Recht auf Akteneinsicht; Rüge fehlerhafter Rechtsanwendung begründet keine grundsätzliche Bedeutung
Gesetze: FGO § 78; FGO § 115 Abs. 2; FGO § 76; FGO § 96
Instanzenzug: VBr
Gründe
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist eine in Spanien ansässige Brennerei, die u.a. Wodka herstellt. Im Jahr…eröffnete sie u.a. 28 Steuerversandverfahren mit denen 27 LKW-Ladungen Wodka und eine LKW-Ladung Whisky in die Ukraine und nach Litauen ausgeführt werden sollten. Die in 1-Liter Flaschen abgefüllten branntweinsteuerpflichtigen Erzeugnisse wurden in Spanien von osteuropäischen oder deutschen Transportunternehmen abgeholt und in der Regel vor Ort bar bezahlt; sie wurden sodann an der französischen Grenze zur Ausfuhr abgefertigt und sollten über Ausgangszollstellen in Cottbus, Frankfurt/Oder oder Neubrandenburg ausgeführt werden. Nach Feststellungen der Zollfahndung sind die streitgegenständlichen Steueraussetzungsverfahren jedoch nicht ordnungsgemäß erledigt worden. Zum einen Teil konnte eine Erledigung überhaupt nicht festgestellt werden, zum anderen Teil ergaben die Ermittlungen, dass zur Erledigung der Rückscheine gefälschte oder bereits eingezogene Stempel verwendet worden waren. Aufgrund dieser Erkenntnisse nahm der Beklagte und Beschwerdegegner (das Hauptzollamt —HZA—) die Klägerin mit Steuerbescheid vom…nach § 143 Abs. 2 und 4 Satz 1 Nr. 1 des Branntweinmonopolgesetzes (BranntwMonG) auf Zahlung von insgesamt xxx DM Branntweinsteuer in Anspruch.
Den Einspruch gegen den Steuerbescheid wies das HZA als unbegründet zurück. Im Verlauf des Einspruchsverfahrens und während des sich anschließenden Verfahrens vor dem Finanzgericht (FG) ergingen gegen mehrere Tatbeteiligte Strafurteile. Mit diesen wurden die Beteiligten wegen gewerbsmäßigen Schmuggels zu Freiheitsstrafen verurteilt. Während des Rechtsbehelfsverfahrens beantragte die Klägerin den Erlass der Branntweinsteuer. Daraufhin fand bei der Klägerin in Spanien eine Liquiditätsprüfung statt, an der auch ein Prüfer des HZA teilnahm. In seinem Bericht führte er aus, dass ein erheblicher Liquiditätsmangel vorliege. Die Firma befinde sich in einer kritischen Situation, so dass eine steuerliche Inanspruchnahme nicht nur eine exzessive Erhöhung der langfristigen Schulden, sondern gleichzeitig einen Verlust von ca. ... Mio. Peseten bewirken würde. Die Gesellschaft würde sich auflösen und das Vermögen veräußern müssen.
Mit Bescheid vom…erließ das HZA die festgesetzte Branntweinsteuer bis auf einen Betrag von 1 Mio. DM. Hierzu führte es u.a. aus, dass der Klägerin zumindest teilweise ein schuldhaftes Verhalten vorzuwerfen sei, denn sie habe ein hohes Risiko in Kauf genommen und dabei keine Vorsorgemaßnahmen getroffen. Ein Erlass über die gesamte Summe könne und dürfe deshalb nicht in Frage kommen, um zumindest eine gewisse Steuergerechtigkeit zu gewährleisten. Da die Klägerin in vorangegangenen Jahren immer einen Gewinn erwirtschaftet habe, könne sie die Summe von 1 Mio. DM bei ggf. zu bewilligenden angemessenen Ratenzahlungen erbringen. Sachliche Billigkeitsgründe seien nicht ersichtlich.
Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte teilweise Erfolg. Unter teilweiser Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtete das FG das HZA, den auf den Erlass der weiteren 1 Mio. DM gerichteten Antrag der Klägerin erneut zu bescheiden. Es urteilte, dass im Streitfall Art. 239 des Zollkodex (ZK) keine Anwendung finden könne, vielmehr richte sich der Erlass nach § 227 der Abgabenordnung (AO). Hinsichtlich der vom Erlass erfassten Lieferungen sei darauf hinzuweisen, dass sich der Erlass nur auf diejenigen Lieferungen erstrecken sollte, zu denen die Klägerin auch Rückscheine erhalten habe. Dies ergebe sich daraus, dass das HZA in der Einspruchsentscheidung ausdrücklich zugunsten der Klägerin habe berücksichtigen wollen, dass bei ihr tatsächlich Rückscheine eingetroffen seien, ohne dass sie einen Anlass gehabt hätte, an der Echtheit der Stempel der Ausgangszollstellen zu zweifeln. Voraussetzung für einen Erlass sei jedoch das Bestehen eines Steueranspruchs. Dies sei bei denjenigen Lieferungen nicht der Fall, in denen die Klägerin keine Rückscheine erhalten habe und in denen der Ort der Zuwiderhandlung auch nicht habe festgestellt werden können. In diesen Fällen könne die Besteuerung nicht auf § 143 Abs. 1 BranntwMonG gestützt werden. Denn es sei nur bekannt, dass die in Spanien eröffneten Steueraussetzungsverfahren nicht erledigt worden seien. Ein im Steuergebiet erfolgter Entzug der Waren aus dem Steueraussetzungsverfahren habe hingegen nicht festgestellt werden können. Auch eine Anwendung von § 143 Abs. 2 BranntwMonG komme im Streitfall nicht in Betracht. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe in seinem Urteil vom VII R 25/01 (BFHE 208, 334) entschieden, dass mit dieser Vorschrift das Gemeinschaftsrecht nicht korrekt umgesetzt worden sei. Denn nach Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren —Systemrichtlinie— (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 76/1) liege in Fällen, in denen die verbrauchsteuerpflichtigen Waren am Bestimmungsort nicht angekommen seien und der Ort der Zuwiderhandlung nicht festgestellt werden könne, die Erhebungskompetenz beim Abgangsmitgliedstaat. Im Streitfall liege die Erhebungskompetenz deshalb insoweit bei Spanien.
Wenn insoweit Branntweinsteuer in der Person der Klägerin überhaupt nicht habe entstehen können, beeinflusse dieser Umstand auch die zur Frage der Erlassbedürftigkeit anzustellenden Erwägungen. Denn das HZA habe gerade bei diesen Lieferungen das Verhalten der Klägerin als besonders vorwerfbar eingestuft. Auch sei die rechtsfehlerhafte Annahme einer Steuerentstehung in Deutschland der Überprüfung der Liquiditätslage zugrunde gelegt worden. Da sich die Ausgangslage für die Erlassentscheidung in wesentlichen Punkten anders als angenommen darstelle, sei über den Erlassantrag neu zu befinden.
Die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträge seien abzulehnen. Eine Vernehmung des vom HZA eingesetzten Prüfers sei entbehrlich, da dieser in seinem Prüfungsvermerk unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe, dass er die Klägerin für erlassbedürftig halte. Für die Vorlage der Korrespondenz zwischen dem HZA und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) einschließlich der internen Stellungnahmen bestehe weder ein Bedürfnis noch eine Rechtsgrundlage. Denn ob vorgesetzte Behörden bei der Entscheidungsfindung beteiligt gewesen seien, sei für die rechtliche Beurteilung der Erlassentscheidung unerheblich. Auch die Vorlage und Auswertung der Bilanzen sowie der Gewinn- und Verlustrechnungen für die Jahre 2001 bis 2005 sei für die Urteilsfindung entbehrlich gewesen.
Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) und wegen eines Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Rechtsfehlerhaft habe das FG nicht berücksichtigt, dass hinsichtlich der Lieferungen, für die es die Erhebungskompetenz Deutschlands angenommen habe, die Abgabenschuld durch Zahlungen anderer Gesamtschuldner erloschen sei. Bei der Frage des Erlöschens eines Steueranspruchs handle es sich um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung. Denn der dem FG unterlaufene Rechtsanwendungsfehler sei von solchem Gewicht, dass, wenn er im Revisionsverfahren nicht beseitigt würde, das Vertrauen in die deutsche Finanzgerichtsbarkeit erheblich beschädigt wäre. Verfahrensfehlerhaft habe das FG den in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag auf Akteneinsicht abgelehnt. Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung des Erlassantrages müsse in erster Linie der Bericht des vom HZA eingesetzten Prüfers sein, der sich für einen vollständigen Erlass ausgesprochen habe. Da das HZA letztlich eine andere Entscheidung getroffen habe, bestehe ein Anspruch der Klägerin auf Einsichtnahme in sämtliche Vorgänge und Stellungnahmen. Das FG sei daher verpflichtet gewesen, sämtliche Behördenakten einschließlich der Akte des BMF beizuziehen. Wäre das FG dem Beweisantrag gefolgt, wäre es zu einem anderen Ergebnis gelangt. Aus den beigezogenen Akten hätte sich nämlich ergeben, dass die Versagung eines vollständigen Erlasses der Abgabenforderung nicht durch die Liquiditätsprüfung und deren Bewertung sachlich gerechtfertigt gewesen sei.
Das HZA ist der Beschwerde entgegengetreten und hält diese für unzulässig. Unklar bleibe, welche Rechtsfrage die Klägerin im Zusammenhang mit dem Erlöschen einer Steuerschuld geklärt wissen wolle. Der geltend gemachte Verfahrensmangel liege nicht vor. Ein Anspruch auf Einsicht in Akten, die dem Gericht nicht vorlägen, bestehe nicht. Auch brauche sich das FG Akten nicht vorlegen zu lassen, die es für seine Entscheidung nicht benötige.
II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Einen Zulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat die Klägerin nicht in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO erforderlichen Weise dargelegt. Der behauptete Verfahrensmangel liegt nicht vor.
1. Mit ihrer Behauptung, das FG habe bei seiner Entscheidungsfindung unberücksichtigt gelassen, dass die übrigen Gesamtschuldner bereits einen Teil der Steuerschuld getilgt hätten und dass insoweit eine Verrechnung mit dem von der Klägerin im Rahmen des Teilerlasses angeforderten Steuerbetrag hätte vorgenommen werden müssen, wirft die Klägerin keine konkrete Rechtsfrage auf, sondern rügt im Kern ihres Vorbringens eine fehlerhafte Rechtsanwendung. Mit der Rüge einer fehlerhaften Rechtsanwendung wird die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage jedoch nicht in der erforderlichen Weise dargelegt (BFH-Entscheidungen vom VI B 220/00, BFH/NV 2004, 1419, und vom IV B 201/02, BFH/NV 2004, 1645).
2. Aber selbst wenn die erst nach Ablauf der Begründungsfrist mit Schriftsatz vom präzisierten Rechtsfragen Berücksichtigung finden könnten, käme eine Zulassung der Revision nicht in Betracht. Denn die aufgeworfenen Rechtsfragen stellten sich in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht.
a) Das FG hat nämlich keine Aussage darüber getroffen, inwieweit eine Verrechnung von Zahlungen anderer Gesamtschuldner mit Steueransprüchen möglich ist, die mangels Erhebungskompetenz in Deutschland nicht entstanden sind.
b) Hinsichtlich der zweiten Frage liegt deshalb keine Klärungsfähigkeit vor, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass das FG —wie die Klägerin in der Frage unterstellt— infolge der Nichtberücksichtigung des Erlöschens der Abgabenschuld einen gravierenden Fehler begangen hat. Denn es trifft nicht zu, dass die Zahlungen anderer Gesamtschuldner gänzlich unberücksichtigt geblieben sind. Vielmehr hat das FG in den Entscheidungsgründen dazu ausgeführt, dass das HZA von Gesamtschuldnern erbrachte Zahlungen nur auf diejenigen Teile der Gesamtschuld hätte anrechnen können, an deren Entstehung sie beteiligt gewesen seien. Nicht nachvollziehbar sei, warum das HZA die beigetriebenen Erlöse ausgerechnet auf den vom Erlass nicht erfassten Teil der Steuerschuld hätte anrechnen sollen. In dieser rechtlichen Würdigung der von anderen Gesamtschuldnern geleisteten Zahlungen vermag der beschließende Senat entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin auch keinen solch schwerwiegenden Rechtsfehler zu erkennen, der die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO erforderlich machen würde. Ein solcher liegt nämlich nur dann vor, wenn das FG-Urteil aufgrund evidenter Rechtsanwendungsfehler als willkürlich oder greifbar gesetzwidrig angesehen werden müsste (BFH-Beschlüsse vom IX B 83/02, BFH/NV 2003, 805, und vom III B 125/02, BFH/NV 2003, 1445). Dies ist nicht der Fall.
3. Der von der Klägerin gerügte Verfahrensmangel der Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt nicht vor. Denn der Gehörsanspruch begründet lediglich das Recht der Beteiligten, in die dem Gericht vorliegenden Gerichtsakten —einschließlich der beigezogenen Akten— Einsicht zu nehmen. Kein Anspruch besteht auf Einsichtnahme in Akten, die dem Gericht von der Finanzbehörde nicht zur Verfügung gestellt worden sind und folglich nicht vorliegen (BFH-Entscheidungen vom VI B 2/02, BFH/NV 2002, 1168, und vom VII B 131/99, BFH/NV 2000, 78).
Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin besteht für das Gericht im Rahmen seiner Sachaufklärungspflicht keine Verpflichtung zur Beiziehung sämtlicher Akten, die im Streitfall geführt worden sind. Akten oder Aktenteile, die das Gericht aus seiner Sicht für die Entscheidungsfindung nicht benötigt, braucht es sich nicht vorlegen zu lassen (Senatsbeschluss vom VII B 347/02, BFH/NV 2004, 511, m.w.N., und Stöcker in Beermann/Gosch, FGO, § 71 Rz 23.1); andererseits ist die Finanzbehörde nicht verpflichtet, von sich aus Unterlagen vorzulegen, aus denen sich ergibt, wie die Finanzbehörden untereinander oder mit anderen Behörden zusammenarbeiten (Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 71 FGO Rz 6).
Im Streitfall hat das FG darauf hingewiesen, dass ein Bedürfnis für die Beiziehung der zwischen dem HZA und dem BMF geführten Korrespondenz deshalb nicht bestehe, weil die Mitwirkung der vorgesetzten Behörde für die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Bescheides unerheblich sei. Damit bestand aus der Sicht des FG keine Notwendigkeit, die ihm nicht vorliegenden Akten beizuziehen, um der Klägerin die beantragte Einsichtnahme zu ermöglichen. Unter diesen Umständen ist eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht ersichtlich.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1324 Nr. 7
ZAAAC-45776