Leitsatz
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der Anfechtungsklage einer Gemeinde gegen einen Widerspruchsbescheid, mit dem sie zur Erteilung einer von ihr versagten Baugenehmigung verpflichtet wird, der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.
Gesetze: VwGO § 73 Abs. 1 Satz 1; BauGB § 14 Abs. 3
Instanzenzug: VG Karlsruhe VG 6 K 529/04 vom VGH Mannheim VGH 3 S 1726/05 vom Fachpresse: ja BVerwGE: ja
Gründe
I
Die Klägerin, die als Große Kreisstadt zugleich untere Bauaufsichtsbehörde ist, wendet sich mit ihrer Anfechtungsklage gegen einen Widerspruchsbescheid des Beklagten, mit dem sie verpflichtet wird, der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung zu erteilen, soweit es um die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens geht.
Am beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung unter anderem für die Erweiterung der Verkaufsfläche ihres bestehenden Lebensmittelmarktes von 700 qm um 147 qm durch Abbruch und Umbau einer Wand. Zu diesem Zeitpunkt galt für das Grundstück der Beigeladenen der Bebauungsplan "Karlsruher Straße" in der Fassung der 2. Änderung vom , der das Gebiet als Industriegebiet ohne Einschränkungen zur Zulässigkeit von Einzelhandelsbetrieben auswies.
Mit Bescheid vom lehnte die Klägerin den Antrag der Beigeladenen auf Genehmigung des Umbaus ab. Auf den Widerspruch der Beigeladenen hin verpflichtete der Beklagte die Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom , die Baugenehmigung "im Hinblick auf die planungsrechtliche Beurteilung" zu erteilen.
Am beschloss die Klägerin, ein Verfahren zur Änderung des Bebauungsplanes "Karlsruher Straße" einzuleiten; den Aufstellungsbeschluss machte sie am öffentlich bekannt. Die ebenfalls am beschlossene und am bekannt gemachte Veränderungssperre wurde im September 2005 verlängert. Am beschloss die Klägerin den 3. Änderungsbebauungsplan, der unter anderem festsetzt, dass Einzelhandel mit zentren- und nahversorgungsrelevanten Sortimenten (gemäß Anlage 1) unzulässig ist, und machte ihn am bekannt.
Mit Urteil vom wies der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts zurück und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage sei der Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheides. Die Grundsätze, die zur Anfechtung einer Baugenehmigung seitens des Nachbarn entwickelt worden seien, seien auf den Fall der Anfechtung durch eine Gemeinde übertragbar. Danach dürften nachträgliche Änderungen zu Lasten des Bauherrn nicht berücksichtigt werden. Es mache keinen Unterschied, ob sich ein Nachbar auf die Verletzung von Nachbarrechten oder eine Gemeinde auf die Verletzung ihrer Planungshoheit berufe. Ebenso wenig mache einen Unterschied, ob die Widerspruchsbehörde selbst die Baugenehmigung erteile oder ob sie die Bauaufsichtsbehörde zur Erteilung verpflichte. Die Gleichstellung der Entscheidungsalternativen beruhe auf dem Wahlrecht der Widerspruchsbehörde. Auf die Festsetzungen des 3. Änderungsbebauungsplanes komme es daher nicht an. Im Rahmen der gemeindlichen Anfechtungsklage sei nicht zu entscheiden, ob die Klägerin heute noch verpflichtet sei, der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung zu erteilen. Nach der Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides sei das Vorhaben mit Blick auf die Festsetzungen des 2. Änderungsbebauungsplanes grundsätzlich zulässig und auch nicht gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO unzulässig. Der Einzelhandelsbetrieb der Beigeladenen sei zwar großflächig. Da die maßgebliche Geschossfläche durch das Vorhaben nicht geändert werde und mit 1 182,65 qm unter dem Grenzwert von 1 200 qm liege, greife die Regelvermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO nicht. Eine atypische Fallgestaltung in betrieblicher oder städtebaulicher Hinsicht liege nicht vor.
II
Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Die berufungsgerichtliche Entscheidung verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Wegen der vom Berufungsgericht bisher nicht geprüften Tatsachenfragen ist die Sache zurückzuverweisen.
1. Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dass das Berufungsgericht die Beschlüsse zur Veränderungssperre als nicht entscheidungserheblich angesehen hat. Auf die von der Klägerin aufgeworfene Frage der Normverwerfungskompetenz einer Behörde kommt es im gerichtlichen Verfahren nicht an.
Nach § 14 Abs. 1 BauGB ist der Beschluss der Gemeinde über die Aufstellung eines Bebauungsplanes materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die als Satzung zu erlassende Veränderungssperre (Beschlüsse vom - BVerwG 4 N 1.92 - Buchholz 406.11 § 16 BauGB Nr. 1 - juris Rn. 14 und vom - BVerwG 4 N 4.87 - BVerwGE 79, 200 <205>). Fehlt ein derartiger Aufstellungsbeschluss, so ist eine gleichwohl beschlossene und gemäß § 16 Abs. 1 BauGB als Satzung bekanntgemachte Veränderungssperre nichtig. Ein Aufstellungsbeschluss liegt im Rechtssinne dann nicht vor, wenn er zwar gefasst, aber entgegen § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB (noch) nicht ortsüblich bekanntgemacht wurde; diese Veröffentlichung ist Voraussetzung seiner Rechtswirksamkeit ( BVerwG 4 B 236.88 - Buchholz 406.11 § 14 BauGB Nr. 13). Die unterbliebene Bekanntmachung des Aufstellungsbeschlusses kann zwar nachgeholt und der Mangel dadurch beseitigt werden ( BVerwG 4 N 1.92 - Buchholz 406.11 § 16 BauGB Nr. 1 - juris Rn. 18). Der Bekanntmachung des Aufstellungsbeschlusses kommt indes keine rückwirkende Kraft zu. Die Gemeinde hat vielmehr die gemäß § 14 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB vorausgesetzte Reihenfolge der Bekanntmachungen einzuhalten, wenn sie die Rechtswirkung der Veränderungssperre bewirken will. Da die öffentliche Bekanntmachung des Aufstellungsbeschlusses zum 3. Änderungsbebauungsplan erst am erfolgte, war die Veränderungssperre vom unwirksam. Der Verlängerungsbeschluss vom vermag seinerseits keine Rechtswirkung für den vor dessen Wirksamkeit ergangenen Widerspruchsbescheid zu entfalten.
2. Nicht mit Bundesrecht vereinbar ist hingegen die Annahme des Berufungsgerichts, maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage sei hier der Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheides, d.h. der Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung. Bei der Anfechtungsklage einer Gemeinde gegen einen Widerspruchsbescheid, mit dem sie zur Erteilung der von ihr versagten Baugenehmigung verpflichtet wird, ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage vielmehr der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.
Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist zwar die Feststellung, dass es der Widerspruchsbehörde freistehe, ob sie die Genehmigungsbehörde lediglich verpflichtet, die Baugenehmigung zu erteilen oder ob sie selbst die Baugenehmigung erteilt. Aus dem bundesrechtlichen Wahlrecht gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO folgt jedoch nicht die vom Berufungsgericht angenommene Gleichstellung der zur Wahl stehenden Entscheidungsformen. Aus der verfahrensrechtlichen Regelung zur Gestaltung des Widerspruchsverfahrens ergibt sich jedoch keine Antwort auf die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Dieser richtet sich vielmehr nach dem materiellen Gehalt des geltend gemachten Anspruchs ( BVerwG 8 C 5.03 - BVerwGE 120, 246 <250>, vom - BVerwG 11 C 35.92 - BVerwGE 92, 33 <35> und vom - BVerwG 4 C 42.81 - Buchholz 406.19 Naturschutz Nr. 65). Der materiell-rechtliche Bezugspunkt zur Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts ist hier das aus der gemeindlichen Planungshoheit folgende Recht der Bauleitplanung. Aus der gemeindlichen Planungshoheit ergibt sich das - bereits im Anfechtungsprozess zu beachtende - Recht der Klägerin, bis zu dem Zeitpunkt, in dem eine Baugenehmigung erteilt wird, die planungsrechtlichen Voraussetzungen zu Lasten des Bauherrn im Wege der Bauleitplanung zu ändern. Erst die erteilte Baugenehmigung setzt der gemeindlichen Planungshoheit eine Grenze.
2.1 Aus der bundesrechtlichen Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO folgt lediglich, dass die Widerspruchsbehörde nicht verpflichtet ist, in der Sache selbst zu entscheiden. § 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO regelt nicht die Form des Widerspruchsbescheides, durch den dem Widerspruch stattgegeben wird. Die Vorschrift fordert nicht, dass der Verwaltungsakt, der an die Stelle des angefochtenen Verwaltungsaktes tritt, in allen Fällen von der Widerspruchsbehörde in seiner endgültigen Form erlassen wird ( BVerwG 8 C 97.70 - BVerwGE 37, 47, 52 f.; BVerwG 4 B 128.70 - Buchholz 310 § 72 VwGO Nr. 3; vgl. auch BVerwG 4 C 16.03 - BVerwGE 121, 339 <344>). Diese Auslegung des § 73 VwGO trägt dem Umstand Rechnung, dass die Verwaltungsgerichtsordnung das Widerspruchsverfahren - aus kompetenzrechtlichen Gründen - nur teilweise und nicht abschließend regelt ( BVerwG 7 C 55.79 - BVerwGE 61, 360 <361>). Das Verwaltungsverfahren und damit die Frage, ob sich die Widerspruchsbehörde darauf beschränkt, die Ausgangsbehörde zur Erteilung der begehrten Baugenehmigung zu verpflichten oder selbst die Baugenehmigung bzw. einen Vorbescheid erteilt, bestimmt sich nach dem nicht revisiblen Verwaltungsverfahrensrecht oder dem Kommunalrecht des Landes. Auch aus den - bundesrechtlich bedeutsamen - Zwecken des der Klageerhebung vorgeschalteten Widerspruchsverfahrens, nämlich verbessertem Rechtsschutz für den Betroffenen, Entlastung der Verwaltungsgerichte und Selbstkontrolle der Verwaltung ( BVerwG 4 C 34.75 - BVerwGE 51, 310 <314>), lässt sich nicht herleiten, dass die Widerspruchsbehörde gemäß § 73 VwGO zum Erlass einer Sachentscheidung verpflichtet wäre.
2.2 Beschränkt sich die Widerspruchsbehörde darauf, die Ausgangsbehörde zur Erteilung der begehrten Genehmigung zu verpflichten, statt diese Sachentscheidung selbst zu treffen, erhält der Bauherr keine gegenüber nachträglichen Rechtsänderungen gesicherte Rechtsposition. Der Bescheidungswiderspruchsbescheid entfaltet zwar Bindungswirkung. Ihm kommt aber kein der Baugenehmigung bzw. dem Vorbescheid vergleichbarer materiell-rechtlicher Regelungsgehalt zu. Er erschöpft sich vielmehr in der Erklärung, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerspruch des Bauherrn die in Streit stehenden Voraussetzungen für die Erteilung der begehrten Baugenehmigung gegeben sind und daher die Ausgangsbehörde zur Erteilung verpflichtet wird. Eine feststellende (hier: die planungsrechtliche Zulässigkeit vorwegnehmende) Regelung enthält der Bescheidungswiderspruchsbescheid nicht. Er stellt keine sachliche Teilentscheidung über die Baugenehmigung dar, sondern bedarf vielmehr noch der "Vollziehung" seitens der Ausgangsbehörde. Erst wenn die Ausgangsbehörde der Verpflichtung aus dem Widerspruchsbescheid nachkommt und die Baugenehmigung erteilt, "existiert" eine Baugenehmigung. Auch aus Art. 14 Abs. 1 GG lässt sich keine materiell-rechtliche Vorwirkung des Bescheidungswiderspruchsbescheides ableiten. Es bedürfte vielmehr einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich ergäbe, dass ein zur Neubescheidung verpflichtender Widerspruchsbescheid materiell-rechtlich als abschließende Entscheidung über die in Streit stehende (hier: bauplanungsrechtliche) Zulässigkeit des Vorhabens anzusehen ist. Ohne eine solche gesetzliche Grundlage vermittelt ein Bescheidungswiderspruchsbescheid dem Bauherrn nur die Aussicht, dass ihm in Zukunft eine Baugenehmigung erteilt werden soll. Dass der Beklagte, wie er vorträgt, mit seiner Entscheidung, statt einer Baugenehmigung oder eines Bauvorbescheides nur einen Bescheidungswiderspruch zu erlassen, nicht die Rechte des Bauherrn verkürzen wollte, ist unerheblich. Der Unterschied zwischen der Verpflichtung zur Erteilung einer Baugenehmigung und der Erteilung einer Baugenehmigung ist im Gesetz angelegt.
2.3 Der Bescheidungswiderspruchsbescheid bindet zwar die Ausgangsbehörde und steht als verfahrensabschließende Entscheidung grundsätzlich nicht zur Disposition der Ausgangsbehörde ( BVerwG 7 C 17.01 - Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 105). Die Verpflichtung der Ausgangsbehörde steht aber unter dem Vorbehalt, dass sich die Rechtslage nicht ändert, mithin dass der Bauherr auch noch zum Zeitpunkt der Erteilung einen Anspruch auf die Baugenehmigung hat. Selbst ein rechtskräftiges Verpflichtungsurteil schützt den Bauherrn nicht davor, seines Anspruchs auf Erteilung einer Baugenehmigung - gegebenenfalls gegen Entschädigung - verlustig zu gehen. Nach der Rechtsprechung des Senats darf die Bauaufsichtsbehörde einer durch Urteil rechtskräftig festgestellten Verpflichtung zur Erteilung einer Baugenehmigung eine von der Gemeinde durch Bauleitplanung herbeigeführte Änderung der Rechtslage - in der Regel im Wege der Vollstreckungsgegenklage - entgegenhalten. Der gegen die Behörde gerichtete Anspruch auf Erlass einer Bebauungsgenehmigung verleiht nicht die gleiche Rechtsposition wie eine bereits erlassene Genehmigung. Erst die erteilte Bebauungsgenehmigung vermittelt dem Bauherrn eine Rechtsposition, die sich auch gegenüber Rechtsänderungen durchsetzen kann ( BVerwG 4 C 53.80 - BVerwGE 70, 227 <230> und vom - BVerwG 4 C 10.01 - BVerwGE 117, 44 <46>). Die Rechtskraft des die Behörde verpflichtenden Urteils gilt nur für die dem Urteil zugrunde liegende Sach- und Rechtslage und findet folglich ihre Grenze in der Änderung des dem Urteil zugrunde liegenden Rechts. Der Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung steht damit, auch wenn er tituliert ist, unter dem Vorbehalt, dass sich die Sach- und Rechtslage nicht in rechtlich relevanter Weise ändert ( BVerwG 4 B 13.07 -). Das gilt erst recht, wenn der Bauherr nur auf einen Bescheidungswiderspruchsbescheid verweisen kann, der ihm eine schwächere Position vermittelt als ein (rechtskräftiges) Verpflichtungsurteil. Verpflichtet die Widerspruchsbehörde die Ausgangsbehörde lediglich zur Erteilung der begehrten Baugenehmigung, fehlt es dem Bauherrn zudem an einem vollstreckbaren Titel. Selbst wenn der Widerspruchsbescheid bestandskräftig würde, wäre er vor einer erneuten Versagung nicht geschützt. Er müsste vielmehr Verpflichtungsklage erheben, bei der dann die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zugrunde zu legen wäre.
2.4 Dass nur die erteilte Baugenehmigung dem Bauherrn eine (relativ) gesicherte Position vermittelt, zeigt auch § 14 Abs. 3 BauGB. Diese Vorschrift bestimmt, dass "Vorhaben, die vor dem Inkrafttreten der Veränderungssperre baurechtlich genehmigt worden sind, ... von der Veränderungssperre nicht berührt" werden. Damit bestätigt der Bundesgesetzgeber, dass er die der Baugenehmigung nach Landesrecht zukommende Bindungswirkung nicht durchbrechen will, wenn eine Veränderungssperre das der Genehmigungserteilung zugrunde gelegte Bebauungsrecht ändert und die künftige Rechtsänderung durch den in Aussicht stehenden Bebauungsplan sichert. Dementsprechend wird das genehmigte Vorhaben auch von dem später erlassenen Bebauungsplan nicht berührt ( BVerwG 4 C 39.82 - BVerwGE 69, 1 <4> und vom - BVerwG 4 C 7.67 - Buchholz 406.11 § 34 BBauGB Nr. 19). Daraus folgt, dass die Gemeinde bis zum Erlass einer Baugenehmigung das Recht zur Planung unter Ausnutzung ihrer planerischen Gestaltungsfreiheit hat.
2.5 Die planerische Gestaltungsfreiheit ist das subjektive geschützte Recht, dessen Verletzung die Klägerin gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO mit ihrer Anfechtungsklage geltend macht und das den materiell-rechtlichen Bezugspunkt für den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bildet. Aus der gemeindlichen Planungshoheit folgt, dass die Gemeinde das Recht hat, ihre Bauleitplanung - unter Beachtung der gesetzlichen Regeln - jederzeit nach ihren eigenen Vorstellungen zu betreiben. Jede Genehmigung eines Vorhabens schränkt dieses Recht ein, da damit zugleich ein Fixpunkt für die künftige Planung geschaffen wird. Die im angefochtenen Widerspruchsbescheid getroffene Feststellung, dass das Vorhaben zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides (hier: bauplanungsrechtlich) zulässig und zu genehmigen ist, steht daher unter dem aus der gemeindlichen Planungshoheit folgenden materiell-rechtlichen Vorbehalt, dass die Pflicht zur Erteilung auch noch zum künftigen Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung besteht. Daraus folgt, dass bereits im Rahmen der gemeindlichen Anfechtungsklage geprüft werden muss, ob die - im Widerspruchsbescheid bejahten - Voraussetzungen für die Erteilung der Baugenehmigung zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung weiterhin gegeben sind. Entscheidend ist, ob die Baugenehmigung zu diesem Zeitpunkt rechtmäßig erteilt werden kann. Denn eine Gemeinde ist immer dann in ihren Rechten verletzt, wenn sie zur Erteilung einer Baugenehmigung verpflichtet wird, die deswegen rechtswidrig ist, weil sie im Widerspruch zur gemeindlichen Bauleitplanung steht. Der Widerspruchsbescheid darf also nicht durch eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage rechtswidrig geworden sein.
Dabei kann sich die Rechtswidrigkeit auch aus einer von der Gemeinde nach Erlass des Widerspruchsbescheides beschlossenen und bekannt gemachten Bauleitplanung bzw. deren Sicherungsmittel ergeben. Denn das Recht - und die Pflicht - der Gemeinde, ihre Bauleitpläne in eigener Verantwortung aufzustellen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 BauGB), wird durch den Erlass eines Bescheidungswiderspruchsbescheides nicht berührt. Die Gemeinde darf ihre Bauleitpläne immer dann aufstellen, wenn es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist (§ 1 Abs. 3 BauGB). Dabei kommt es in erster Linie auf die Sicht der Gemeinde selbst an. Sie darf die städtebauliche Entwicklung in ihrem Gemeindegebiet bestimmen und sich dabei grundsätzlich von "gemeindepolitischen" Motiven, die sich jederzeit ändern können, leiten lassen ( BVerwG 4 CN 16.03 - BVerwGE 120, 138 <143 f.>). Ein - vorher nicht vorhandenes - Planungsbedürfnis kann auch dadurch entstehen, dass die Gemeinde anlässlich eines Bauantrags erkennt, dass das Vorhaben zu bodenrechtlichen Konflikten führt, die eine planerische Bewältigung geboten erscheinen lassen. Die Gemeinde soll gerade auch in den Fällen, in denen ein nach §§ 31, 33 bis 35 BauGB zulässiges Vorhaben ihren planerischen Vorstellungen nicht entspricht, von ihrer Möglichkeit Gebrauch machen können, durch Aufstellung eines Bebauungsplanes die planungsrechtlichen Grundlagen für die Zulässigkeit eines Vorhabens zu ändern und zur Sicherung der Planung die Mittel der Veränderungssperre oder der Zurückstellung von Baugesuchen zu ergreifen (vgl. nur BVerwG 4 C 43.83 - Buchholz 406.11 § 36 BBauG Nr. 35 und vom - BVerwG 4 C 16.03 - BVerwGE 121, 339). Auch für den Fall, dass sich die Zulässigkeit eines Vorhabens - wie hier - nach § 30 Abs. 1 BauGB richtet, wird über § 36 Abs. 1 Satz 3 BauGB gewährleistet, dass die Gemeinde mit dem Instrumentarium der Bauleitplanung vor Erlass der Baugenehmigung die planungsrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen ändern kann. Eine Grenze ist der gemeindlichen Planungshoheit erst dann gezogen, wenn die Baugenehmigung erteilt wird. Aus diesem Grund trägt auch die vom Berufungsgericht gezogene Parallele zur Nachbaranfechtungsklage nicht. Zwar verfügt der Bauherr im Verhältnis zum Nachbarn über eine gesicherte Rechtsposition, wenn der Nachbar bei Erlass der Baugenehmigung verpflichtet war, diese mangels Verletzung nachbarschützender Rechte hinzunehmen ( BVerwG 4 C 76.66 - Buchholz 406.42 § 11 RGaO Nr. 10 und vom - BVerwG 4 C 96.76 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 34). Der Schutz des Bauherrn - im Verhältnis zum Nachbarn - setzt aber voraus, dass eine vom Nachbarn nicht angreifbare Genehmigung erteilt wurde. Nur dann darf eine während des gerichtlichen Verfahrens eingetretene Änderung der Rechtslage, die zur Ablehnung der Baugenehmigung hätte führen müssen und dem Nachbarn einen entsprechenden Rechtsanspruch einräumt, nicht zum Nachteil des Bauherrn berücksichtigt werden.
3. Ob sich der angefochtene Widerspruchsbescheid als rechtmäßig erweist, hängt davon ab, ob die Klägerin zum Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung zum Erlass der Baugenehmigung in planungsrechtlicher Hinsicht verpflichtet ist. Maßgeblich für die planungsrechtliche Beurteilung des Vorhabens ist der am bekannt gemachte 3. Änderungsbebauungsplan. Zur Wirksamkeit dieses Bebauungsplanes enthält das angefochtene Urteil - nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts folgerichtig - keine Feststellungen. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ermöglichen es dem Senat daher weder, im Sinne der Revision in der Sache selbst zu entscheiden (§ 144 Abs. 3 Nr. 1 VwGO), noch lassen sie die Feststellung zu, dass sich die Entscheidung des Berufungsgerichts aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO). Dies nötigt zur Zurückverweisung.
4. Sollte die erneute Verhandlung und Entscheidung der Rechtssache ergeben, dass der 3. Änderungsbebauungsplan, wie die Beigeladene meint, unwirksam ist, bemerkt der Senat mit Blick auf den revisionsgerichtlichen Vortrag der Beteiligten zur Auslegung und Anwendung des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO vorsorglich:
Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass der großflächige Einzelhandelsbetrieb der Beigeladenen nicht gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO unzulässig und daher in dem durch den 2. Änderungsbebauungsplan festgesetzten Industriegebiet zulässig sei, ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats hat das Berufungsgericht die Bedeutung der Vermutungsregel als Zulässigkeitsschranke erkannt. Erst wenn die Vermutungsregel wegen einer atypischen Fallgestaltung nicht greift, ist im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls - ggf. auch im Wege richterlicher Beweisaufnahme - aufzuklären, ob der zur Genehmigung gestellte großflächige Einzelhandelsbetrieb mit Auswirkungen der in § 11 Abs. 3 Satz 2 BauNVO genannten Art verbunden sein wird oder kann ( BVerwG 4 B 14.02 Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 26). Allein aus dem Umstand, dass die Schwelle von 1 200 qm nur geringfügig unterschritten wird, folgt daher nicht, dass eine atypische Fallkonstellation vorliegt. Ebenso wenig kann die bloße Behauptung, bereits die vorhandene Verkaufsfläche führe zu schädlichen Auswirkungen, eine Atypik begründen.
Auch die Feststellung des Berufungsgerichts, dass keine atypische Fallgestaltung in betrieblicher bzw. städtebaulicher Hinsicht gegeben ist, ist bundesrechtlich zu beanstanden. Insbesondere hat das Berufungsgericht erkannt, dass maßgebend die Auswirkungen des Gesamtvorhabens sind ( BVerwG 4 B 72.05 - Buchholz 406.11 § 29 BauGB Nr. 67), dass also das Gesamtvorhaben in seiner durch die Erweiterung geänderten Gestalt, hier mit Blick auf die Gesamtverkaufsfläche von 847 qm, geprüft werden muss.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes für das Revisionsverfahren wird auf 30 000 € festgesetzt.
Fundstelle(n):
QAAAC-69989