BFH Beschluss v. - IV B 8/07

Verstoß gegen das Recht auf Gehör und die richterliche Hinweispflicht als Verfahrensfehler

Gesetze: FGO § 76, FGO § 96, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3

Instanzenzug: FG des Landes Sachsen-Anhalt Urteil vom 1 K 496/03

Gründe

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, betreibt einen Einzelhandel mit Uhren, Metallwaren und Schmuck. Sie wandte sich in einem Klageverfahren vor dem Finanzgericht (FG) dagegen, dass der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) im Anschluss an eine Außenprüfung ihren Gewinn und Umsatz insoweit erhöht hatte, als er Einlagen in Höhe von insgesamt . DM als ungeklärt ansah.

Das FG führte zunächst einen Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage und zur Beweisaufnahme durch. In dem danach anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung, zu dem die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ordnungsgemäß geladen worden war, erschien für die Klägerin niemand. Die Prozessbevollmächtigte hatte der zuständigen Richterin am FG zuvor telefonisch mitgeteilt, sie sei erkrankt und könne deshalb an der Sitzung nicht teilnehmen, beantrage aber gleichwohl keine Vertagung.

Das FA erklärte in der mündlichen Verhandlung, die angefochtenen Bescheide mit der Maßgabe zu ändern, dass die Hinzuschätzung von . DM für alle Steuerarten rückgängig gemacht werde. Das FA beantragte sodann, die Klage abzuweisen.

Das FG erließ daraufhin ein klageabweisendes Urteil. Die Klage sei mangels Beschwer unzulässig geworden, da die Klägerin ihr Klageziel mit Erlass der Änderungsbescheide erreicht habe. Die Revision gegen sein Urteil ließ das FG nicht zu.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde, die sie auf Verfahrensfehler des FG (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der FinanzgerichtsordnungFGO—) stützt.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zuzulassen.

Das FA beantragt,

die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).

1. Das FG hat das Recht der Klägerin auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 des GrundgesetzesGG—, § 96 Abs. 2 FGO) und die ihm durch § 76 Abs. 2 FGO aufgegebenen Pflichten verletzt, indem es die Klage als unzulässig abgewiesen hat. Die Klägerin hat den Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) auch hinreichend dargelegt (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO).

a) Eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (, BVerfGE 84, 188; , BFHE 186, 29, BStBl II 1998, 505, und , BFH/NV 1999, 1609, m.w.N.).

Auch die richterliche Hinweispflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) soll in erster Linie zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen und damit zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens Schutz und Hilfestellung für den Beteiligten geben, ohne dass dadurch jedoch dessen Eigenverantwortlichkeit eingeschränkt oder beseitigt wird (, BFH/NV 2007, 934, m.w.N.).

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist eine Klage mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig abzuweisen, wenn der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist und der Kläger seinen Sachantrag dennoch aufrecht erhält (Beschluss des Großen Senats des , BFHE 127, 147, BStBl II 1979, 375).

Voraussetzung für eine Klageabweisung nach materieller Erledigung der Hauptsache ist allerdings insbesondere die Gewissheit des Gerichts darüber, dass der Kläger seinen Sachantrag aufrecht erhält. Bei Ungewissheit hierüber hat der Vorsitzende gemäß § 76 Abs. 2 FGO darauf hinzuwirken, dass sachdienliche Anträge gestellt oder unklare Anträge erläutert werden. Nach Erledigung der Hauptsache kann selbst das Schweigen des Klägers nicht ohne weiteres als Aufrechterhalten des Sachantrags angesehen werden (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 127, 147, BStBl II 1979, 375, unter B.II.5.a aa der Gründe). Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt vom FG in diesem Zusammenhang, den Kläger über die materielle Erledigung der Hauptsache zu unterrichten und ihm Gelegenheit zu geben, sich hierzu zu äußern, bevor das Gericht ein klageabweisendes Urteil auf diesen Gesichtspunkt stützt (§ 96 Abs. 2 FGO).

b) Nach diesen Maßstäben konnte das FG im Streitfall nicht davon ausgehen, dass der (bereits) in der Klageschrift angekündigte Sachantrag dem Urteil zugrunde zu legen war. Zweifel über den klägerischen Antrag hätten sich dem FG schon deshalb aufdrängen müssen, weil der Klägerin der erst in der mündlichen Verhandlung erklärte Erlass der Änderungsbescheide noch nicht bekannt sein konnte und für die Klägerin deshalb auch gar keine Möglichkeit bestand, ihren Antrag der veränderten Prozesslage anzupassen. Zudem hätte das FG die Klägerin vor Erlass des Urteils zur Gewährung des Rechts auf Gehör über die Änderungsbescheide informieren und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen müssen. Die Klägerin hat in dem vorliegenden Beschwerdeverfahren vorgetragen, sie hätte den Rechtsstreit vor dem FG in der Hauptsache für erledigt erklärt, wenn sie über die Änderungsbescheide unterrichtet worden wäre.

c) Unbeachtlich ist im Streitfall, dass die Prozessbevollmächtigte der Klägerin trotz ordnungsgemäßer Ladung der mündlichen Verhandlung ferngeblieben ist. Es kommt im Streitfall auch nicht darauf an, ob das Nichterscheinen genügend entschuldigt war und welche Umstände oder Erklärungen der zuständigen Richterin die Prozessbevollmächtigte bewogen haben mögen, keine Vertagung zu beantragen.

Zwar kann ein Beteiligter, der zur mündlichen Verhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung (unentschuldigt) nicht erscheint, regelmäßig anschließend weder eine Verletzung des Rechts auf Gehör noch der sich aus § 76 Abs. 2 FGO ergebenden Pflichten rügen (BFH-Beschlüsse vom III B 32/99, BFH/NV 2000, 580, unter 3. der Gründe, und vom IV B 138/04, BFH/NV 2006, 1490, unter 2.c der Gründe). Dies gilt aber nur für bereits in das jeweilige Verfahren eingeführte und den Beteiligten bekannte oder bekannt gegebene Tatsachen oder Rechtsfragen (, BFH/NV 1998, 732; BFH-Beschlüsse vom XI B 47/01, BFH/NV 2004, 51, und vom III B 159/06, BFH/NV 2007, 2284). Im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu befinden, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Es ist im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung nur aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war (, BFHE 154, 17, BStBl II 1988, 948, und BFH-Beschluss in BFH/NV 2004, 51, m.w.N.).

Im Streitfall erklärte das FA den Erlass von Änderungsbescheiden erst in der mündlichen Verhandlung. Vorher konnte sich die Klägerin daher weder zu den Änderungsbescheiden äußern noch bestand für sie Anlass, vorher ihren Sachantrag der erst mit Erlass der Änderungsbescheide eingetretenen materiellen Erledigung der Hauptsache anzupassen. Der Erlass der Änderungsbescheide und die materielle Erledigung der Hauptsache waren neue Gesichtspunkte, zu denen der Klägerin vor Erlass des Urteils kein rechtliches Gehör gewährt worden war. Die Klägerin musste auch nicht damit rechnen, dass das FA in der mündlichen Verhandlung den Erlass von Änderungsbescheiden erklären würde. Damit war das FG auch ohne entsprechenden Antrag zur Vertagung verpflichtet, um der Klägerin rechtliches Gehör zu gewähren und auf einen sachdienlichen Antrag hinzuwirken.

d) Die angefochtene Entscheidung kann auf den Verfahrensfehlern beruhen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das FG zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, wenn sich die Klägerin zu den Änderungsbescheiden hätte äußern können und das FG auf einen sachdienlichen Antrag hingewirkt hätte.

2. Der Senat hält es für sachgerecht, die Vorentscheidung nach § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Fundstelle(n):
AAAAC-81423