BGH Beschluss v. - VIII ZB 36/08

Leitsatz

Leitsatz:

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Instanzenzug: OLG Braunschweig, 3 U 42/09 vom AG Braunschweig, 114 C 4093/06 vom

Gründe

I. Die Klägerin, eine niederländische Gesellschaft mit Sitz in A. , nimmt die Beklagte auf Ersatz von Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.936 EUR nebst Zinsen als Verzugsschaden in Anspruch. Das Amtsgericht hat der Klage - unter Abweisung im Übrigen - in Höhe von 2.455 EUR nebst Zinsen stattgegeben. Das erstinstanzliche Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am , dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am zugestellt worden. Mit am beim Landgericht eingegangen Schriftsatz hat die Beklagte Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts eingelegt und das Rechtsmittel in demselben Schriftsatz begründet.

Die Berufungsschrift ist dem Vorsitzenden der Berufungskammer des Landgerichts zusammen mit dem beigefügten angefochtenen Urteil am vorgelegt worden. Der Kammervorsitzende hat noch am die Rücksendung des beigefügten erstinstanzlichen Urteils an den Berufungsführer sowie die Zustellung der Berufungsschrift an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin verfügt. Darüber hinaus hat der Vorsitzende die Akten erster Instanz angefordert und eine Wiedervorlage auf den verfügt.

Mit am beim Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin Berufung eingelegt. Nachdem die Prozessbevollmächtigten der Klägerin Bedenken gegen die Rechtsmittelzuständigkeit des Landgerichts erhoben hatten, hat die Beklagte am ebenfalls Berufung zum Oberlandesgericht eingelegt und das Rechtsmittel zugleich begründet. In demselben Schriftsatz hat die Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungseinlegungsfrist beantragt und vorsorglich Anschlussberufung eingelegt.

Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten mit Beschluss vom als unzulässig verworfen und den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Versäumung der Frist zur Berufungseinlegung zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde.

II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

Die Berufung der Beklagten sei nach § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht innerhalb der Berufungsfrist beim Oberlandesgericht eingelegt worden sei. Die Berufungsfrist sei am abgelaufen; die Berufungsschrift sei aber erst am eingegangen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne der Beklagten nicht gewährt werden, da die Versäumung der Frist allein auf dem Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Beklagten beruhe; dieser habe die Bestimmung des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG übersehen. Der Eingang der Berufung innerhalb offener Frist beim (unzuständigen) Landgericht am helfe der Beklagten nicht. Zwar könne ein unzuständiges Gericht unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs der Partei auf ein faires Verfahren verpflichtet sein, von sich aus fristgebundene Schriftsätze an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Dies könne aber nur dann gelten, wenn das zunächst angegangene Gericht seine Unzuständigkeit auch habe erkennen müssen, und dies auch nur dann, wenn die fristgerechte Weiterleitung an das zuständige Gericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne Weiteres erwartet werden könne. Daran fehle es vorliegend. Entscheidend für die Zuständigkeitsbestimmung des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG sei der Wohnsitz der Klägerin zur Zeit der Rechtshängigkeit der Klage und nicht der Wohnsitz zur Zeit des Erlasses des erstinstanzlichen Urteils. Nur diesen Wohnsitz habe der Vorsitzende der Berufungskammer des Landgerichts aber anhand der mit der Berufungsschrift übersandten Ausfertigung des erstinstanzlichen Urteils erkennen können, da er zu diesem Prüfungszeitpunkt die - von ihm nach Vorlage der Berufungsschrift sofort angeforderten -Akten (noch) nicht zur Verfügung gehabt habe. Als dem Vorsitzenden die Akten am vorgelegt worden seien, sei die Berufungseinlegungsfrist längst abgelaufen gewesen.

2. Die gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte und auch im Übrigen (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2, § 575 ZPO) zulässige Rechtsbeschwerde der Beklagten ist begründet. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann die Berufung der Beklagten nicht gemäß § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig verworfen werden.

a) Zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass die Sachbehandlung des Vorsitzenden des zunächst von der Beklagten angerufenen, nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG unzuständigen Landgerichts im Hinblick auf eine im Rechtsstaatsprinzip verankerte faire Verfahrensgestaltung nicht zu beanstanden ist.

Eine faire Verfahrensgestaltung, insbesondere die prozessuale Fürsorgepflicht gebietet es nicht, den Vorsitzenden einer Berufungskammer als verpflichtet anzusehen, bei einer noch innerhalb der Berufungsfrist an ihn erfolgten Vorlage einer Berufungs- oder Berufungsbegründungsschrift, aus denen sich gewichtige Anhaltspunkte für einen Auslandsbezug ergeben, der eine Berufungszuständigkeit des Oberlandesgerichts nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG begründen kann, die abschließende Prüfung der Zuständigkeit so zu beschleunigen, dass die Berufungsschrift noch vor Fristablauf an das Oberlandesgericht weitergeleitet werden kann. Denn da es nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG auf den allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit in erster Instanz, also regelmäßig den Zeitpunkt der Zustellung der Klageschrift nach § 253 Abs. 1, § 261 Abs. 1, 2 ZPO ankommt, der von der aktuellen Anschrift einer Partei im Zeitpunkt des Urteilserlasses und der Berufungseinlegung durchaus abweichen kann, reicht die Kenntnis der Berufungs- und Berufungsbegründungsschrift sowie des angefochtenen Urteils in vielen Fällen zur endgültigen Beurteilung der Zuständigkeit nicht aus, sondern bedarf es einer Kenntnis der Akten, insbesondere der Angabe des Wohnsitzes in der Klageschrift. Eine Verpflichtung des Vorsitzenden, sich diese Akten schneller, als dies im ordentlichen Geschäftsgang zu erwarten wäre, vorlegen zu lassen oder sich bei dem Berufungsführer oder dem Gericht erster Instanz nach dem Wohnsitz bei Zustellung der Klage zu erkundigen, würde die Verfahrensbeteiligten ihrer primären Verantwortung für die Bestimmung des zuständigen Rechtsmittelgerichts entheben (Senatsbeschluss vom - VIII ZB 4/06, NJW 2008, 1890, 1891, Tz. 12).

Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde war der Vorsitzende der Berufungskammer beim Landgericht auch nicht verpflichtet, wenigstens eine "Grobprüfung der Zuständigkeit" vorzunehmen. Eine derartige "Grobprüfung" hätte allein anhand der Berufungsschrift und des beigefügten erstinstanzlichen Urteils erfolgen können. Dass in den dortigen Rubra die Klägerin mit ihrem ausländischen Geschäftssitz angeführt war, musste den Vorsitzenden jedoch nicht zu dem von der Rechtsbeschwerde vermissten Hinweis auf die möglicherweise fehlende Zuständigkeit des Landgerichts veranlassen, denn es kommt auf den allgemeinen Gerichtsstand im Zeitpunkt des Eintritts der Rechtshängigkeit an und nicht auf den Wohnsitz im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder des Urteilserlasses (Senat, aaO). Zu einem Hinweis ist das Gericht indes nur dann verpflichtet, wenn ein rechtlich erheblicher Gesichtspunkt erkennbar übersehen wurde (§ 139 Abs. 2 ZPO). Dies konnte der Kammervorsitzende jedoch erst nach Einsicht in die Gerichtsakten beurteilen.

b) Das Berufungsgericht hat jedoch übersehen, dass die beim Oberlandesgericht verspätet eingelegte Berufung nicht als unzulässig verworfen werden darf, weil die Beklagte mit Schriftsatz vom neben einer Hauptberufung vorsorglich auch Anschlussberufung eingelegt hat, die derzeit unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt als unzulässig angesehen werden kann.

Legt eine Partei gegen eine bestimmte Entscheidung mehrfach Berufung ein, handelt es sich um dasselbe Rechtsmittel; ihr Begehren richtet sich im Ergebnis nur auf eine sachliche Überprüfung des angefochtenen Urteils. Daher ist nach ständiger Rechtsprechung über die Berufung einheitlich zu entscheiden. Dies gilt auch dann, wenn der Berufungsbeklagte sowohl eine selbständige Berufung einlegt als auch eine Anschlusserklärung nach § 524 ZPO abgibt. Entspricht - wie hier - die zunächst eingelegte Berufung nicht den förmlichen Anforderungen des Gesetzes, darf sie daher auch nicht gesondert als unzulässig verworfen werden (, NJW-RR 2004, 1502 unter II 2 m.w.N.).

Die Sache ist daher unter Aufhebung der Berufungsverwerfung zur Fortsetzung des Berufungsverfahrens an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Fundstelle(n):
IAAAD-39426