Familienleistungen für Wanderarbeitnehmer, der dem System der sozialen Sicherheit des Beschäftigungsmitgliedstaats unterliegt
Leitsatz
1. Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 steht dem nicht entgegen, dass ein Wanderarbeitnehmer, der dem System der sozialen Sicherheit des Beschäftigungsmitgliedstaats unterliegt, nach den nationalen Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Familienleistungen im letztgenannten Staat bezieht.
2. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der Umstand, dass ein Arbeitnehmer in der Lage der Klägerin des Ausgangsverfahrens arbeitstäglich zum Familienwohnsitz in dem betreffenden Mitgliedstaat zurückkehrt, für die Beantwortung der Frage, ob ein solcher Arbeitnehmer die Voraussetzungen für die Gewährung der fraglichen Familienleistung in diesem Staat nach dessen Rechtsvorschriften erfüllt, relevant ist.
Gesetze: Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Art. 13 Abs. 2 Buchst. a; Verordnung (EWG) Nr. 574/72 Art. 10
Instanzenzug: , ,
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und von Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, diese wiederum geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom (ABl. L 117, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71 und Verordnung Nr. 574/72).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Bosmann und der Bundesagentur für Arbeit - Familienkasse Aachen (im Folgenden: Bundesagentur) wegen der Versagung von Kindergeld in Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Verordnung Nr. 1408/71
3 Die Erwägungsgründe 1 und 5 der Verordnung Nr. 1408/71 lauten:
"Die Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit gehören zur Freizügigkeit von Personen und sollen zur Verbesserung von deren Lebensstandard und Arbeitsbedingungen beitragen.
...
Bei dieser Koordinierung ist innerhalb der Gemeinschaft sicherzustellen, dass alle Arbeitnehmer und Selbständige, die Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sind, sowie ihre Angehörigen und Hinterbliebenen nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten gleichbehandelt werden."
4 In den Erwägungsgründen 8 bis 10 dieser Verordnung heißt es:
"Für Arbeitnehmer und Selbständige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, soll jeweils das System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats gelten, so dass eine Kumulierung anzuwendender innerstaatlicher Rechtsvorschriften und die sich daraus möglicherweise ergebenden Komplikationen vermieden werden.
Zahl und Reichweite der Fälle, in denen ein Arbeitnehmer oder Selbständiger als Ausnahme von der allgemeinen Regel gleichzeitig den Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten unterliegt, sind so klein wie möglich zu halten.
Um die Gleichbehandlung aller im Gebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Arbeitnehmer und Selbständigen am besten zu gewährleisten, ist es zweckmäßig, im Allgemeinen die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats anzuwenden, in dessen Gebiet der Betreffende seine Arbeitnehmer- oder Selbständig[entätigkeit] ausübt."
5 Art. 13 ("Allgemeine Regelung") der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:
"(1) Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
(2) Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:
a) Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.
..."
6 Art. 73 ("Arbeitnehmer oder Selbständige, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat wohnen") dieser Verordnung bestimmt:
"Ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten."
Die Verordnung Nr. 574/72
7 Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 mit Vorschriften für das Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen oder -beihilfen für Arbeitnehmer und Selbständige sieht vor:
"(1) a) Der Anspruch auf Familienleistungen oder -beihilfen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats geschuldet werden, nach denen der Erwerb des Anspruchs auf diese Leistungen oder Beihilfen nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit abhängig ist, ruht, wenn während desselben Zeitraums für dasselbe Familienmitglied Leistungen allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder nach Artikel 73, 74, 77 oder 78 der Verordnung [Nr. 1408/71] geschuldet werden, bis zur Höhe dieser geschuldeten Leistungen.
b) Wird jedoch
i) in dem Fall, in dem Leistungen allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder nach Artikel 73 oder 74 der Verordnung [Nr. 1408/71] geschuldet werden, von der Person, die Anspruch auf die Familienleistungen hat, oder von der Person, an die sie zu zahlen sind, in dem unter Buchstabe a) erstgenannten Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt, so ruht der Anspruch auf die allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats oder nach den genannten Artikeln geschuldeten Familienleistungen, und zwar bis zur Höhe der Familienleistungen, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dessen Gebiet das Familienmitglied wohnhaft ist. Leistungen, die der Mitgliedstaat zahlt, in dessen Gebiet das Familienmitglied wohnhaft ist, gehen zu Lasten dieses Staates;
..."
Nationales Recht
8 § 62 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (im Folgenden: EStG) bestimmt:
"Für Kinder ... hat Anspruch auf Kindergeld nach diesem Gesetz, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat."
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9 Frau Bosmann, eine in Deutschland wohnhafte belgische Staatsangehörige, ist alleinerziehende Mutter zweier 1983 und 1985 geborener Kinder, die ebenfalls in Deutschland wohnen und dort studieren.
10 Frau Bosmann hat grundsätzlich Anspruch auf Kindergeld nach § 62 EStG, das ihr von der Bundesagentur zunächst auch gewährt wurde. Nachdem Frau Bosmann am eine Erwerbstätigkeit in den Niederlanden aufgenommen hatte, wurde ihr dieses Kindergeld mit Verfügung vom 18. Oktober 2005 jedoch ab Oktober 2005 versagt. Die Bundesagentur legte die einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts dahin aus, dass Frau Bosmann nur den Vorschriften des Beschäftigungsmitgliedstaats, d. h. des Königreichs der Niederlande, unterliege, so dass die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr als der zuständige Staat anzusehen sei, der diese Beihilfen schulde.
11 Frau Bosmann erhält in den Niederlanden keine entsprechenden Familienbeihilfen, da diese nach niederländischem Recht nicht für Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, gewährt werden.
12 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nicht geklärt sei, ob Frau Bosmann arbeitstäglich oder nur an den Wochenenden und freien Tagen nach Deutschland zurückkehre.
13 Unter diesen Umständen hat Finanzgericht Köln das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 einschränkend dahin auszulegen, dass er dem Kindergeldanspruch einer alleinerziehenden Mutter im Wohnsitzstaat (Bundesrepublik Deutschland) nicht entgegensteht, die im Beschäftigungsstaat (Königreich der Niederlande) aufgrund des Alters der Kinder kein Kindergeld erhält?
2. Für den Fall, dass die Frage 1 verneint wird:
Ist Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 einschränkend dahin auszulegen, dass er dem Kindergeldanspruch einer alleinerziehenden Mutter im Wohnsitzstaat (Bundesrepublik Deutschland) nicht entgegensteht, die im Beschäftigungsstaat (Königreich der Niederlande) aufgrund des Alters der Kinder kein Kindergeld erhält?
3. Für den Fall, dass die Fragen 1 und 2 verneint werden:
Ergibt sich der Anspruch einer Arbeitnehmerin und alleinerziehenden Mutter auf Anwendung der günstigeren Regelungen ihres Wohnsitzstaats hinsichtlich der Gewährung von Kindergeld unmittelbar aus dem EG-Vertrag bzw. allgemeinen Rechtsgrundsätzen?
4. Kommt es für die Beantwortung der vorstehenden Fragen darauf an, ob die Arbeitnehmerin arbeitstäglich zum Familienwohnsitz zurückkehrt?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
14 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auslegen lässt, dass eine Arbeitnehmerin in der Lage von Frau Bosmann, für die die Verordnung Nr. 1408/71 gilt und die dem System der sozialen Sicherheit des Beschäftigungsmitgliedstaats, hier des Königreichs der Niederlande, unterliegt, Familienleistungen im Wohnsitzmitgliedstaat, hier der Bundesrepublik Deutschland, beziehen kann, wenn feststeht, dass ihr diese wegen des Alters ihrer Kinder im zuständigen Staat nicht gewährt werden können.
15 Vor der Beantwortung dieser Frage ist an die allgemeinen Regeln zu erinnern, nach denen gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 zu ermitteln ist, welche Rechtsvorschriften auf Arbeitnehmer, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, anzuwenden sind.
16 Die Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71, die festlegen, welche Rechtsvorschriften auf Arbeitnehmer anzuwenden sind, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, bezwecken, dass die Betroffenen dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats unterliegen, um die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, zu vermeiden. Dieser Grundsatz kommt in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 zum Ausdruck, nach dem ein Arbeitnehmer, für den diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegt (vgl. Urteil vom , Ten Holder, 302/84, Slg. 1986, I-1821, Randnrn. 19 und 20).
17 Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt. Dass diese Bestimmung auf die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats als die auf einen Arbeitnehmer anwendbaren Rechtsvorschriften verweist, hat zur Folge, dass nur die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats auf ihn anwendbar sind (vgl. Urteil Ten Holder, Randnr. 23).
18 Im besonderen Zusammenhang der Familienleistungen sieht Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 vor, dass ein Arbeitnehmer, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates hat, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.
19 Demnach findet, wie das vorlegende Gericht zutreffend festgestellt hat, im Fall von Frau Bosmann grundsätzlich das Recht des Beschäftigungsmitgliedstaats, d. h. niederländisches Recht, Anwendung.
20 Das auf einen Arbeitnehmer, der sich in einer der von den Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 erfassten Situationen befindet, anzuwendende Recht ist anhand dieser Bestimmungen zu ermitteln, doch ist deswegen die Anwendung der Bestimmungen einer anderen Rechtsordnung nicht stets ausgeschlossen (vgl. Urteil vom , Laurin Effing, C-302/02, Slg. 2005, I-553, Randnr. 39).
21 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften ist der Auffassung, dass in einem Fall wie dem von Frau Bosmann die Anwendung des Rechts des Beschäftigungsmitgliedstaats, der nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 als zuständiger Staat bestimmt worden sei, auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 ausgeschlossen werden und stattdessen das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Betroffene wohne, angewandt werden könne. Aufgrund des Bezugs zu zwei Mitgliedstaaten - zum Wohnmitgliedstaat und zum Beschäftigungsmitgliedstaat - sei nämlich eine Kumulierung der Leistungsansprüche möglich. Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 müssten die Familienleistungen wegen des Fehlens eines entsprechenden Anspruchs im Beschäftigungsmitgliedstaat daher ohne Abzüge vom Wohnmitgliedstaat, hier von der Bundesrepublik Deutschland, gewährt werden. Hierfür beruft sich die Kommission auf das Urteil vom , McMenamin (C-119/91, Slg. 1992, I-6393). Das vorlegende Gericht weist in diesem Zusammenhang auf das Urteil vom , Dodl und Oberhollenzer (C-543/03, Slg. 2005, I-5049), hin.
22 Die Rechtssachen, in denen diese beiden Urteile ergangen sind, wurden auf der Grundlage des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 574/72 entschieden, der den Fall regelt, dass auch im Wohnsitzmitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt wird. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 51 und 52 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, löste der Umstand, dass der Ehegatte der nach Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 leistungsberechtigten Person im Wohnmitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausübte, in den Urteilen McMenamin sowie Dodl und Oberhollenzer eine Prioritätenumkehr zugunsten der Zuständigkeit dieses Staates aus.
23 Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass sich Frau Bosmann nicht in einer solchen Lage befindet.
24 Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 soll Fälle des Zusammentreffens von Ansprüchen auf Familienleistungen regeln, die auftreten, wenn diese Leistungen unabhängig von Versicherungs- oder Beschäftigungsvoraussetzungen im Wohnmitgliedstaat des Kindes und zugleich nach Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 im Beschäftigungsmitgliedstaat geschuldet werden.
25 Wie die deutsche Regierung und das vorlegende Gericht ausführen, liegt im Ausgangsverfahren jedoch kein derartiges "Zusammentreffen" vor, weil im Beschäftigungsmitgliedstaat nach dessen Recht wegen des Alters der Kinder der Klägerin des Ausgangsverfahrens kein Anspruch auf Kindergeld besteht.
26 Da sich die Prioritätenumkehr zugunsten der Anwendung der Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats daher nicht auf die speziellen Anknüpfungsregeln der Verordnung Nr. 574/72 stützen lässt, ist festzustellen, dass der Fall von Frau Bosmann unter die allgemeine Regel zur Ermittlung des anzuwendenden Rechts nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 fällt.
27 Daraus folgt, dass das Gemeinschaftsrecht die zuständigen deutschen Behörden nicht verpflichtet, Frau Bosmann Kindergeld zu gewähren.
28 Jedoch ist auch nicht auszuschließen, dass diese Leistung gewährt werden kann, zumal sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, dass Frau Bosmann nach deutschem Recht schon allein aufgrund ihres inländischen Wohnsitzes einen Anspruch auf Kindergeld hat; es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen.
29 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 im Licht des Art. 42 EG auszulegen sind, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erleichtern soll und u. a. impliziert, dass Wanderarbeitnehmer nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom EG-Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben (vgl. Urteil vom , Nemec, C-205/05, Slg. 2006, I-10745, Randnrn. 37 und 38).
30 In diesem Sinne wird im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeführt, dass die in der Verordnung enthaltenen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zur Freizügigkeit von Personen gehören und zur Verbesserung von deren Lebensstandard und Arbeitsbedingungen beitragen sollen.
31 Angesichts dessen ist festzustellen, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens dem Wohnsitzmitgliedstaat nicht die Befugnis abgesprochen werden kann, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren. Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, zwar den Rechtsvorschriften dieses Staates, auch wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt, doch soll der Wohnstaat mit dieser Verordnung nicht daran gehindert werden, dieser Person nach seinem Recht Familienbeihilfen zu gewähren.
32 Weder das Urteil Ten Holder, auf das die deutsche Regierung in ihren Erklärungen Bezug genommen hat, noch das Urteil vom , Luijten (60/85, Slg. 1986, 2365), auf das das vorlegende Gericht verwiesen hat, können diese Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 in Frage stellen. Im Urteil Ten Holder ging es um die Versagung einer Leistung durch die Behörden des zuständigen Mitgliedstaats. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass, wenn die Verordnung Nr. 1408/71 auf die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats als die auf einen Arbeitnehmer anwendbaren Rechtsvorschriften verweist, dies zur Folge hat, dass nur die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats auf ihn anwendbar sind (Urteil Ten Holder, Randnr. 23). Auf diesen Grundsatz hat der Gerichtshof in Anbetracht der Gefahr der gleichzeitigen Anwendung von Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats und des Wohnstaats, nach denen die Versicherten eine Familienleistung beziehen können, auch im Urteil Luijten verwiesen. Betrachtet man diese Urteile in ihrem jeweiligen Kontext, der sich von dem des vorliegenden Ausgangsverfahrens unterscheidet, so können sie nicht als Grundlage dienen, um auszuschließen, dass ein Mitgliedstaat, der nicht der zuständige Mitgliedstaat ist und der den Anspruch auf eine Familienleistung nicht an eine Beschäftigung oder Versicherung bindet, einer in seinem Gebiet ansässigen Person eine solche Leistung gewähren kann, sofern sich diese Möglichkeit tatsächlich aus seinen Rechtsvorschriften ergibt.
33 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 dem nicht entgegensteht, dass ein Wanderarbeitnehmer, der dem System der sozialen Sicherheit des Beschäftigungsmitgliedstaats unterliegt, nach den nationalen Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Familienleistungen im letztgenannten Staat bezieht.
Zur zweiten und zur dritten Frage
34 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich die Beantwortung der zweiten Frage.
Zur vierten Frage
35 Das vorlegende Gericht fragt außerdem, ob es für die Beantwortung der Fragen 1 bis 3 darauf ankommt, ob Frau Bosmann arbeitstäglich zum Familienwohnsitz in Deutschland zurückkehrt.
36 Wie sich aus der Antwort auf die erste Frage im Wesentlichen ergibt, steht Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 dem nicht entgegen, dass ein Wanderarbeitnehmer in der Lage von Frau Bosmann im Wohnmitgliedstaat Familienleistungen bezieht, sofern er die Voraussetzungen für die Gewährung solcher Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Staates erfüllt. Da in Deutschland der Anspruch von Frau Bosmann auf Kindergeld, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, an die Erfüllung der Voraussetzung geknüpft ist, dass sie im Gebiet dieses Mitgliedstaats einen Wohnsitz hat - was bei ihr gegeben zu sein scheint -, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob der Umstand, dass Frau Bosmann arbeitstäglich zum Familienwohnsitz in Deutschland zurückkehrt, nach deutschem Recht für die Bejahung ihres "Wohnsitzes" in Deutschland relevant ist.
37 Demnach ist auf die vierte Frage zu antworten, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob der Umstand, dass ein Arbeitnehmer in der Lage der Klägerin des Ausgangsverfahrens arbeitstäglich zum Familienwohnsitz in dem betreffenden Mitgliedstaat zurückkehrt, für die Beantwortung der Frage, ob ein solcher Arbeitnehmer die Voraussetzungen für die Gewährung der fraglichen Familienleistung in diesem Staat nach dessen Rechtsvorschriften erfüllt, relevant ist.
Kostenentscheidung:
Kosten
38 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
WAAAD-22014