nr. 11
HAAAD-91758