NWB Nr. 29 vom Seite 2425

Ein fürsorgliches Nichtanwendungsgesetz

Professor Dr. Hans-Joachim Kanzler | Vors. Richter des VI. Senats des BFH

Das amts- oder vertrauensärztliche Attest zum Nachweis zwangsläufiger Krankheitskosten

Durch das inzwischen dem Vermittlungsausschuss überantwortete und nun wohl erst im September zu verabschiedene Steuervereinfachungsgesetz 2011 (s. hierzu Hechtner, NWB 29/2011 S. 2443) soll § 64 EStDV aufgrund der neuen Ermächtigung in § 33 Abs. 4 EStG den „Nachweis von Krankheitskosten“ regeln. Danach hat der Steuerpflichtige die Zwangsläufigkeit von Krankheitskosten u. a. durch ein vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine ärztliche Bescheinigung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung nachzuweisen, wenn es sich um die Aufwendungen für eine Kur, eine psychotherapeutische Behandlung, die medizinisch erforderliche auswärtige Unterbringung eines an Legasthenie oder einer anderen Behinderung leidenden Kindes, die Betreuung durch eine Begleitperson, medizinische Hilfsmittel, die als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind oder wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethoden handelt. Damit hat der Gesetzgeber also wieder einmal zügig auf die Rechtsprechung des BFH reagiert und den vom BFH monierten Mangel einer gesetzlichen Grundlage für das amtsärztliche Attest behoben. So weit so gut! Kann man aber das Produkt einer derartigen Reaktion tatsächlich abwertend als Nichtanwendungsgesetz bezeichnen, entspricht doch die Maßnahme voll und ganz dem Gewaltenteilungsgrundsatz? Ja und nein! Für die Zukunft ist das qualifizierte Nachweiserfordernis wohl materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung für den Abzug außergewöhnlicher Belastungen, auch wenn es im Einzelnen in der EStDV geregelt ist; nicht aber für die Vergangenheit. Nach § 84 Abs. 3f EStDV soll die neue Regelung in allen Fällen anzuwenden sein, in denen die Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig festgesetzt ist. Damit soll sichergestellt werden, dass die bisherige Rechtspraxis ohne zeitliche Lücke aufrechterhalten wird. Denn nach Auffassung der Bundesregierung handelt es sich dabei um eine zulässige echte Rückwirkung, da durch die Neuregelung lediglich eine Gesetzeslage geschaffen wurde, die vor den aktuellen BFH-Entscheidungen einer gefestigten Rechtsprechung und langjährigen Verwaltungspraxis entsprach. Diese Auffassung ist durchaus zweifelhaft. Der BFH hatte in seinen Entscheidungen v. bemängelt, dass das Nachweiserfordernis einer gesetzlichen Grundlage entbehrte. Diese gesetzliche Grundlage wurde zwar durch § 33 Abs. 4 EStG i. V. mit § 64 Abs. 1 EStDV geschaffen; bis zum Inkrafttreten des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 gilt aber nur die Regelung in R 33.4 EStR 2008, die die Finanzbehörden, nicht aber den Steuerpflichtigen bindet. Für die Zukunft und nur dafür kann der Entwurfsbegründung zugestimmt werden, die die Neuregelung als Beitrag zur Rechtssicherheit und Steuervereinfachung preist; der Normzweck aber, dem Steuerpflichtigen das Risiko einer Kostenbelastung infolge einer falschen Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen zu ersparen (BT-Drucks. 17/6146 S. 19), erscheint durchaus fragwürdig. Denn künftig wird der Steuerpflichtige als Auftraggeber die Kosten der amtsärztlichen Untersuchung zu tragen haben und wird diese Aufwendungen nur im Erfolgsfall als zusätzliche Krankheitskosten nach § 33 EStG abziehen können.

Hans Joachim Kanzler

Fundstelle(n):
NWB 2011 Seite 2425
EAAAD-86773