Aufwendungen für heterologe künstliche Befruchtung als außergewöhnliche Belastungen
Leitsatz
Aufwendungen eines Ehepaares für eine heterologe künstliche Befruchtung können als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen sein (Änderung der Rechtsprechung im , BFHE 188, 566, BStBl II 1999, 761).
Gesetze: EStG § 33
Instanzenzug: (EFG 2010, 1694) (Verfahrensverlauf),
Gründe
I.
1Streitig ist die steuerliche Berücksichtigung von Aufwendungen für eine heterologe künstliche Befruchtung als außergewöhnliche Belastungen.
2Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute und werden im Streitjahr (2006) gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger leidet unter einer inoperablen organisch bedingten Sterilität (sog. Kryptozoospermie) und ist deshalb nicht in der Lage, auf natürlichem Weg selbst Kinder zu zeugen. Im Rahmen der von den Klägern zunächst erfolglos versuchten homologen künstlichen Befruchtung wurde festgestellt, dass sein Sperma auch nicht geeignet ist, im Rahmen einer künstlichen Befruchtung selbst nach ärztlicher Behandlung eingesetzt zu werden. Deshalb entschlossen sich die Kläger, die Erfüllung des beiderseitigen Wunsches nach einem gemeinsamen Kind mit Hilfe einer instrumentellen donogenen Insemination, d.h. der Übertragung von Spendersamen, zu verwirklichen, und beantragten schließlich deren Durchführung in der Praxis des Prof. Dr. R. (Fertility Center). Das Fertility Center ist entsprechend der Verfahrens- und Qualitätssicherung nach DIN EN ISO 9001 zertifiziert, das IVF-, Hormon- und Andrologielabor nach DIN EN ISO 17 025. Am und am fand eine psychosoziale Beratung durch eine Diplom-Psychologin statt. Zudem wurden die Kläger durch Prof. Dr. R. und Dr. P. (B. Samenbank) über die rechtlichen Aspekte und die möglichen Folgen der Verwendung von heterologen Samen unterrichtet.
3Einen Tag später, am , unterschrieben die Kläger einen entsprechenden Aufklärungsbogen und eine Vereinbarung mit der B. Samenbank. Prof. Dr. R. und die B. Samenbank dokumentierten die Identität des Samenspenders sowie die Verwendung der Samenspende. Es lag eine Einverständniserklärung des Samenspenders vor, seine Identität bei einem entsprechenden Auskunftsverlangen des Kindes bekannt zu geben. Gleichfalls erklärten sich die Kläger mit der Verwendung von heterologem Samen und der Dokumentation von Herkunft und Verwendung der Samenspende einverstanden und entbanden den Arzt im Rahmen eines entsprechenden Auskunftsverlangens von seiner Schweigepflicht. Verstöße gegen das Embryonenschutzgesetz wurden bei der Behandlung nicht festgestellt. Eine von der Ärztekammer Hamburg eingerichtete Kommission genehmigte die Behandlung der Kläger. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass diese auf das Krankheitsbild des Klägers abgestimmte, medizinisch indizierte Behandlungsmethode die berufsrechtlichen Voraussetzungen der im Streitfall maßgeblichen Berufsordnung der Hamburger Ärzte und Ärztinnen im Streitfall erfüllt (vgl. Anhang zu § 13a der Berufsordnung „Richtlinien zur assistierten Reproduktion”).
4Leistungen von Krankenversicherern sind nicht erfolgt. Die Klägerin ist gesetzlich krankenversichert. Leistungsansprüche sind in der gesetzlichen Krankenversicherung auf Eheleute beschränkt; es dürfen nur Ei- und Samenzellen der Ehegatten verwendet werden (§ 27a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch). Der Kläger ist privat krankenversichert. Da seine Erkrankung bei Abschluss des Versicherungsvertrags bekannt war, erfolgte ein entsprechender Leistungsausschluss für sterilitätsbedingte Behandlungsmaßnahmen.
5Mit der Einkommensteuererklärung 2006 machten die Kläger die im Zusammenhang mit der künstlichen Befruchtung entstandenen Kosten in Höhe von insgesamt 21.345 € erfolglos als außergewöhnliche Belastungen geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) vertrat die Auffassung, Aufwendungen für eine heterologe Befruchtung dienten, anders als bei einer homologen Befruchtung, nicht zur Überwindung einer Krankheit, so dass es an der medizinischen Notwendigkeit der Behandlungskosten fehle.
6Der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) hingegen mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2010, 1694 veröffentlichten Gründen statt.
7Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 33 Abs. 1 und Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
8Es beantragt,
das Urteil des aufzuheben und die Klage abzuweisen.
9Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
II.
10Die Revision des FA ist unbegründet und daher gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat zutreffend entschieden, dass die im Zusammenhang mit der durchgeführten heterologen künstlichen Befruchtung entstandenen Kosten als zwangsläufige Aufwendungen i.S. von § 33 EStG zu berücksichtigen sind.
111. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen. Aufwendungen entstehen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann, soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).
12a) In ständiger Rechtsprechung geht der Bundesfinanzhof (BFH) davon aus, dass Krankheitskosten —ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung— dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zwecke der Heilung einer Krankheit oder mit dem Ziel erbracht werden, die Krankheit erträglich zu machen (, BFHE 133, 545, BStBl II 1981, 711; vom III R 208/81, BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427, und vom III R 150/86, BFHE 149, 539, BStBl II 1987, 596; vom VI R 11/09, BFHE 231, 69, BStBl II 2011, 119).
13b) Im Hinblick auf die für den Abzug nach § 33 EStG erforderliche Zwangsläufigkeit wird nicht danach unterschieden, ob ärztliche Behandlungsmaßnahmen oder medizinisch indizierte Hilfsmittel der Heilung dienen oder lediglich einen körperlichen Mangel ausgleichen sollen. Aufwendungen für Zahnersatz (vgl. , EFG 1981, 293, betreffend Zahnprothese), für medizinische Hilfsmittel im engeren Sinne wie Brillen, Hörapparate und Rollstühle (, BFH/NV 1998, 571) sowie für medizinische Hilfsmittel im weiteren Sinne wie Blindencomputer (, EFG 2001, 440) oder Treppenschräglifte (, EFG 2007, 931) werden regelmäßig als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt, obwohl durch sie der körperliche Mangel nicht behoben, sondern ebenfalls „umgangen” oder kompensiert wird. An der Ausnahme im (BFHE 210, 355, BStBl II 2006, 495) —kein Abzug von Aufwendungen für künstliche Befruchtungen einer unverheirateten Frau— hält der BFH nicht länger fest (, BFHE 218, 141, BStBl II 2007, 871).
14c) Auch aus der Tatsache, dass die private und die soziale Krankenversicherung für derartigen Bedarf Leistungsausschlüsse oder -beschränkungen vorsehen, ist nicht gefolgert worden, dass es an der Zwangsläufigkeit fehle; die Leistungsausschlüsse waren vielmehr Voraussetzung der Zwangsläufigkeit der Aufwendungen für den Steuerpflichtigen, der sich ihnen bei einem Anspruch gegen den Krankenversicherer hätte entziehen können.
15d) Gleichwohl hat der (BFHE 188, 566, BStBl II 1999, 761) die Aufwendungen einer empfängnisfähigen verheirateten Frau für die Befruchtung mit Spermien eines Dritten nicht als außergewöhnliche Belastungen anerkannt. Die organisch bedingte Sterilität eines Ehepartners sei zwar als Krankheit, d.h. objektiv als anomaler regelwidriger Körperzustand, einzuordnen. Denn die Fortpflanzungsfähigkeit sei für Ehepartner, die sich in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts gemeinsam für ein eigenes Kind entscheiden, eine biologisch notwendige Körperfunktion. Bei den Aufwendungen im Zusammenhang mit der Durchführung einer künstlichen Befruchtung in Form der sog. heterologen Insemination, d.h. der Befruchtung von Eizellen der Ehefrau mit dem Sperma eines fremden Mannes, handele es sich aber nicht um die Kosten therapeutischer Maßnahmen im Sinne der Rechtsprechung des BFH zu § 33 EStG. Es fehle —anders als in Fällen der homologen künstlichen Befruchtung— an einer gezielten, medizinisch indizierten Behandlung zum Zwecke der Heilung oder Linderung der Krankheit des zeugungsunfähigen Ehemannes. Die künstliche Befruchtung der (gesunden) Ehefrau mit Fremdsamen bezwecke nicht die Beseitigung oder Linderung von Schmerzen oder Beschwerden als Symptomen der Unfruchtbarkeit des Ehemannes, sondern die Erfüllung des Wunsches nach einem Kind.
162. An dieser Rechtsprechung hält der erkennende Senat nicht länger fest. Vielmehr sind —wie das FG zutreffend ausführt— auch Aufwendungen für eine medizinisch angezeigte heterologe künstliche Befruchtung als Krankheitskosten zu beurteilen und damit als steuermindernde außergewöhnliche Belastungen nach § 33 EStG zu berücksichtigen.
17a) Nach dem von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), des Bundessozialgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) entwickelten Krankheitsbegriff, dem sich der BFH grundsätzlich angeschlossen hat (vgl. , BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 805, m.w.N.; in BFHE 188, 566, BStBl II 1999, 761, und in BFHE 218, 141, BStBl II 2007, 871), ist die organisch bedingte Sterilität eines Ehepartners —hier die beim Kläger diagnostizierte organisch bedingte erhebliche Einschränkung der Fertilität aufgrund einer Kryptozoospermie— als Krankheit, d.h. objektiv als anomaler regelwidriger Körperzustand, einzuordnen. Denn die Fortpflanzungsfähigkeit ist für Ehepartner, die sich in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts gemeinsam für ein eigenes Kind entscheiden, eine biologisch notwendige Körperfunktion (BFH-Urteil in BFHE 188, 566, BStBl II 1999, 761; , EFG 2003, 1786; , EFG 2009, 1462; 2 C 38.02, BVerwGE 119, 265; IVa ZR 78/85, BGHZ 99, 228, und vom IV ZR 133/05, Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 2006, 3560; Verwaltungsgerichtshof —VGH— Baden-Württemberg, Beschluss vom 4 S 2627/04, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - Rechtsprechung-Report —NVwZ-RR— 2006, 202; , juris; Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 28 A 274.05, juris). Der Krankheitswert der organisch bedingten Sterilität des Klägers ist zwischen den Beteiligten zu Recht auch nicht streitig.
18b) Die In-vitro-Fertilisation —IVF— (in Kombination mit einer intracytoplasmatischen Spermieninjektion) ist eine zur Behandlung dieser Krankheit —bei Mann wie Frau— spezifisch erforderliche medizinische Leistung. Unerheblich ist, dass mit den ärztlichen Maßnahmen nicht bezweckt ist, die Ursachen der Fertilitätsstörung zu beseitigen oder Schmerzen und Beschwerden zu lindern. Denn dem Begriff der Linderung einer Krankheit wohnt gerade nicht inne, dass damit auch eine Behebung ihrer Ursachen verbunden ist. Von der Linderung einer Krankheit kann vielmehr schon dann gesprochen werden, wenn die ärztliche Tätigkeit auf die Abschwächung oder eine partielle oder völlige Unterbindung oder Beseitigung von Krankheitsfolgen gerichtet ist oder eine Ersatzfunktion für ein ausgefallenes Organ bezweckt wird. Letzteres ist hier der Fall. Die intracytoplasmatische Spermieninjektion ersetzt die gestörte Fertilität der Spermien durch einen ärztlichen Eingriff, um dadurch die organisch bedingte Unfruchtbarkeit eines Mannes zu überwinden und eine Schwangerschaft zu ermöglichen. Die ärztlichen Maßnahmen dienen daher in ihrer Gesamtheit dem Zweck, die durch Krankheit behinderte Körperfunktion beim Kläger zu ersetzen (, juris; , NJW 2004, 1658). Dies schließt die bei der —unstreitig gesunden— Ehefrau des Klägers durchzuführenden Behandlungsschritte, d.h. deren Hormonbehandlung mit dem Ziel der Heranreifung mehrerer Eizellen, die operative Eizellgewinnung mittels Follikelpunktion und den Embryotransfer nach Beendigung der Befruchtung, ein. Denn wegen der biologischen Zusammenhänge kann —anders als bei anderen Erkrankungen— durch eine medizinische Behandlung allein des Klägers keine Linderung der Krankheit eintreten (BGH-Urteil in NJW 2004, 1658; VGH Baden-Württemberg, Beschluss in NVwZ-RR 2006, 202; , juris; Oberverwaltungsgericht —OVG— Lüneburg, Beschluss vom 5 LA 198/07, NVwZ-RR 2009, 296; vgl. auch , juris).
19c) Dies gilt auch, wenn die IVF mit heterologem Samen durchgeführt wird. Auch in diesem Fall liegt nach den in den Berufsordnungen der Landesärztekammern enthaltenen Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion unstreitig eine medizinisch indizierte Heilbehandlung zur Überwindung der Sterilität eines Mannes vor. Es handelt sich um eine medizinische Maßnahme, die bei schweren Formen männlicher Fertilitätsstörungen angezeigt ist. Denn der Einsatz von heterologem Samen ist medizinisch nur indiziert, wenn der Einsatz von homologem Samen nicht erfolgreich war oder nicht zum Einsatz kommen konnte. Umstritten ist in diesem Zusammenhang lediglich, ob Aufwendungen hierfür vom Leistungsumfang einer privaten Krankenversicherung gedeckt (so , Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht 2008, 1414) und beihilfefähig sind (so , juris).
20Die künstliche Befruchtung der (gesunden) Ehefrau mit Fremdsamen bezweckt damit nach Auffassung des erkennenden Senats zwar nicht die Beseitigung oder Linderung von Schmerzen oder Beschwerden als Symptomen der Unfruchtbarkeit des Ehemannes. Sie zielt aber —wie auch eine homologe künstliche Befruchtung wegen der Sterilität des Mannes— auf die Beseitigung der Kinderlosigkeit eines Paares. Dieser kommt zwar nicht selbst Krankheitswert zu (BGH-Urteil in BGHZ 99, 228). Sie ist aber vorliegend unmittelbare Folge der Erkrankung des Klägers. Damit wird auch bei einer heterologen Insemination die durch Krankheit behinderte Körperfunktion beim Kläger —die Zeugung eines Kindes auf natürlichem Wege—, entgegen der Auffassung im BFH-Urteil in BFHE 188, 566, BStBl II 1999, 761, durch eine medizinische Maßnahme ersetzt.
21Da die streitige Heilbehandlung im Streitfall von einer zur Ausübung der Heilkunde zugelassenen Person (vgl. BFH-Urteil in BFHE 231, 69, BStBl II 2011, 119) —unstreitig— entsprechend den Richtlinien der Berufsordnung der zuständigen Ärztekammer durchgeführt worden ist, hat das FG zu Recht die von der Klägerin geltend gemachten Kosten für die heterologe künstliche Befruchtung als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt.
223. Ausweislich der bindenden Feststellungen des FG haben die Kläger von ihren Krankenversicherungen keine Erstattung der streitigen Kosten zu erwarten. Damit kommt es auf die Frage, ob Aufwendungen nicht zwangsläufig erwachsen, wenn sie durch die zumutbare Inanspruchnahme anderweitiger Ersatzmöglichkeiten hätten abgewendet werden können (, BFHE 165, 525, BStBl II 1992, 137; in BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 805; vom III R 67/96, BFHE 183, 561, BStBl II 1997, 732, und vom III R 30/07, BFH/NV 2008, 1309), nicht an.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BStBl 2011 II Seite 414
BFH/NV 2011 S. 684 Nr. 4
BFH/PR 2011 S. 177 Nr. 5
BStBl II 2011 S. 414 Nr. 7
DStR 2011 S. 356 Nr. 8
DStRE 2011 S. 324 Nr. 5
EStB 2011 S. 143 Nr. 4
FR 2011 S. 537 Nr. 11
GStB 2011 S. 73 Nr. 3
HFR 2011 S. 412 Nr. 4
NJW 2011 S. 10 Nr. 13
NJW 2011 S. 2077 Nr. 28
NWB-Eilnachricht Nr. 9/2011 S. 672
StB 2011 S. 97 Nr. 4
StBW 2011 S. 203 Nr. 5
StC 2011 S. 10 Nr. 5
EAAAD-61766