Keine Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, wenn das rückwirkende Ereignis bereits bei Erlass des betreffenden Bescheides hätte berücksichtigt werden müssen
Leitsatz
Das für eine Änderung eines Steuerbescheids nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO erforderliche Ereignis mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit muss nachträglich eintreten, weil nur in diesem Fall die Notwendigkeit besteht, die Bestandskraft zu durchbrechen. Konnte das Ereignis bei Erlass des betreffenden Bescheides bereits berücksichtigt werden, greift § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht ein.
Gesetze: AO § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, EStG § 17
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) begehren die Berücksichtigung nachträglicher Anschaffungskosten auf eine GmbH-Beteiligung im Wege der Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides für das Streitjahr (1999).
Die als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Kläger waren mit 45 % (Kläger) und mit 5 % (Klägerin) an einer GmbH beteiligt. Der Kläger verbürgte sich am für (Kontokorrent-)Forderungen in Höhe von 250 000 DM der X-Bank gegen die GmbH in gleicher Höhe. Des Weiteren hatte er gegen die GmbH eine Darlehensforderung in Höhe von 173 677 DM.
Am trat er seinen Geschäftsanteil zum Nennwert von 72 000 DM an die Klägerin ab unter Beibehaltung der Bürgschaft. Am legte er sein Amt als Geschäftsführer mit Wirkung zum nieder. Die wirtschaftliche Lage der GmbH verschlechterte sich Ende der 90er Jahre. Am nahm die X-Bank den Kläger aus der Bürgschaft in Anspruch. Der Kläger zahlte zum die Bürgschaftssumme, einschließlich der Nebenkosten in Höhe von 252 151 DM. Auf den Antrag vom wurde am das Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet.
Mit der gemeinsamen Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machte der Kläger (nur) den Verlust seiner Darlehensforderung gegen die GmbH als gewerblichen Verlust nach § 17 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend, den der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) in Höhe von 143 553 DM anerkannte.
Mit Schreiben vom teilte der Insolvenzverwalter dem Kläger mit, die Bürgschaft stelle eine eigenkapitalersetzende Sicherheit dar, die er nicht zur Insolvenztabelle anmelden könne, weil das Amtsgericht nicht zur Anmeldung nachrangiger Forderungen aufgefordert habe. Eine Quote werde er, der Kläger, deshalb nicht erhalten.
Der Kläger meint, erst mit diesem Schreiben sei die Wertlosigkeit seines Rückgriffsanspruchs gegen die GmbH bereits im Jahr 1999 erkennbar geworden. Er beantragte eine Änderung des Einkommensteuerbescheides für das Streitjahr vom gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO).
Das FA lehnte diesen Korrekturantrag ab, weil die Bürgschaftssumme bereits vor Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides geleistet worden sei und der Kläger ausweislich des geltend gemachten Darlehensverlustes selbst nicht mehr mit einer Erfüllung der Darlehensforderung gerechnet habe. Für die Geltendmachung des Bürgschaftsverlustes habe im Übrigen die Zahlungsaufforderung der Bank ausgereicht.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage dem Grunde nach voll, der Höhe nach jedoch nur teilweise statt. Es vertrat in seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 648 veröffentlichten Urteil die Auffassung, es könne offenbleiben, ob bereits die Inanspruchnahme durch die Bank mit Schreiben vom als rückwirkendes Ereignis anzusehen oder ob auf die tatsächliche Zahlung im November 2000 abzustellen sei oder ob erst das Schreiben des Insolvenzverwalters vom diese Voraussetzung erfüllt habe. Jedes dieser Ereignisse begründe eine Änderung der Besteuerung des auf dem einmaligen, punktuellen Vorgang der Anteilsveräußerung beruhenden Sachverhaltes (vgl. , BFHE 174, 324, BStBl II 1994, 648). Auf die Anwendbarkeit des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sei es ohne Einfluss, ob der Kläger noch vor Eintritt der Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides für 1999 vom in der Lage gewesen wäre, den höheren Veräußerungsverlust geltend zu machen. Der Verlust sei indes nur dann in Höhe des Nennwertes der Bürgschaftsverpflichtung anzusetzen, wenn die Bürgschaft in vollem Umfang eigenkapitalersetzend sei (, BFH/NV 2001, 761, m.w.N.). Im Jahr der Bürgschaftsübernahme (1997) seien diese Voraussetzungen jedoch noch nicht erfüllt gewesen. Die GmbH habe sich noch nicht in einer Krise befunden. Erst 1998 sei ein „drastischer Einbruch” erfolgt. Die Bürgschaft sei auch nicht krisenbestimmt gewesen (vgl. , BFHE 189, 390, BStBl II 1999, 724). Der Verlust der GmbH aus dem Jahr 1998 in Höhe von ca. 258 000 DM habe sich im Streitjahr auf ca. 486 000 DM erhöht, so dass vom Eintritt der Krise im Jahr 1998 auszugehen sei. Die GmbH habe über keine erheblichen stillen Reserven verfügt. Bereits 1998 habe sie mehr als die Hälfte ihres Stammkapitals von 160 000 DM verloren und sei nicht mehr kreditwürdig gewesen. Da der Kläger gleichwohl seinen Befreiungsanspruch gegen die GmbH nicht geltend gemacht habe, sei die Bürgschaft in diesem Zeitpunkt eigenkapitalersetzend geworden mit der Folge, dass in Höhe des gemeinen Werts des Rückgriffsanspruchs nachträgliche Anschaffungskosten anzunehmen seien. Der Senat schätze die Werthaltigkeit des Rückgriffsanspruchs zu diesem Zeitpunkt auf 20 % (in Höhe der Insolvenzquote + Zuschlag von 5 % = 50 430 DM; vgl. , BFHE 187, 480, BStBl II 1999, 348).
Hiergegen richtet sich die Revision des FA, die es auf die Verletzung von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO stützt. Überdies handele es sich selbst dann, wenn eine Änderungsvorschrift eingreife, um stehengelassene Darlehen und Bürgschaften, die insgesamt nicht über den bisher mit 143 553 DM zu hoch angesetzten Verlust anerkannt werden könnten.
Das FA beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache ist zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Indem das FG § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO das ausnahmslose Gebot entnimmt, rückwirkende Ereignisse in den Grenzen der Festsetzungsverjährung unabhängig davon zu berücksichtigen, wann und auf welche Weise sie bekannt werden, verletzt es diese Vorschrift.
1. Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Dieses Ereignis muss nachträglich eintreten, weil nur in diesem Fall die Notwendigkeit besteht, die Bestandskraft zu durchbrechen. Konnte das Ereignis bei Erlass des betreffenden Bescheides bereits berücksichtigt werden, greift die Vorschrift nicht ein (vgl. , BFHE 222, 464, BStBl II 2009, 227; vom I R 69/00, BFH/NV 2002, 1545, und , BFH/NV 2005, 1741, jeweils m.w.N.).
Zwar kann die Inanspruchnahme eines Gesellschafters aus einer Bürgschaft, die er zu einem Zeitpunkt übernommen oder stehengelassen hatte, in dem sich die Gesellschaft bereits in der Krise befand, oder die auch für den Fall der Krise bestimmt war, zu nachträglichen Anschaffungskosten führen, die den Veräußerungsgewinn nach § 17 Abs. 2 EStG rückwirkend beeinflussen (vgl. zur Bürgschaftsinanspruchnahme , BFH/NV 2008, 1994; zur Rückwirkung vgl. BFH-Urteil in BFHE 222, 464, BStBl II 2009, 227, m.w.N.). Das FG durfte aber nicht offen lassen, wann dieses Ereignis im Streitfall eingetreten ist. Ist als nachträgliches Ereignis nämlich bereits die Inanspruchnahme durch die Bank (durch Schreiben vom Juni 2000) oder die Zahlung durch den Kläger (im November 2000) anzusehen, hätte es bereits im Rahmen der Veranlagung des Streitjahres berücksichtigt werden können und müssen. Es hätte nur dann nicht mehr in die Veranlagung einbezogen werden können, wenn es sich erst mit dem Schreiben des Insolvenzverwalters vom Dezember 2001 verwirklicht hätte.
2. Da das Urteil diesen Maßstäben nicht entspricht, ist es aufzuheben. Die Sache ist aber nicht spruchreif. Das FG wird in einer neuen Verhandlung und Entscheidung prüfen müssen, ob sich die nachträglichen Anschaffungskosten erst durch das Schreiben des Insolvenzverwalters vom Dezember 2001 realisiert haben und mithin ein nachträgliches Ereignis gegeben ist. Kommt es dabei zu dem Ergebnis, die Korrekturvorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO greife nicht ein (weil z.B. der Realisationszeitpunkt bereits mit der Inanspruchnahme des Klägers aus der Bürgschaft anzusetzen ist), wird es ferner prüfen müssen, ob das FA verpflichtet war, den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu berichtigen.
Kommt es dabei zu dem Ergebnis, eine Änderungsvorschrift greife ein, wird es ferner dem Vortrag des FA nachzugehen haben, die aus der Darlehensinanspruchnahme resultierenden Anschaffungskosten seien zu hoch angesetzt worden. Zwar bezeichnet die Vorinstanz diesen Umstand als unstreitig. Haben sich die Beteiligten aber nicht z.B. über den Wert der anzusetzenden Anschaffungskosten tatsächlich verständigt (vgl. zu den Voraussetzungen die ständige Rechtsprechung des BFH, z.B. Urteil vom I R 63/07, BStBl II 2009, 121, m.w.N.) und liegt kein sog. „krisenbestimmtes” Darlehen vor (s. dazu BFH-Urteil in BFHE 189, 390, BStBl II 1999, 724), muss nach den Maßstäben der Rechtsprechung zur Bewertung von in der Krise stehengelassenen Finanzierungshilfen (vgl. z.B. das , BFH/NV 1999, 924) auch der Wert des stehengelassenen Darlehens in die Prüfung einbezogen werden; denn die Krise ist nach den Feststellungen der Vorinstanz erst im Jahr 1998 eingetreten.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2009 S. 1393 Nr. 9
DAAAD-24508