BFH Beschluss v. - I B 91/06

Verfahrensfehler durch Verstoß gegen die richterliche Hinweispflicht

Gesetze: FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3; FGO § 76

Instanzenzug:

Gründe

I. Während des Klageverfahrens der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ergingen dem Klagebegehren vollen Umfangs abhelfende Bescheide des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt —FA—). Gegenstand eines Telefonats des Berichterstatters beim Finanzgericht (FG) mit dem damaligen Prozessbevollmächtigten (einem Steuerberater) war die Erstattungsfähigkeit von Gutachterkosten und der Ansatz einer Erledigungsgebühr (Aktenvermerk vom ). Die am beim FG eingegangene Erledigungserklärung des FA wurde dem damaligen Prozessbevollmächtigten X als Anlage zur gerichtlichen Verfügung vom übersandt. In dieser Verfügung wurde X aufgefordert, mitzuteilen, ob er den Rechtsstreit ebenfalls in der Hauptsache für erledigt erklärt oder ob die Klage zurückgenommen werde bzw. ob das Verfahren mit Blick auf die Änderungsbescheide fortgesetzt werden solle; sollte eine Äußerung nicht innerhalb der angeführten Frist () erfolgen, werde eine Entscheidung nach Aktenlage ergehen. Auf der vom Prozessbevollmächtigten als Anlage K 7 zum Beschwerdeschriftsatz eingereichten Kopie findet sich ein (maschinenschriftlicher) Zusatz, dass das Gericht „in geeigneten Fällen ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden” könne.

Im Laufe des Klageverfahrens hatten beide Beteiligten erklärt, mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden zu sein. Auf der Grundlage dieser Erklärungen erging am (ohne mündliche Verhandlung) ein klageabweisendes Urteil (Niedersächsisches FG 6 K 678/04). Wegen Erledigung der Hauptsache fehle es der Klägerin an einem Rechtsschutzbedürfnis für die Fortführung des Klageverfahrens, was zur Unzulässigkeit der Klage führe.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin einen Verfahrensfehler des FG (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der FinanzgerichtsordnungFGO—) geltend.

Die Klägerin beantragt, die Revision gegen das Urteil des zuzulassen.

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie führt gemäß § 116 Abs. 6 FGO zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Das FG ist im Klageverfahren seiner Hinweispflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) nicht in ausreichendem Maße nachgekommen.

1. Die richterliche Hinweispflicht soll in erster Linie zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens, zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen Schutz und Hilfestellung für den Beteiligten geben, ohne dass indessen dessen Eigenverantwortlichkeit dadurch eingeschränkt oder beseitigt wird. Die Rechtsverwirklichung soll grundsätzlich nicht an der Unkenntnis, Unerfahrenheit oder Unbeholfenheit des Rechtssuchenden scheitern. Daher sind individuelle, von Fall zu Fall zu bestimmende Maßstäbe an die Beachtung der Hinweispflicht anzulegen, die entscheidend auch von der Rechtskunde der Beteiligten, im Wesentlichen also davon, ob diese fachkundig vertreten sind, abhängen (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom VII B 171/03, BFH/NV 2004, 357; vom VII B 82/03, BFH/NV 2004, 800; vom VII B 10/05, BFH/NV 2005, 1362).

2. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist bei einseitiger Erledigungserklärung durch den Beklagten der Prozess fortzuführen und durch Urteil zu entscheiden. Die Erledigungserklärung des Beklagten stellt sich in einem solchen Fall lediglich als Anregung an das Gericht dar zu prüfen, ob die Hauptsache erledigt und daher die Klage als unzulässig abzuweisen ist, weil ihr nunmehr das Rechtsschutzbedürfnis fehle und der Kläger dem nicht durch Änderung seines Antrags Rechnung getragen habe. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist, ist die Klage mit der Kostenfolge aus § 135 Abs. 1 FGO als unzulässig abzuweisen (Beschluss des Großen Senats des , BFHE 127, 147, BStBl II 1979, 375; , BFH/NV 1990, 106; vom VII R 35/90, BFH/NV 1993, 46; s. auch Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 138 Rz 21; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 138 FGO Rz 49, m.w.N.).

3. a) Im Streitfall hat das FG, nachdem das FA seine Erledigungserklärung abgegeben hatte, auf die Prozesssituation hingewiesen und zur Abgabe einer Prozesserklärung (Erledigungs- oder Rücknahmeerklärung) innerhalb einer angemessenen Frist aufgefordert. Zugleich wurde auf die Möglichkeit einer Fortführung des Verfahrens und einer Entscheidung „nach Aktenlage” verwiesen. Für den Regelfall musste unter diesen Umständen klar sein, dass im Falle der Nichtabgabe einer Prozesserklärung der Rechtsstreit fortzuführen und, sofern das Gericht die Erledigung tatsächlich auch feststellt, die Klage als unzulässig abzuweisen war. Es bestand auch kein Anlass, die ausdrückliche Erklärung, auf mündliche Verhandlung zu verzichten, zu negieren oder durch Gerichtsbescheid zu entscheiden. Ein Hinweis auf die gesetzliche Möglichkeit, „in geeigneten Fällen” durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, kann beim Adressaten kein schützenswertes Vertrauen dahin auslösen, dass der konkrete Fall tatsächlich durch Gerichtsbescheid entschieden werde.

b) Das FG konnte jedoch im Streitfall nicht davon ausgehen, dass der bis zum Zeitpunkt der Urteilsberatung nicht modifizierte ursprüngliche Sachantrag dem Urteilsspruch zugrunde zu legen war - es fehlte an einer „Gewißheit des Gerichts darüber, dass der Kläger seinen Sachantrag aufrechterhält” (BFH-Beschluss in BFHE 127, 147, 153, BStBl II 1979, 375, 377; s. auch Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 138 FGO Rz 47 a.E.). Die in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der sachlichen Erledigung des Rechtsstreits durch den Erlass der abhelfenden Steuerbescheide geführte telefonische Erörterung mit dem damaligen Prozessbevollmächtigten über den Umfang der erstattungsfähigen Aufwendungen und insbesondere den Ansatz einer Erledigungsgebühr war geeignet, jedenfalls Zweifel über den Inhalt des klägerischen Antrags zu wecken, dem das Gericht im Rahmen des § 76 Abs. 2 FGO hätte nachgehen müssen. Diese in dieser besonderen Sachverhaltskonstellation begründeten Zweifel konnten durch das Schweigen der Klägerin auf das in Fällen der Abgabe einer Erledigungserklärung übliche Standardanschreiben des Gerichts nicht behoben werden.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




Fundstelle(n):
TAAAC-40347