BGH Beschluss v. - 5 StR 460/08

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GVG § 171a; GVG § 172; GVG § 174; StPO § 58a Abs. 1; StPO § 59 Abs. 2; StPO § 68b Abs. 1; StPO § 79 Abs. 2; StPO § 168c; StPO § 238 Abs. 2; StPO § 240 Abs. 2; StPO § 247; StPO § 251 Abs. 4; StPO § 338; StPO § 338; StPO § 344 Abs. 2

Gründe

Das Landgericht hat gegen den Angeklagten - unter Freisprechung im Übrigen - wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verhängt und ihn unter Einbeziehung der (in den Urteilsgründen nicht mitgeteilten) Einzelstrafen aus einer rechtskräftigen Verurteilung (zu zwei Jahren und sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe) zu einer neuen Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der auf eine Verfahrensrüge und auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revision.

1. Der Senat möchte - dem Beschlussantrag des Generalbundesanwalts folgend - das Urteil auf die Sachrüge im Gesamtstrafausspruch wegen fehlender Angabe der Höhe der einbezogenen Einzelstrafen aufheben und die weitergehende Revision verwerfen. Die Verfahrensvoraussetzung eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses sieht er als erfüllt an; bei den unrichtigen Angaben zur eröffneten Anklage in der schriftlichen Fassung handelt es sich, wie die Anhörung der beteiligten Richter eindeutig erweist, um ein Fassungsversehen. Zum Schuld- und (Einzel-)Strafausspruch hält das angefochtene Urteil sachlichrechtlicher Prüfung stand. Der Senat hält auch die auf Verletzung des § 247 StPO gestützte Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO für unbegründet. So kann der Senat indes nicht ohne Anfrage gemäß § 132 Abs. 2 und 3 GVG entscheiden.

2. Mit der Rüge beanstandet die Revision die fortdauernde Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Vereidigung und Entlassung der gemäß § 247 Satz 2 StPO in seiner Abwesenheit vernommenen geschädigten Zeugin. Während die Beanstandung bezogen auf die Verhandlung über die Vereidigung der kindlichen Zeugin offensichtlich unbegründet ist (BGH bei Holtz MDR 1978, 460; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1; BGHSt 51, 81), gilt dies nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht bezogen auf die Verhandlung über die Entlassung der Zeugin.

[Amtliche Anmerkung: 3.]

Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts hält der Senat die Rüge für zulässig und das Sachvorbringen der Revision hierzu nach dem Protokoll für erwiesen.

a) Eine Beanstandung der in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten getroffenen Entlassungsentscheidung des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 StPO entsprechend dem zunehmend ausgeweiteten Verständnis von dieser Norm als einem einer Revisionsrüge notwendig vorzuschaltenden Zwischenrechtsbehelf (Schneider in KK 6. Aufl. § 238 Rdn. 33 ff.; Mosbacher JR 2007, 387) ist von der Rechtsprechung bislang nicht als Voraussetzung für eine Rüge nach § 338 Nr. 5 StPO wegen gesetzwidriger Abwesenheit des Angeklagten bei der Entlassungsverhandlung verlangt worden. Mangelnder Vortrag des Angeklagten hierzu berührt daher entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts nicht die Vollständigkeit des Vortrags im Sinne des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Wollte man die Statthaftigkeit der hier in Frage stehenden Verfahrensrüge von diesem Zwischenrechtsbehelf abhängig machen, wäre ein solches Erfordernis seinerseits in dem nun eingeleiteten Verfahren nach § 132 GVG zu klären.

b) Das Protokoll ist zur Frage der Wiederzulassung des Angeklagten zur Hauptverhandlung nach Zeugenvernehmung der kindlichen Geschädigten nicht etwa derart lückenhaft, dass zur Frage der Abwesenheit des Angeklagten nach Abschluss ihrer Aussage ein Freibeweisverfahren veranlasst wäre, das der Rüge die Grundlage entziehen könnte. Der Angeklagte hatte (wie im Protokoll vermerkt) vor Beginn der Zeugenvernehmung den Sitzungssaal verlassen. Bei seiner (protokollierten) Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO war er wieder anwesend. Dass er früher und nicht erst zugleich mit der unmittelbar zuvor erfolgten Wiederherstellung der während der Zeugenvernehmung des Kindes ebenfalls ausgeschlossenen Öffentlichkeit wieder zugelassen worden wäre, schließt der Senat aus. Das (auf Nachfrage des Generalbundesanwalts dokumentierte) Erinnerungsbild des Strafkammervorsitzenden, wonach der Angeklagte noch vor Entlassung der Zeugin über deren Aussage unterrichtet worden wäre, ist mit dem nicht berichtigten Protokoll unvereinbar, findet aber eine Erklärung in der Erinnerung der Beisitzerin, wonach die kindliche Zeugin nach Abschluss ihrer Vernehmung noch im Zeugenschutzzimmer auf ihre anschließend vernommene Mutter gewartet und erst mit dieser nach deren Entlassung tatsächlich das Gericht verlassen hat.

4. Der Senat möchte dem Begriff der Vernehmung im Sinne des § 247 StPO bei entsprechenden Rügen nach § 338 Nr. 5 StPO in Abkehr von bisheriger Rechtsprechung (BGHSt 26, 218 ; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1, 14, 15; § 338 Nr. 5 Angeklagter 23; BGH NStZ 2000, 440; 2007, 352)den Inhalt geben, den er nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei Rügen nach § 338 Nr. 6 StPO hat, mit denen ein zu weit gehender Ausschluss der Öffentlichkeit beanstandet wird, wenn dieser gemäß § 171a bis § 172 GVG für die Dauer einer Vernehmung erfolgt ist. Dort wird "die Vernehmung" im Sinne des entsprechenden Verfahrensabschnitts verstanden; hierzu rechnen alle Verfahrensvorgänge, die mit der eigentlichen Vernehmung eng in Zusammenhang stehen oder sich aus ihr entwickeln (BGH NJW 1996, 2663, insoweit in BGHSt 42, 158 nicht abgedruckt; BGH NJW 2003, 2761, insoweit in BGHSt 48, 268 nicht abgedruckt; ). Die Wiederzulassung der Öffentlichkeit erst nach Entlassung der Zeugin erfolgte auf dieser Grundlage nach der Vernehmung und damit noch rechtzeitig. Dieselbe Auslegung ist für § 338 Nr. 5 i.V.m. § 247 StPO sachgerecht.

a) Wortlaut und Wortsinn des § 247 StPO erlauben es, zur "Vernehmung" auch die hiermit eng und unmittelbar zusammenhängenden Verfahrensvorgänge zu rechnen. Dementsprechend versteht die soweit ersichtlich allgemeine Meinung den Begriff der "Vernehmung" in § 58a Abs. 1 Satz 1 StPO in dem vom Senat auch für § 247 StPO befürworteten weiteren Sinn (Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl. § 58a Rdn. 4). Die Beiordnung eines anwaltlichen Beistands "für die Dauer der Vernehmung" umfasst nach § 68b Abs. 1 Satz 1 StPO selbstverständlich die Verhandlung über die Vereidigung des Zeugen sowie die Vereidigung selbst und endet erst mit der Entlassung des Zeugen (Meyer-Goßner aaO § 68b Rdn. 5). Die Anwesenheitsrechte bei richterlichen Vernehmungen im Sinne des § 168c StPO enden naturgemäß nicht mit dem Abschluss der Aussage. Auch § 251 Abs. 4 Satz 3 StPO ordnet die Vereidigung des Zeugen ersichtlich der "Vernehmung" zu.

Soweit die Vorschrift des § 59 Abs. 2 StPO - entsprechend § 79 Abs. 2 StPO - die Vernehmung und die Vereidigung voneinander trennt (vgl. dazu BGHSt 26, 218, 219) , erklärt sich dies aus dem spezifischen Regelungsgegenstand dieser Vorschriften, welche die Abfolge vorgeben (Nacheid). Eine Begriffsbestimmung der "Vernehmung", die für die gesamte Strafprozessordnung Gültigkeit beanspruchen könnte, kann ihnen daher, wie die erwähnten Gegenbeispiele erweisen, nicht entnommen werden. Nichts anderes gilt für die Vorschriften über die Zeugenbelehrung (§ 52 Abs. 3 Satz 1, § 57 Satz 1 StPO), deren Regelungsschwerpunkt - nicht anders als schließlich auch die Vorschrift über die Zeugenentlassung (§ 248 StPO) - in einer Organisation der sachlichen Abfolge während einer Vernehmung liegt, ohne dass jenen Regelungen eine begrenzte Begriffsdefinition zu entnehmen wäre.

b) Dem weiteren Begriffsverständnis folgt der Bundesgerichtshof mit Recht in der Frage des Ausschlusses bzw. der Wiederherstellung der Öffentlichkeit nach den §§ 171a bis 172 GVG (Nachweise oben 4). Hinreichende Gründe, die im Rahmen des § 247 StPO zu einer unterschiedlichen Beurteilung zwingen könnten, sind nicht vorhanden. Insbesondere ist ein solcher Grund nicht darin zu finden, dass die §§ 171a bis 172 GVG anders als § 247 StPO nicht auf den Ausschluss während einer Vernehmung beschränkt sind (a. A. BGHR GVG § 171b Abs. 1 Augenschein 1). Dieser Umstand versteht sich wegen des sehr viel weiteren möglichen Anwendungsbereichs dieser Vorschriften von selbst. Sie lassen den Ausschluss der Öffentlichkeit nicht nur für bestimmte Verfahrensabschnitte, sondern im Extremfall nahezu für die gesamte Hauptverhandlung zu. Wenn aber in dem die Öffentlichkeit ausschließenden Gerichtsbeschluss (§ 174 GVG) als Teil der Hauptverhandlung, für den der Ausschluss gelten soll, die Vernehmung eines Zeugen (oder Mitangeklagten oder Sachverständigen) bezeichnet wird, ist die Lage identisch (Basdorf in Festschrift für Salger 1995 S. 203, 207). Die zu § 247 StPO getroffene Aussage des Bundesgerichtshofs, die Verhandlung über die Vereidigung eines Zeugen stelle einen von der Vernehmung strikt zu trennenden, selbständigen Verfahrensabschnitt dar (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 2 und 3; BGH NStZ 2006, 713, 714), steht deshalb in deutlichem Widerspruch zur Rechtsprechung betreffend die §§ 171a bis 172 GVG, wonach (auch) dies zum Verfahrensabschnitt "Vernehmung" gerechnet wird.

Auch der Grundsatz, dass Ausnahmevorschriften streng nach dem Wortlaut des Gesetzes auszulegen sind (BGHSt 26, 218, 220) , gebietet kein anderes Ergebnis. Die Interpretation des Senats überschreitet die Grenzen des Wortlauts der Vorschrift, wie dargelegt, nicht. Zudem handelt es sich bei den §§ 171a bis 172 GVG ebenfalls um Ausnahmevorschriften. Der Senat verkennt nicht, dass die diesbezügliche Aussage in BGHSt 26, 218 darauf zielt, die zentralen Rechte des Angeklagten abzusichern (vgl. auch BGH NJW 2003, 597). Jedoch können dessen berechtigte Belange auch nach dem vom Senat eingenommenen Standpunkt angemessen gewahrt werden (dazu unten d, e).

c) Sinn und Zweck des § 247 StPO streiten für die Auffassung des Senats. Namentlich § 247 Satz 2 StPO ist - insoweit grundsätzlich übereinstimmend mit § 172 Nr. 1a GVG - darauf gerichtet, Schaden von dem Zeugen abzuwenden. So kommt es in der Praxis nicht ganz selten vor, dass einem verängstigten Zeugen jegliche Konfrontation mit dem Angeklagten erspart werden muss, weil andernfalls gesundheitlicher Nachteil zu befürchten ist. Es wäre sinnwidrig, wenn der von § 247 Satz 2 StPO gewährte Schutz mit dem Abschluss der Aussage des Zeugen abrupt abgeschnitten würde, obwohl die Gefährdung des Zeugen unverändert andauert. Die bisherige Rechtsprechung trägt den Interessen des Zeugen dabei durchaus Rechnung, freilich nicht durch eine am Schutzzweck orientierte Auslegung des § 247 StPO, sondern auf andere Weise. Sie verfährt dabei teils nicht widerspruchsfrei, was die Rechtsanwendung durch die Tatgerichte erschwert:

aa) So interpretiert sie die Entlassung des Zeugen nicht als wesentlichen Teil der Hauptverhandlung im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO; der Angeklagte kann demnach abwesend sein, wenn dem Zeugen seine Entlassung bekannt gegeben wird (BGH NJW 2004, 1187, insoweit in BGHSt 49, 25 nicht abgedruckt; Beschluss vom - 1 StR 614/99). Für die vorangehende Verhandlung über die Entlassung hält der Bundesgerichtshof hingegen daran fest, dass der Angeklagte zugegen sein muss (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1; BGH NJW 1986, 267; vgl. auch BGH NStZ 2000, 440; BGH, Beschlüsse vom - 5 StR 272/95 - und vom - 1 StR 614/99). Um die persönliche Konfrontation zu vermeiden, kann jedoch in diesem Fall der Zeuge vorübergehend den Gerichtssaal verlassen (BGHSt 22, 289, 296 f.) .

bb) Demselben Schema folgt die vor Neuordnung der Vereidigungsvorschriften durch den Bundesgerichtshof vertretene Auffassung, wonach die Verhandlung über die Vereidigung grundsätzlich (außer bei zwingenden Vereidigungsverboten) wesentlicher Teil der Hauptverhandlung (mit Anwesenheitspflicht des Angeklagten) ist, nicht aber die dem Zeugen bekannt gegebene Entscheidung über seine Nichtvereidigung (BGH NJW 2004, 1187, insoweit in BGHSt 49, 25 nicht abgedruckt). In Durchbrechung der engen Vernehmungsinterpretation hat die Rechtsprechung zudem eine Ausnahme für die fraglos einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung bildende Vereidigung eines Zeugen zulassen müssen, dem jegliches Zusammentreffen mit dem Angeklagten erspart werden musste (BGHSt 37, 48, 49 f. ; BGH NStZ 1985, 136; vgl. auch Meyer-Goßner in Festschrift für Pfeiffer 1988 S. 311, 322).

cc) Entsprechendes gilt für andere Beweiserhebungen, namentlich Urkundenverlesungen oder Augenscheinseinnahmen, die in engem inhaltlichem Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung stehen und sich - wie bei der Vorlage von Schriftstücken oder sonstigen Beweismitteln durch den Zeugen zur Untermauerung seiner Aussage - oftmals unmittelbar daraus ergeben. Die bisherige Rechtsprechung gestattet solche Beweiserhebungen ohne weiteres unter fortdauerndem Ausschluss der von der Vernehmung ausgeschlossenen Öffentlichkeit (BGHR GVG § 171b Abs. 1 Augenschein 1), nicht indes in Abwesenheit des während der Vernehmung entfernten Angeklagten (BGHR StPO § 247 Abwesenheit 4, 5, 25; § 338 Nr. 5 Angeklagter 3; BGH StV 1981, 57; 1984, 102; 1986, 418; 2002, 8; NStZ 2001, 262; NJW 2003, 597). Zur gebotenen Vermeidung eines Zusammentreffens von Angeklagtem und Zeugen bedurfte es allerdings auch in dieser Fallgruppe einer Durchbrechung für den Augenschein am Körper des Zeugen (BGHR StPO § 247 Abwesenheit 30).

dd) Schließlich hat es die Rechtsprechung bereits gebilligt, dass die Verhandlung über den Ausschluss der Öffentlichkeit in Abwesenheit des Angeklagten erfolgt (BGHR StPO § 247 Abwesenheit 11, insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 38, 326 ; BGH NJW 1979, 276 ; vgl. auch BGHR StPO § 247 Abwesenheit 12, 13). Damit hat sie insoweit zugleich anerkannt, dass an die Angeklagtenabwesenheit und den Öffentlichkeitsausschluss in Fällen der hier in Frage stehenden Art ungeachtet der hinter den jeweiligen Regelungen stehenden unterschiedlichen Schutzgüter (Verteidigungsrechte des Angeklagten einerseits, Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes andererseits; hierzu BGH NJW 2003, 597) im Interesse des Zeugen- und Opferschutzes dieselben Maßstäbe angelegt werden müssen.

d) In den Fällen der mit einer Vernehmung eng zusammenhängenden Beweiserhebung besteht für den von der Vernehmung ausgeschlossenen Angeklagten die Gefahr eines Defizits an Information über Beweismaterial, welches nach förmlicher Einführung in die Hauptverhandlung im Urteil verwertet werden kann (§ 261 StPO). Indes bedarf es insoweit nicht des weitgehenden Schutzes des Angeklagten durch den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO wegen verfahrenswidriger Abwesenheit. Seine Belange sind vielmehr durch eine verantwortungsvolle Ausgestaltung der Unterrichtung des Angeklagten über das in seiner Abwesenheit Verhandelte gemäß § 247 Satz 4 StPO zu wahren, die in Fällen dieser Art (vgl. näher den weiteren Anfragebeschluss vom heutigen Tage - 5 StR 530/08) ein Vorzeigen des in Abwesenheit des Angeklagten besichtigten Augenscheinsobjekts oder ein nochmaliges Vorlesen - bei Einvernehmen auch Lesenlassen - einer in Abwesenheit des Angeklagten verlesenen Urkunde erfordert. Dabei sind die Belange des Angeklagten ergänzend über eine Protokollierungspflicht zu schützen. Bei Wahrung solcher Unterrichtungsstandards ist den Interessen des Angeklagten hinreichend Genüge getan. Dies gestattet die vom Senat für sachgerecht erachtete, einer thematisch geordneten Hauptverhandlung entgegenkommende, dem verbindlichen Verständnis zu § 338 Nr. 6 StPO i.V.m. § 174 GVG entsprechende Auslegung des Vernehmungsbegriffs des § 247 StPO. Eine Absicherung der betroffenen Angeklagtenrechte über den absoluten Revisionsgrund ist entbehrlich.

e) Nichts anderes gilt im Ergebnis für die Frage notwendiger Anwesenheit des Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung eines in seiner Abwesenheit vernommenen Zeugen. Mit der für unerlässlich erachteten Teilnahme des Angeklagten an dieser Verhandlung soll verhindert werden, dass der Zeuge vor Unterrichtung des Angeklagten über den wesentlichen Inhalt seiner Vernehmung gemäß § 247 Satz 4 StPO bereits entlassen ist. Dies ist erforderlich, weil dem Angeklagten ein eigenes Fragerecht nach § 240 Abs. 2 StPO zusteht, dessen Wahrnehmung durch eine Entlassung des Zeugen vor Unterrichtung des Angeklagten beeinträchtigt werden könnte (vgl. BGHR StPO § 247 Abwesenheit 18).

Mit Rücksicht auf eine effektive Wahrung des Fragerechts des Angeklagten ist es daher - unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit der Zusammenhangformel für die Auslegung des Vernehmungsbegriffs in § 247 StPO - nicht sachgerecht, wenn der Vorsitzende, wie hier, den Angeklagten erst nach Entlassung des in seiner Abwesenheit vernommenen Zeugen über den Inhalt seiner Aussage unterrichtet. Gleichwohl erscheint es nicht gerechtfertigt, eine durch solches Vorgehen möglicherweise verursachte Beeinträchtigung des Fragerechts des Angeklagten von vornherein durch Eingreifen des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 5 StPO zu schützen.

aa) So ist es zunächst auch Aufgabe des Verteidigers - der in Fällen der Anwendung des § 247 StPO stets amtieren wird (vgl. § 140 Abs. 2 StPO) -, solcher verspäteten Unterrichtung des Angeklagten beizeiten entgegenzutreten. Er ist nicht nur gehalten, auf eine effektive Wahrnehmbarkeit des eigenen Fragerechts seines Mandanten in dessen Interesse zu achten, sondern er wird in manchen Fällen darüber hinaus auch an einer Unterrichtung des Angeklagten über die Zeugenvernehmung interessiert sein, um intern eine Reaktion seines Mandanten hierauf erfahren und gegebenenfalls mit weiteren eigenen Fragen an den Zeugen reagieren zu können.

Dies wird dem Verteidiger Anlass geben, eine sachwidrig verfrühte Entlassungsanordnung des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 StPO zu beanstanden und so die Unterrichtung des Angeklagten vor der Entlassung des Zeugen zu erreichen suchen. Dies korrespondiert in gewisser Weise mit dem - durchaus neuen - Ansatz des Generalbundesanwalts, in Fällen der vorliegenden Art die Revisibilität des beanstandeten, auf die vorzeitige Zeugenentlassung bezogenen Vorsitzendenverhaltens von einem bereits in der Hauptverhandlung erhobenen entsprechenden Einwand abhängig zu machen.

bb) Die bestehende Möglichkeit, das Abschneiden des eigenen Fragerechts des Angeklagten im Einzelfall über einen relativen, unmittelbar hierauf gestützten Revisionsgrund zu sanktionieren, lässt es vor dem Hintergrund der erfahrungsgemäß geringen forensischen Bedeutung dieses eigenen Fragerechts angezeigt erscheinen, die bisherige Rechtsprechung zum Eingreifen des absoluten Revisionsgrunds in Fällen dieser Art aufzugeben.

Im gerichtlichen Alltag ist eine unmittelbare Befragung von Zeugen durch verteidigte Angeklagte eher selten (Basdorf aaO S. 206). Im Blick auf die umfassende Verantwortung des Verteidigers für die verfahrensrechtlichen Belange seines Mandanten ist der Vorsitzende auch nicht etwa gehalten, dem Angeklagten selbst ausdrücklich - was gelegentlich gar leicht als Aufforderung missverstanden werden könnte - das Wort zur Zeugenbefragung zu erteilen. Wünscht hingegen der Angeklagte - etwa auch nach Aufforderung durch seinen Verteidiger - eine eigene Befragung des Zeugen, so steht ihm diese - im Rahmen zulässiger Fragestellungen (§ 241 Abs. 2 StPO)- unbedingt zu.

Will mithin der Angeklagte den in seiner Abwesenheit vernommenen Zeugen nach Unterrichtung über den Inhalt seiner Aussage selbst befragen, so ist ihm das zu gestatten. Ist der Zeuge sachwidrig zuvor entlassen worden, so ist er vom Gericht zur Beantwortung dieser Frage - die notfalls zur gebotenen Schonung des Zeugen wieder in vorübergehender Abwesenheit des nach § 247 StPO zu entfernenden Angeklagten erfolgen darf - alsbald erneut vorzuladen. Die ohne Rücksicht auf das Fragerecht des Angeklagten erfolgte vorzeitige Entlassung des Zeugen hindert das Gericht, den Angeklagten auf den Weg des Beweis- oder Beweisermittlungsantrags zu verweisen, wenn dieser eine erneute Vorladung des Zeugen zu dessen ergänzender Befragung durchzusetzen wünscht, wie es nach ordnungsgemäßer Entlassung des Zeugen dem Verfahrensrecht entspräche (vgl. Fischer in KK 6. Aufl. § 244 Rdn. 70; BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 16; § 244 Abs. 2 Aussageentstehung 1; BGH NJW 1986, 267; vgl. hingegen BGHR StPO § 248 Entlassung 1). Das Gleiche hat zu gelten, wenn der Verteidiger aufgrund der Unterrichtung seines Mandanten und dessen hierauf gestützter Information nunmehr neue zulässige Fragen an den verfrüht entlassenen Zeugen stellen will.

cc) In den relevanten Fällen kann mithin im Revisionsverfahren erfolgreich gerügt werden, dass das Fragerecht des Angeklagten (oder seines Verteidigers) durch Verweigerung der erneuten Vorladung eines während der Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen, über dessen Aussage er erst nach dessen Entlassung unterrichtet wurde, verletzt worden ist, weil dem Angeklagten eine bestimmte zulässige Frage versagt wurde und das Urteil auf diesem Verstoß beruht. Sofern die Verhinderung einer zulässigen Frage belegt werden kann, wird auch gerügt werden können, dass das Gericht die berechtigte Beanstandung des Verteidigers zurückgewiesen hat, der Zeuge möge nicht vor Unterrichtung des Angeklagten entlassen werden.

Bei einer solchen Verfahrensweise wird auch das Gewicht der durch die betreffenden Maßnahmen jeweils berührten Rechte des Angeklagten in ausgewogener Weise berücksichtigt. Der Gesetzgeber hat die grundlegende Beschneidung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten mit § 247 StPO in weitem Maße dem tatgerichtlichen Ermessen überantwortet (BGHSt 22, 18, 20 f. ; BGHR StPO § 247 Satz 2 Begründungserfordernis 1 und 2). Hierdurch bleibt der Angeklagte oftmals von den ganz entscheidenden, ihn belastenden und daher besonders verteidigungsrelevanten Teilen der Hauptverhandlung ausgeschlossen (Basdorf aaO S. 206). Vor diesem Hintergrund erscheint es gänzlich unangemessen, die Position des (lediglich) verspätet unterrichteten Angeklagten gemäß der bisherigen Rechtsprechung durch den absoluten Revisionsgrund ohne Rücksicht darauf zu verstärken, ob er von seinem Fragerecht überhaupt Gebrauch machen wollte. Eine Reduktion des absoluten Revisionsgrundes durch eine sachgerechte Auslegung des Begriffs der Vernehmung in § 247 StPO, wie sie der Senat für angezeigt hält (vgl. zu entsprechender Tendenz schon BGHR StPO § 247 Abwesenheit 14, 20), beseitigt dieses Missverhältnis. Dass das Reichsgericht in einem, wie Meyer-Goßner aaO S. 313 zutreffend aufzeigt, von nationalsozialistischem Ungeist geprägten Urteil - abgedruckt in RGSt 74, 47 - betreffend die Frage der Vereidigung zum selben Ergebnis gelangt ist, kann die Auffassung letztlich nicht in Frage stellen (vgl. ähnlich BGHSt 51, 298, 304).

5. Die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen ist in der Praxis meist nicht mit negativen Auswirkungen für den Angeklagten verbunden. Etwaige Negativfolgen sind zudem, wie dargelegt, ohne weiteres vor dem Tatgericht zu korrigieren. Dementsprechend muss dieser Verfahrensabschnitt - abweichend von der bislang für den Senat verbindlichen Rechtsprechung - nicht als wesentlicher Teil der Hauptverhandlung angesehen werden. Selbst wenn daher die der Auffassung des Senats entsprechende Neuorientierung bei der Auslegung des Vernehmungsbegriffs unterbliebe, käme der absolute Revisionsgrund allein wegen der Abwesenheit des Angeklagten während der Verhandlung über die Entlassung eines in seiner Abwesenheit nach § 247 StPO vernommenen Zeugen nicht zur Anwendung; denn der Angeklagte hätte keinen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung versäumt (BGHSt 26, 84, 91 m.w.N.; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 17, 22, 24, 26; BGH NJW 1996, 2382; NStZ 2006, 713; vgl. für einen entsprechenden Lösungsansatz bereits BGHR StPO § 247 Abwesenheit 18 bis 21, 23Auch hiernach blieben dem Angeklagten die dargelegten Revisionsmöglichkeiten wegen einer Beschränkung seines Fragerechts.

6. Der Senat fragt daher bei den anderen Strafsenaten im Blick auf deren abweichende Entscheidungen (u. a.: BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1; BGH NJW 2003, 597 [1. Strafsenat]; BGHR StPO § 338 Nr. 5 Angeklagter 23 [2. Strafsenat]; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 3, 15, 19 [3. Strafsenat]; BGH NStZ 2000, 440; 2007, 352[4. Strafsenat]), an, ob an ihrer der beabsichtigten Entscheidung des Senats widersprechenden Rechtsprechung festgehalten wird.

Fundstelle(n):
PAAAD-25836

1Nachschlagewerk: nein