BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 1113/06

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: BKGG § 1 Abs. 3; EStG § 32 Abs. 6; GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 20 Abs. 3

Instanzenzug: BFH, III B 44/05 vom FG München, 9 K 317/03 vom

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Pflicht der Fachgerichte zur Berücksichtigung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Bezug auf die verfassungsgerichtlich angeordnete Weitergeltung verfassungswidriger Bestimmungen des Einkommensteuerrechts.

Die Beschwerdeführer begehrten die Berücksichtigung von Freibeträgen für die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder bei der Einkommensteuerfestsetzung für die Streitjahre 1993 bis 2000. Ihre Klagen hatten vor dem Finanzgericht und dem Bundesfinanzhof keinen Erfolg. Die Gerichte stützten sich auf den Entscheidungsausspruch des (BVerfGE 99, 216), in dem § 33c Abs. 1 bis 4 EStG und des § 32 Abs. 3 und Abs. 4, später Abs. 7, EStG in den jeweils geltenden Fassungen für weiterhin anwendbar erklärt worden waren. Mit der Verfassungsbeschwerde machen die Beschwerdeführer geltend, die Fachgerichte hätten bei der Annahme einer Bindung an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ihre Pflicht zur Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom (EGMR, Urteil vom - 59140/00 -, NVwZ 2006, S. 917 - Okpisz) verletzt. Des weiteren sei die Höhe des für das Streitjahr 2000 in § 32 Abs. 6 EStG geregelten "Betreuungs- und Erziehungsfreibetrags" nicht ausreichend bemessen gewesen.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG sind nicht erfüllt; die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.> ).

1.

Soweit die Beschwerdeführer sich gegen die Höhe des für 2000 in § 32 Abs. 6 EStG angeordneten Betreuungsfreibetrags wenden, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Entgegen dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (vgl. BVerfGE 81, 22 <27 f.> ; BVerfGK 8, 271 <273>) haben es die Beschwerdeführer unterlassen, diese Frage zum Gegenstand der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zu machen. Zudem setzen sie sich nicht mit der Feststellung des Finanzgerichts auseinander, die Höhe des Betreuungsfreibetrags genüge den Vorgaben der Entscheidung des ; dort sei für vier Kinder ein Betrag von insgesamt 10.000 DM vorgesehen, den Beschwerdeführern seien vier Betreuungsfreibeträge von insgesamt 12.096 DM gewährt worden.

2.

Hinsichtlich des gegen die Berufung der Fachgerichte auf die Weitergeltungsanordnung gerichteten Vorbringens ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet. Das Finanzgericht und der Bundesfinanzhof haben das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht dadurch verletzt, dass sie Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht im gebotenen Umfang berücksichtigt hätten (vgl. BVerfGE 111, 307). Das gilt insbesondere in Bezug auf das von den Beschwerdeführern herangezogene Urteil des Gerichtshofs vom . Das Urteil des Finanzgerichts ist vor dieser Entscheidung ergangen. Der Bundesfinanzhof hat sie in seine Erwägungen einbezogen und ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht keine für die Beschwerdeführer günstigen Folgen aus ihr abgeleitet.

a)

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betrifft § 1 Abs. 3 BKGG in der von Januar 1994 bis Dezember 1995 geltenden Fassung, wonach Voraussetzung des Kindergeldbezuges eine Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis war. Ein Zusammenhang mit der Tenorierungspraxis des Bundesverfassungsgerichts besteht nur insofern, als die Bundesregierung die Streichung der Individualbeschwerde gemäß Art. 37 Abs. 1 Buchstabe c EMRK beantragt hatte, weil das Bundesverfassungsgericht eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlass einer Neuregelung bis zum ausgesprochen habe (vgl. BVerfGE 111, 160) und das Verfahren der Beschwerdeführer vor dem Landessozialgericht daraufhin ausgesetzt worden sei. Hierzu führte der Gerichtshof aus (a.a.O., S. 917), dass er vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in seiner Zulässigkeitsentscheidung festgestellt habe, dass die Beschwerdeführer hier von der Pflicht zur Erschöpfung der nationalen Rechtsbehelfe entbunden gewesen seien. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht betreffe die Beschwerdeführer nicht unmittelbar. Die gesetzliche Neuregelung sei noch nicht getroffen. Deshalb sei der Gegenstand der Beschwerde noch keiner Lösung zugeführt worden. In der Sache nahm der Gerichtshof eine Verletzung des Art. 8 in Verbindung mit Art. 14 EMRK an, weil er - ebenso wie das Bundesverfassungsgericht - keine hinreichenden Gründe zur Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung von Ausländern beim Kindergeldbezug in Abhängigkeit davon, ob sie über eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung verfügten oder nicht, erkenne. Der Gerichtshof wendete Art. 41 EMRK an und stellte fest, dass sich das Verfahren auf die 1994 und 1995 gültige Gesetzesfassung beschränkt habe. Er sprach den Beschwerdeführern 2.500 Euro als Ersatz für entgangenes Kindergeld in diesem Zeitraum zu.

b)

Soweit der Gerichtshof einen Konventionsverstoß in der Regelung des § 1 Abs. 3 BKGG gesehen hat, scheidet eine Berücksichtigungspflicht im vorliegenden Verfahren aus, weil diese Vorschrift hier nicht entscheidungserheblich ist. Dies verkennt die Verfassungsbeschwerde auch nicht. Sie versucht vielmehr, aus der verfahrensrechtlichen Konstellation, in der der Gerichtshof eine Sachentscheidung getroffen hat, abzuleiten, dass die Verbindlichkeit einer vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen Weitergeltungsanordnung bereits dann zu entfallen habe, wenn zu erwarten sei, dass der Gerichtshof in dem vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Verfassungsverstoß zugleich einen Konventionsverstoß sehen werde. Allenfalls dann, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Tenorierungsvariante der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung an sich als konventionswidrig angesehen hätte, wäre das Vorbringen der Beschwerdeführer schlüssig; nur dann läge eine Entscheidung vor, die eine Berücksichtigungspflicht auslösen könnte. Einen derartigen Rechtssatz hat der Gerichtshof indes nicht aufgestellt.

Ohne Beschäftigung mit dem Prozessrecht des Bundesverfassungsgerichts hat er allein eine nach seinem Prozessrecht - dem im Übrigen eine zeitliche Begrenzung der Entscheidungswirkungen nicht grundsätzlich fremd ist (vgl. EGMR, Urteil vom - 6833/74 -, EuGRZ 1979, S. 454 <457> - Marckx; Urteil vom - 44/1990/235/301 -, EuGRZ 1992, S. 12 <13> - Vermeire; Urteil vom - 32570/03 - Grant; Christoffersen, Fair Balance: Proportionality, Subsidiarity and Primarity in the European Convention on Human Rights, 2009, S. 435 ff.; Ress, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Vertragsstaaten: Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im innerstaatlichen Recht und vor innerstaatlichen Gerichten, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, 1982, S. 227 <237 ff.>) - vorgesehene Entscheidungsfolge für den von ihm entschiedenen Fall ausgesprochen. Dass das innerstaatliche Verfahrensrecht eine bestimmte Entscheidungsfolge nicht vorsehen dürfe, ergibt sich daraus offensichtlich nicht. In einer anderen Entscheidung hat der Gerichtshof vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in manchen Vertragsstaaten, die mit einem Verfassungsgerichtshof ausgestattet seien, die Rückwirkung von Entscheidungen eines derartigen Gerichtshofs, durch die Gesetze für nichtig erklärt würden, im öffentlichen Recht dieser Staaten beschränkt werde (EGMR, Urteil vom - 6833/74 -, EuGRZ 1979, S. 454 <457> - Marckx).

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Fundstelle(n):
BAAAD-30468