BAG Urteil v. - 4 AZR 260/08

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: TVG § 4 Abs. 5

Instanzenzug: LAG Schleswig-Holstein, 1 Sa 416/07 vom ArbG Elmshorn, 3 Ca 961b/07 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten über tarifliche Vergütungsansprüche des Klägers.

Zwischen den Parteien besteht seit 1998 ein Arbeitsverhältnis. Der Kläger ist Mitglied der Gewerkschaft IG BAU. Die Beklagte, bei der ca. 150 Arbeitnehmer beschäftigt sind, ist Mitglied im Norddeutschen Baugewerbeverband e.V. (im Folgenden: Arbeitgeberverband), seit Januar 2006 als Mitglied ohne Tarifbindung (sog. OT-Mitglied).

Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes führten im Jahre 2002 in den alten Bundesländern mit dem Tarifvertrag zur Regelung der Löhne und Ausbildungsvergütungen (TV Lohn/West) neue Lohnstrukturen ein. Die Tätigkeit des Klägers entspricht dabei der neu geschaffenen Lohngruppe 4. Durch eine Einigung der Tarifvertragsparteien vom wurden die Löhne neu festgelegt (im Folgenden: TV Lohn/West 2005). Die Gewerkschaft kündigte am den TV Lohn-West 2005 mit Wirkung zum .

Die Beklagte hatte bereits am den bei ihr gebildeten Betriebsrat darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie künftig nicht mehr Mitglied im Arbeitgeberverband sein werde. Die wirtschaftliche Lage des Unternehmens habe sich verschlechtert. Es bestehe entweder die Möglichkeit, die Hälfte der Belegschaft zu entlassen und zum Ende des Jahres den Betrieb vollständig zu schließen oder die Mitarbeiter auf der Basis des tariflichen Mindestlohnes weiter zu beschäftigen. Die Beklagte ersuchte den Betriebsrat, die Mitarbeiter auf den Baustellen darüber zu unterrichten.

Am machte die Beklagte den bei ihr beschäftigten Arbeitnehmern, ua. dem Kläger, ein schriftliches Angebot, was dieser auch unterzeichnete. Diese Vereinbarung hatte auszugsweise folgenden Wortlaut:

"Arbeitsvertrags Änderung

aufgrund der wirtschaftlichen Situation in unserem Betrieb sind wir an den Betriebsrat herangetreten, um über mögliche Veränderungen innerhalb der Lohn- und Kostenstrukturen unserer Firma zu sprechen. Ziel der diversen Gespräche war es die Lohn- und Lohnnebenkosten zu senken, um unsere Wettbewerbsfähigkeit auf dem Hamburger Markt zu erhalten. Bei dieser Maßnahme sind wir auf Ihr Verständnis und Ihre Mithilfe angewiesen. Um den Fortbestand der Firma und insbesondere Ihren Arbeitsplatz zu gewährleisten, bieten wir Ihnen diese einvernehmliche Arbeitsvertrags Änderung an.

Es wird einvernehmlich wie folgt geändert:

Inkrafttreten der Änderung:

Ab diesem Zeitpunkt erklären Sie sich bereit, mit einem Mindestlohn ML II von z. Zt. € 12,47

Lohnverzicht der Zahlung des 13. Monatseinkommens

und

bezahlte längere Arbeitszeit Freitag um 3 Stunden

(während der Sommermonate)

zu ansonsten unveränderten Bedingungen weiter für uns tätig zu sein. ..."

Zumindest seit dem zahlte die Beklagte an den Kläger nur noch den genannten tariflichen Mindestlohn.

Mit seiner am erhobenen Klage hat der Kläger die Lohndifferenz für die Monate April und Mai 2007 in rechnerisch unstreitiger Höhe geltend gemacht. Die Beklagte könne sich nicht auf die Vereinbarung vom berufen, da diese keine andere Abmachung darstelle, die nach § 4 Abs. 5 TVG die Nachwirkung des TV Lohn/West beseitigen könne.

Der Kläger hat - soweit für die Revision noch von Interesse - beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 756,82 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 358,97 Euro seit dem und aus 397,85 Euro seit dem zu zahlen.

Die Beklagte hat ihren Klageabweisungsantrag damit begründet, dass die Vereinbarung vom jedenfalls für den Zeitraum nach Ablauf der Kündigungsfrist des TV Lohn/West am eine andere Abmachung iSv. § 4 Abs. 5 TVG darstelle und den Vergütungsanspruch des Klägers wirksam abgesenkt habe.

Soweit noch streitig, hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. Mit der Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Gründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat das erstinstanzliche Urteil zu Unrecht abgeändert und die Klage abgewiesen.

I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung damit begründet, dass die Vereinbarung der Parteien vom eine "andere Abmachung" iSv. § 4 Abs. 5 TVG sei und die nachwirkenden Tarifnormen des TV Lohn/West ab dem abgelöst hätten. Solche Vereinbarungen seien auch schon vor Eintritt der Nachwirkung zulässig. Im Streitfall werde erkennbar, dass die Vertragsparteien abweichende Vereinbarungen treffen wollten, soweit dies tarifrechtlich möglich sei. Das ergebe sich aus der Auslegung der Vereinbarung. Die Beklagte habe erkennbar eine Abmachung für den Fall des Wegfalls der Tarifbindung erreichen wollen. Die Beklagte habe den Betriebsrat vor Abschluss der Vereinbarung über den geplanten Ausstieg aus dem Arbeitgeberverband informiert und ihn gebeten, die Belegschaft hierüber zu unterrichten. Die Einleitungssätze der Vereinbarung wiesen deutlich auf deren Zweck hin, angesichts der wirtschaftlich schwierigen Situation die Lohn- und Lohnnebenkosten zu senken. Aus diesen Umständen werde hinreichend deutlich, dass die Beklagte in jedem Fall den Ausstieg aus dem Tarifvertrag zum nächstmöglichen Zeitpunkt erreichen wollte. Dies sei der Zeitpunkt des Eintritts der Nachwirkung.

II. Dies ist rechtsfehlerhaft. Der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte tarifliche Vergütung, weil die Normen des TV Lohn/West 2005, aus denen sich seine Forderungen ergeben, nach der Kündigung des Tarifvertrages und dem Ablauf der Kündigungsfrist am nach § 4 Abs. 5 TVG nachwirkten. Eine wirksame Ablösung dieser Nachwirkung durch eine andere Abmachung der Parteien ist nicht erfolgt. Insbesondere die Vereinbarung vom hat weder zum Zeitpunkt ihres Abschlusses noch danach den materiell-rechtlichen Inhalt des Arbeitsverhältnisses der Parteien verändert.

1. Bis zum hatte der Kläger Anspruch auf Vergütung nach der Lohngruppe 4 des TV Lohn/West, da beide Parteien an diesen Tarifvertrag bis zu dem genannten Zeitpunkt unmittelbar und zwingend gebunden waren. Hiervon gehen auch die Parteien übereinstimmend aus.

a) Die Rechtsnormen eines Tarifvertrages entfalten zwingende und unmittelbare Wirkung zwischen den beiderseits tarifgebundenen Parteien des Arbeitsverhältnisses (§ 4 Abs. 1 TVG). Hiervon abweichende Abmachungen sind nur insoweit wirksam, als sie für den Arbeitnehmer günstiger als die tarifvertraglichen Regelungen sind (§ 4 Abs. 3 TVG).

b) Dementsprechend ergab sich der Vergütungsanspruch des Klägers für den Zeitraum bis zum aus der bis zu diesem Zeitpunkt bestehenden beiderseitigen Tarifgebundenheit.

aa) Die am abgeschlossene Vereinbarung zwischen den zu diesem Zeitpunkt nach § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar an den TV Lohn/West tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien hätte nur dann und insoweit Wirkung entfalten können, als sie für den Kläger günstigere Arbeitsbedingungen enthalten hätte. Dies war jedenfalls hinsichtlich der Vergütung nicht der Fall, so dass es bei den tariflichen Mindestbedingungen verblieb.

bb) Hieran hat sich auch durch den Übertritt der Beklagten in den OT-Status beim Arbeitgeberverband nichts geändert. Es kann zu ihren Gunsten unterstellt werden, dass der Wechsel tarifrechtlich wirksam war (vgl. dazu - AP TVG § 3 Nr. 38 = EzA GG Art. 9 Nr. 95; - 4 AZR 986/07 -; - 4 AZR 111/08 - AuR 2009, 177 (Kurzwiedergabe)). Die näheren Umstände sind vom Landesarbeitsgericht nicht festgestellt worden. Solcher Feststellungen bedurfte es aber auch nicht, da ein wirksamer Übertritt in den OT-Status tarifrechtlich dem Austritt aus dem Verband gleichgestellt ist (vgl. nur Anw-ArbR/Friedrich Bd. 2 § 3 TVG Rn. 49). Wie bei einem solchen bleibt auch beim Übertritt die Tarifgebundenheit bestehen, bis der Tarifvertrag endet (§ 3 Abs. 3 TVG).

2. An der Verbindlichkeit der Vergütungsregelung im TV Lohn/West 2005 für das Arbeitsverhältnis der Parteien hat sich entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts auch durch das Ende des Tarifvertrages am nichts geändert. Insbesondere entfaltet die Vereinbarung der Parteien vom auch ab diesem Zeitpunkt keine den Inhalt des Arbeitsverhältnisses ändernde Wirkung.

a) Nach Ablauf des Tarifvertrages gelten seine Normen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden (§ 4 Abs. 5 TVG). Eine solche andere Abmachung kann auch eine einvernehmliche Änderung des Arbeitsvertrages sein, wenn sie auf die Änderung der nachwirkenden Normen des Tarifvertrages gerichtet ist.

aa) Nach § 4 Abs. 5 TVG gelten nach Ablauf eines Tarifvertrages seine Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Das kann durch einen für beide Parteien geltenden Tarifvertrag, eine Betriebsvereinbarung oder eine arbeitsvertragliche Regelung erfolgen. Mit der Nachwirkung soll im Interesse der Vertrags- und Tarifvertragsparteien eine Überbrückungsregelung auf dem Niveau der bisherigen tariflichen Regelungen geschaffen werden, die die zwischenzeitliche Bestimmung der bisher tarifvertraglich geregelten Mindestarbeitsbedingungen nach anderen Regelungen entbehrlich macht. Diese Nachwirkung des abgelaufenen Tarifvertrages entfällt, soweit eine andere Abmachung getroffen wird, die denselben Regelungsbereich erfasst ( - Rn. 21 mwN, EzA TVG § 4 Nachwirkung Nr. 40; - 4 AZR 789/07 - Rn. 27, AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 37 = EzA TVG § 4 Nachwirkung Nr. 43).

bb) Aus dem Erfordernis der "anderen Abmachung" zur Ablösung des nachwirkenden Tarifvertrages ergibt sich, dass frühere arbeitsvertragliche Vereinbarungen, die während der zwingenden und unmittelbaren Geltung eines Tarifvertrages verdrängt wurden, nicht automatisch wieder aufleben und das Arbeitsverhältnis im Nachwirkungszeitraum abweichend vom abgelaufenen Tarifvertrag gestalten können ( - BAGE 67, 222; Däubler/Deinert TVG 2. Aufl. § 4 Rn. 488; Kempen/Zachert/Stein TVG 4. Aufl. § 4 Rn. 16; Kempen/Zachert/Kempen § 4 Rn. 565; ErfK/Franzen 9. Aufl. § 4 TVG Rn. 64; Hromadka/Maschmann/Wallner Der Tarifwechsel Rn. 298; Stein Tarifvertragsrecht Rn. 138; Gamillscheg Kollektives Arbeitsrecht Bd. I S. 878; Könitz Die Reichweite der Nachwirkung von Tarifverträgen nach § 4 Abs. 5 TVG S. 163; K. Schmidt RdA 2004, 152, 159; Frieges DB 1996, 1281; Frölich NZA 1992, 1105, 1111). Auch in seiner Entscheidung vom ist der Senat davon ausgegangen, dass die verdrängten arbeitsvertraglichen Vereinbarungen nur dann "automatisch" wieder Wirkung erlangen können, wenn die günstigeren Tarifnormen vollständig, also ohne Nachwirkung wegfallen ( - 4 AZR 998/06 - Rn. 41, AP TVG § 4 Nr. 29 = EzA TVG § 4 Nr. 44: "Ende des Tarifvertrages unter Ausschluss der Nachwirkung").

cc) Für die Annahme einer "anderen Abmachung" ist es zwar nicht erforderlich, dass diese erst abgeschlossen wird, nachdem die Nachwirkung eingetreten ist. Die Abrede muss aber vom Regelungswillen der Parteien her darauf gerichtet sein, eine bestimmte bestehende Tarifregelung in Anbetracht ihrer absehbar bevorstehenden Beendigung und des darauf folgenden Eintritts der Nachwirkung abzuändern (ausf. - Rn. 28 f., AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 37 = EzA TVG § 4 Nachwirkung Nr. 43).

b) Diese Anforderungen an eine "andere Abmachung" iSv. § 4 Abs. 5 TVG erfüllt die Änderungsvereinbarung der Parteien vom nicht.

aa) Der Wortlaut der Vertragsänderung lässt nicht erkennen, dass diese auf die Beseitigung oder die Verhinderung einer zukünftigen Nachwirkung des TV Lohn/West 2005 gerichtet ist. Zu diesem Zeitpunkt war eine mögliche Kündigung des TV Lohn/West 2005 in keiner Weise absehbar. Vielmehr sollte die Änderung des Arbeitsvertrages bereits ab gelten. Das Landesarbeitsgericht hat verkannt, dass es nicht um die Nachwirkung des bis zum geltenden TV Lohn/West aus dem Jahr 2002, sondern um die Nachwirkung des am geltenden, erst im Januar 2007 gekündigten und im März 2007 ausgelaufenen TV Lohn/West 2005 geht. Dieser Tarifvertrag war zum Zeitpunkt der arbeitsvertraglichen Vereinbarung der Parteien noch nicht einmal geschlossen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, die Parteien hätten die Nachwirkung eines Tarifvertrages bereits beseitigen wollen, bevor er überhaupt abgeschlossen war.

bb) Aus dem Wortlaut der Vereinbarung ergibt sich dagegen deren ausdrücklicher, von der Beklagten vorgegebener Zweck, die Lohn- und Lohnnebenkosten der Beklagten ab dem zu senken, um ihre Ertragslage zu verbessern. Die Beklagte selbst hat im Übrigen stets vorgetragen, dass sie zum fraglichen Zeitpunkt keine Kenntnis über die Gewerkschaftsmitgliedschaft des Klägers hatte. Auch dies schließt eine Willensrichtung der Parteien auf Beseitigung einer normativ begründeten Nachwirkung beim Abschluss der arbeitsvertraglichen Vereinbarung aus.

cc) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts enthält die vom Kläger abgegebene Zustimmung zu der Änderung des Arbeitsvertrages zum nicht als "Minus" den Rechtsbindungswillen zur Änderung zu dem jedenfalls danach frühesten zulässigen Termin. Diese Auffassung verkennt bereits, dass sich die Willenserklärungen der Parteien - wie dargelegt - nicht nur auf die Änderung der Arbeitsbedingungen, sondern positiv auf die Beseitigung der Nachwirkung eines bestimmten Tarifvertrages beziehen müssen. Daran fehlt es hier.

3. Die Höhe der Vergütungsdifferenzen für die geltend gemachten Monate April und Mai 2007 ist rechnerisch unstreitig.

4. Dem Kläger stehen nach § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 2 BGB auch die begehrten Zinsen zu. Dabei ist die Rechtshängigkeit jeweils mit Zustellung der Klageschrift und der klageerweiternden Schriftsätze an die Beklagte vor den jeweils im Antrag genannten Terminen eingetreten.

III. Die Kosten des Revisions- und des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen, weil die Rechtsmittel im Ergebnis erfolglos geblieben sind, § 97 Abs. 1 ZPO. Zwar hatte auch der Kläger gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung eingelegt, die vom Landesarbeitsgericht rechtskräftig zurückgewiesen worden ist. Die klägerische Berufung betraf jedoch lediglich einen Betrag von 6,90 Euro. Die Beklagte hat daher nach § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO die gesamten Kosten der Berufung zu tragen.

Fundstelle(n):
FAAAD-32467

1Für die amtliche Sammlung: nein; Für die Fachpresse: nein