BVerfG Beschluss v. - 1 BvR 1665/07

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 2 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 2 Satz 1

Instanzenzug: BSG, B 1 KR 17/06 R vom

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versorgung der Beschwerdeführerin mit einem für dieses Krankheitsbild nicht zugelassenem Arzneimittel (sog. off-label-use).

I.

Die 1955 geborene, bei der im Ausgangsverfahren beklagten Ersatzkasse versicherte Beschwerdeführerin leidet an Multipler Sklerose, die bei ihr in einer sekundär-chronischen Form mit Schüben besteht. Da es unter der Therapie mit dem für die Behandlung der Multiplen Sklerose zugelassenen Arzneimittel Betaferon zu Nebenwirkungen kam, erhielt die Beschwerdeführerin aufgrund entsprechender Verordnungen ihres behandelnden Nervenarztes intravenös zu verabreichende Immunglobuline in der Form von "Polyglobin 10 %". Dieses Mittel verfügt in Deutschland über eine Arzneimittelzulassung für verschiedene Indikationen, nicht jedoch für die Behandlung von Multipler Sklerose.

Nachdem der behandelnde Arzt wegen seiner vertragsärztlichen Verordnungen von "Polyglobin 10 %" Arzneikostenregressen ausgesetzt war und die Krankenkasse eine Kostenübernahme ablehnte, erhielt die Beschwerdeführerin das Mittel ab August 2001 nur noch auf Privatrezept.

Mit ihrer Klage auf Erstattung der für die Beschaffung des Arzneimittels in der Zeit von August 2001 bis Januar 2002 entstandenen Kosten in Höhe von 4.776,98 € ist die Beschwerdeführerin vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit erfolglos geblieben. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil ausgeführt, mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit seien Arzneimittel nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehle. "Polyglobin 10 %" sei für die Behandlung der Multiplen Sklerose nicht zugelassen. Eine zulassungsüberschreitende Anwendung (sog. off-label-use) komme nur in Betracht, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung gehe, keine andere Therapie verfügbar sei und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Hier fehle es an der für einen off-label-use erforderlichen Erfolgsaussicht. Diese sei gegeben, wenn Forschungsergebnisse vorlägen, die erwarten ließen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden könne. Das sei im Behandlungszeitraum für die Behandlung der Multiplen Sklerose mit Immunglobulinen nicht der Fall gewesen. Aus dem - BVerfGE 115, 25) könne die Beschwerdeführerin keine weitergehenden Ansprüche herleiten. Die verfassungskonforme Auslegung setze voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliege. Das sei bei der Beschwerdeführerin nicht der Fall.

Mit ihrer gegen das Urteil des Bundessozialgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip sowie von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Ihr werde das einzige individuell helfende Arzneimittel, welches der behandelnde Arzt nach gewissenhafter Prüfung verordnet und welches nach seinem Zeugnis in auffallender Weise ihre Bewegungs- und Gehfähigkeit verbessert habe, verweigert. Das stehe mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht im Einklang. Das Bundessozialgericht verkenne bereits, dass sie an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts leide. Die Multiple Sklerose gehöre zu den kausal nicht heilbaren Krankheiten, die zu einer erheblichen Verkürzung der Lebenszeit führe. Es sei nicht zulässig, die individuelle Wirkung der Behandlung zu ignorieren und allein auf den wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis abzustellen. Vielmehr müsse es ausreichen, wenn es eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf gebe. Das sei in Bezug auf das bei ihr zur Anwendung kommende Arzneimittel "Polyglobin 10 %" der Fall. Zudem seien bei der Anwendung von Immunglobulinen bei schubförmig verlaufender Multipler Sklerose im Rahmen wissenschaftlicher Forschungen bereits positive Effekte nachgewiesen worden.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe nach § 93a BVerfGG liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihren Grundrechten.

1. Die mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat im Beschluss vom (vgl. BVerfGE 115, 25 ff.) dargelegt, dass aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip regelmäßig kein verfassungsmäßiger Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung folgt. Es bedarf allerdings einer besonderen Rechtfertigung, wenn dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren fachgerichtliche Auslegung und Anwendung vorenthalten werden. Darüber hinaus sind auch die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu beachten. Ein mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbarer Anspruch auf Bereithaltung bestimmter oder sogar spezieller Gesundheitsleistungen, die der Heilung von Krankheiten dienen oder jedenfalls bezwecken, dass sich Krankheiten nicht weiter verschlimmern, kann aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zwar regelmäßig nicht hergeleitet werden. Jedoch können diese Grundsätze in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten. Übernimmt der Staat mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten, so gehört die Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung unter den genannten Voraussetzungen zum Kernbereich der Leistungspflicht und der von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten Mindestversorgung (vgl. BVerfGE 115, 25 <49>).

2. Die Ablehnung der begehrten medikamentösen Behandlung verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihren Grundrechten Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip.

Das Bundessozialgericht geht in der angegriffenen Entscheidung und in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Fertigarzneimittel mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst sind, wenn ihnen die nach § 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt. Das Bundessozialgericht schließt einen off-label-use aber nicht grundsätzlich aus. Die Verordnung in einem von der Zulassung nicht erfassten Anwendungsgebiet kommt in Betracht, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn keine andere Therapie verfügbar ist und wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Im Fall der Beschwerdeführerin hat es die letztgenannte Voraussetzung verneint, weil nach den vorliegenden Erkenntnissen keine wissenschaftlichen Forschungsergebnisse vorliegen, welche hinreichende Erfolgsaussichten einer Behandlung der sekundär-progressiven Multiplen Sklerose mit Immunglobulinen ergeben.

Diese Rechtsprechung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass es mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar ist, den Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen (vgl. BVerfGE 115, 25 <49>). Anknüpfungspunkt war also auch im Rahmen der Prüfung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage, welche es geboten erscheinen lässt, auch solche ärztlich verantworteten Behandlungen in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung einzubeziehen, bei denen der Nachweis einer dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechenden Qualität und Wirksamkeit der Behandlung (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) noch nicht erbracht ist. Das Bundesverfassungsgericht hat aber gleichzeitig betont, dass aus den Grundrechten regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen folgt, und die gesetzlichen Krankenkassen nicht von Verfassungs wegen gehalten sind, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist. Es hat weiter darauf hingewiesen, dass es dem Gesetzgeber nicht verwehrt ist, zur Sicherung der Qualität der Leistungserbringung, im Interesse der Gleichbehandlung der Versicherten und zum Zweck der Ausrichtung der Leistungen am Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ein Verfahren vorzusehen, in dem neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen sowie ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse sachverständig geprüft werden, um die Anwendung dieser Methoden auf eine fachlich-medizinisch zuverlässige Grundlage zu stellen. Konkret in Bezug auf Arzneimitteltherapien hat das Bundesverfassungsgericht bereits früher auf das in § 12 Abs. 1 SGB V enthaltene Wirtschaftlichkeitsgebot hingewiesen, welches die finanziellen Grenzen markiert, die der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung von der Belastbarkeit der Beitragszahler und der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft gezogen werden. Danach ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Frage nach der Wirtschaftlichkeit einer Leistung im Sinne von § 12 Abs. 1 SGB V mit den Anforderungen des Arzneimittelrechts verknüpft und deshalb verneint wird, weil das Arzneimittel nicht oder noch nicht zugelassen ist (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom , NJW 1997, S. 3085). Denn das Arzneimittelrecht schließt neben der Unbedenklichkeit auch die Prüfung der Qualität und der Wirksamkeit des jeweiligen Arzneimittels mit ein (§ 1 AMG).

Vor Art. 2 Abs. 1 GG ist es deshalb nicht zu beanstanden, wenn das Bundessozialgericht die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für einen zulassungsübergreifenden Einsatz von Arzneimitteln an engere Voraussetzungen etwa in Bezug auf die begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg knüpft. Dabei ist die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den konkreten Fall allein Sache der dafür zuständigen Fachgerichte; das Bundesverfassungsgericht greift erst ein, wenn Grundrechte unbeachtet bleiben, wenn also ein Fehler sichtbar wird, der auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruht (vgl. BVerfGE 95, 96 <128>, stRspr). Hierfür gibt der vorliegende Sachverhalt keinen Anhalt.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Fundstelle(n):
NJW 2008 S. 3556 Nr. 49
TAAAC-95078