Keine Korrektur eines während des Kalenderjahres ergangenen bestandskräftigen Kindergeldbescheides wegen geänderter Rechtsauffassung
Gesetze: EStG § 32 Abs. 4; EStG § 70 Abs. 4
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hat eine im Jahr 1983 geborene Tochter, die sich im Jahr 2004 in Ausbildung befand.
Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) berechnete nach den Angaben des Klägers Einkünfte der Tochter im Jahr 2004 in Höhe von 8 103 € (Bruttoarbeitslohn in Höhe von 9 414 € abzüglich Werbungskosten in Höhe von 1 311 €). Mit Bescheid vom lehnte die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für die Tochter ab, da die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge der Tochter im Jahr 2004 den maßgeblichen Jahresgrenzbetrag von 7 680 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2004 geltenden Fassung —EStG—) überschritten. Der Bescheid wurde nicht angefochten.
Am beantragte der Kläger unter Vorlage des Einkommensteuerbescheids der Tochter für das Jahr 2004, in dem die Werbungskosten mit 1 854 € angesetzt waren, erneut Kindergeld für das Jahr 2004. Zugleich wies er auf den (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) hin, nach dem die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes nicht in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einbezogen werden dürften.
Mit Bescheid vom lehnte die Familienkasse den Antrag ab. Der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 sei lediglich auf nicht bestandskräftige Fälle anzuwenden. Der Bescheid vom sei jedoch bestandskräftig geworden; eine Korrekturvorschrift sei nicht einschlägig. Der Werbungskostenansatz im Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2004 sei zu hoch, weil die Tochter an 20 Arbeitstagen wegen Krankheit gefehlt habe und die Entfernungspauschale für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) daher nicht für 230 Tage angesetzt werden könne. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos.
Unter Aufhebung der Bescheide vom und verpflichtete das Finanzgericht (FG) die Familienkasse, dem Kläger für das Jahr 2004 Kindergeld zu gewähren. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2007, 52 veröffentlicht. Das FG führte im Wesentlichen aus, die Einkünfte und Bezüge der Tochter überschritten nach Abzug der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge nicht den Jahresgrenzbetrag von 7 680 €. Der Ablehnungsbescheid vom könne nach § 70 Abs. 4 EStG korrigiert werden.
Die Familienkasse rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.
Sie beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision führt hinsichtlich des Kindergeldes für die Monate Januar bis Oktober 2004 zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und insoweit zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Im Übrigen ist die Revision unbegründet und zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).
Entgegen der Auffassung des FG kann für den Zeitraum Januar bis Oktober 2004 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum abgelehnt hat, bestandskräftig geworden ist und die Voraussetzungen für eine Änderung dieses Bescheids nach § 70 Abs. 4 EStG nicht vorliegen. Im Ergebnis zutreffend hat das FG allerdings entschieden, dass für die Monate November und Dezember 2004 Kindergeld zu gewähren ist, da der Ablehnungsbescheid nur bis einschließlich Oktober 2004 bindend ist.
1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 680 € im Kalenderjahr (2004) hat.
2. Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom die Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2004 abgelehnt, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2004 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Da der Kläger nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) Einspruch eingelegt hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids (vgl. , BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).
Im Streitfall ist der Bescheid vom (nur) bis Ende Oktober 2004 bindend, da er gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als am bekannt gegeben gilt. Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Der Festsetzung von Kindergeld für die Monate November und Dezember 2004 steht die Bestandskraft des Bescheids vom demnach nicht entgegen.
Die Bestandskraft des Ablehnungsbescheids vom wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG —wie im Streitfall— lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat (Senatsurteil vom III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
3. Entgegen der Auffassung des FG und des Klägers ist eine Korrektur des Bescheids vom nach § 70 Abs. 4 EStG nicht möglich, da der Jahresgrenzbetrag im Streitfall allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat (Senatsurteil vom III R 6/06, BFH/NV 2007, 338).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1642 Nr. 9
VAAAC-50104